Fenster nach Norden

Garten_See_red

Wisst ihr was, wo wir schon mal dabei sind, lasst uns doch zusammen um die Häuser ziehen, äh, ich meine, ums Haus gehen. Gestern der Westblick, heute die Nordaussicht. Heute Morgen arbeite ich hier zu Hause an meinem Schreibtisch. Ich werde über Massage, Recycling und später über Visionen schreiben. Buntes Programm, Kirmes im Kopf.

Vorher erlaube ich mir aber ein Warm-up hier im Blog. Weil es so schön ist, die Sprache herausfließen zu lassen aus den Bildern des Tages, aus der direkten Verbindung mit dem Leben. Nichts Antizipiertes, Recherchiertes, Erforschtes. Gelebtes, live und in Farbe. Das kleine Leben, das weit unter der Metaebene mit Kleinigkeiten erfüllt.

Gestern Abend war hier Fullhouse. Jim hatte zwei Freunde da, Zoe eine Freundin (sie waren mit Ela in Fuck you Goethe und haben Elias M’Barek angehimmelt. Zu dritt:) ). Später im Ofenzimmer wurde philosophiert. Es fielen Namen. Alte griechische, ältere und neuere deutsche. Ich konnte nicht. Wollte nicht da hoch in den geistigen Olymp und habe interessiert zugehört. Das war schön. Die Neugierde zu erleben, den Wissendurst, der Schrei nach Gehirnauslastung.

Heute Morgen war ich dann mit Herrn Cooper draußen im Tal, der Nebel lag kitschig über den Wiesen und der kleinen Wiehl. Als wir zurückkamen, tauchten kurz vor dem Dorf drei Rehe vor uns auf und liefen über die Straße. Pittoresk. Sie hatten keine Eile, keine Angst. Herr Cooper hat sie wieder einmal nicht gesehen und hat schon überhaupt gar keine Tendenzen des Nachjagens gezeigt. Gut so. Er ist halt Retriever, der Dinge zurückbringt, aber eben nicht hinterherjagt. Stöckchen, als Pendant zu den geschossenen Enten, für die er ja eigentlich gezüchtet wurde. Mit Enten hat er aber auch nix am Hut – da scheint von Labrador bis hierher was verlorengegangen zu sein.

Cooper schlich den Berg hoch. Das ist sein Gang nach Canossa, weil er weiß, dass der Ausflug bald vorbei ist und er sich ein wenig langweilen wird (er schläft dann viel und fest, bis es wieder so weit ist). Zudem hat er momentan den Herbstblues. Schiermonnigkoog war für ihn das Paradies. Den ganzen Tag draußen am Strand lang, Jim hat mit ihm trainiert – auf Poller springen, über Poller springen. Da sind Mensch und Tier in ihrem Element. Nun liegt er hier und schaut manchmal wirklich therapiebedürftig. Herbstzeit ist nicht seine Zeit. Bald geht das wieder und er lächelt sein bezauberndes Schwanzwedel-Lächeln.

Für mich war der Morgen dagegen höchst erfreulich. Ich habe die fünf Teens gefüttert, was kurz nach Sechs eine mental-logistische Meisterleistung war, habe den Ofen befeuert, bin die Runde gegangen und durfte auf dem Weg durchs Treppenhaus nach oben die Sonne im Nachbargarten aufgehen sehen. Vom Nordfenster aus – die Alte Schule ist schön klassisch auf die Himmelsrichtungen abgestimmt. Das Klassenzimmer hat von morgens bis zum Sonnenuntergang Licht. Wirklich durchdacht. Das Treppenhaus als Erschließungsweg liegt im Norden. Muss man halt nur durchlaufen und da braucht man nicht viel Tageslicht, obwohl es mit drei Fenstern nicht schlecht versorgt ist.

Ich kam hoch und sah vom mittleren Fenster aus die Sonne aufgehen. Helles, flaches Licht, das über die Schule und an ihr vorbei dort hin fiel. In den Garten, auf die Wiesen, den nahen Eichenwald. Landleben. Am Fenster stehen, durchatmen. Schön.

So. 9 Uhr. Ab die Post. Blogbeitrag raus, fenster zu, los geht’s. Auf, auf. Euch wünsche ich einen schönen Tag ohne Herbstblues. Haut rein:)

Der Blick heute

Blatt Dachfenster_red

Ich habe hier den Film American Beauty schon erwähnt. Es ist die Szene meines cineastischen Lebens, die mich scheinbar am Nachhaltigsten bewegt hat. Ein Hinterhof, eine Plastiktüte im Spiel des Windes. Der Film hält inne, nimmt sich einer Metapher an und lässt diese Tüte hierhin, dorthin bewegen. Man könnte denken, es wäre ein Geschubse oder ein getrieben Werden oder einfach ein sich in die Situation ergeben.

Als ich den Film sah, als die Szene kam, war ich gebannt.

Ich hab später Fotos geschossen. Tumbling. Dinge, die fallen. Das Fallen hat eine Bedeutung. Es ist verbunden mit dieser Tüte aus dem Film.

du fällst nicht

glaubst es nur

die weiche weiche nacht umhüllt dich

wie ein warmes warmes vlies

und wenn du doch fällst

schreibt der wind des falls

dir die gänsehaut

in jeden winkel deines körpers

Nun habe ich kürzlich über das Früher geschrieben. Diese Reise zurück. Dieses Zimmer. Nun. Viele Jahre später habe ich ein neues Zimmer. Eingerichtet, aufgehübscht. Mein Lebensmittelpunkt. Am Wochenende nun waren zwei Dinge geschehen. Einmal, ich saß auf meinen Bett, da hat die Sonne den Mühlenberg gegenüber erhellt. Peng, Licht an, weg. Kurzer Augenblick. Dann hat die Birke im Bild vorne links zwei Blätter auf mein Dachfenster geworfen.

Die hängen dort, imitieren auf der Glasscheibe ein langes Fallen, heben sich von den Wolken ab und spielen TUMBLING. Metaphern des Lebens. Bewegung. Damals. Heute.

Ein Wollknäuel wickelt sich ab, zieht Fäden, von hier nach dort, verbindet die Zeiten. Es ist ein Flug, always.

Blick aus dem Fenster_red

Der Blick aus dem Zimmer meiner Kindheit

Schiefer Turm/Kaisersesch. 2013
Schiefer Turm/Kaisersesch. 2013

Was ist Kindheit?

Wenn man Vater ist, was ist Kindheit dann? Das, was man sieht, oder das, was vergangen ist? Kürzlich war ich Zuhause. In dem Zuhause, das mein Zuhause war, als ich als Kind in der Eifel lebte. Von 1974 an. Es war ein Umzug, der mir damals weder gefallen noch geschmeckt hatte. Ich war nicht gefragt und dann meiner Sprache beraubt worden, weil meine Sprache dort keinen Wert mehr hatte: Bist du was Besseres? Bin ich gefragt worden, weil ich die Sprache, die in der Schule gesprochen wurde, nicht verstand, nicht mochte, nicht lernte, nicht sprach.

Die Sprache war laut, rau, kehlig. Krankheit hieß die Freck. Wer tot war, war kapott. Eine Küche hieß eine Küsch. Mir tat es weh, auf das e zu verzichten, das s einzufügen, also habe ich es nicht getan und habe mir einen schwarzen Hund besorgt und habe mich aufgemacht in die Wälder. Aus denen bin ich erst wieder heraus gekommen, als ich die Eifel verlassen habe. Mit 17. Ich war im Krieg mit diesem Dorf, das mir nichts wollte. Es war die Sprache, die schmerzte. Ich habe mich arrangiert, habe mich bemüht, habe mich integriert, aber. Es ging nicht. Es gibt Orte, da gehört man nicht hin. Beim besten Willen. Es ist eine Aufgabe, sie nicht zu verdammen, Frieden zu finden.

Weshalb ich das hier schreibe? Tagebuchnotiz. Vervollständigung meiner Aufzeichnungen. Erinnerungen aufgrund eines Fotos, das ich kürzlich geschossen habe. Meine Mutter ist 75 geworden, ich war mit Viveka und Zoe dort, habe meine Brüder getroffen, habe aus dem Küchenfenster gesehen, das früher mein Kinderzimmerfenster war. Wir hatten uns ein Zimmer geteilt, mein jüngerer Bruder und ich. Später, im spannenden Alter habe ich das Zimmer mit einem Schrank geteilt. Ich wollte alleine sein, dafür habe ich in Kauf genommen, auf Tageslicht zu verzichten. Es lief Cat Stevens, ich trank parfümierten Tee von Sir Winston. Die Dose in Rosa, Jasmin, das Teeservice mit Stövchen aus dem Supermarkt für 9,99 DM.

Die Kirche. Ich wollte Messdiener werden, weil ich Geld mit dem Austragen des Pfarrbriefs verdienen wollte. Kein Job für Evangelische, die eh merkwürdig waren. Diaspora, kleine Kirche oben auf dem Berg. Bist du in einer Sekte? Manches Wissen war zu der Zeit noch wie geheim, die Autobahn hatte das Dorf erst kurz zuvor erreicht, und tatsächlich hat es Menschen gegeben, deren weiteste Reise im Leben bis nach Koblenz geführt hatte. Ja, ich war evangelisch. Nein, das ist keine Sekte. Ich habe dann einen anderen Job gefunden. Samstags die Straße kehren bei Dr. Meyer und seinen Schwestern vor dem Haus, das für mich eine Villa war. Das Fegen wurde kontrolliert, manchmal musste ich nachfegen. Gut. Für 40 DM im Monat, kein Problem.

Dr. Meyer war im Ruhestand. Er hätte meinen Vater retten können, aber niemand hat daran gedacht, ihn zu holen. Das war 1976 während der Fußball-Europameisterschaft. Meinem Vater war es nach dem Spiel gegen Jugoslawien nicht gut. Es war der 17. Juni 1976. Deutschland gewann nach Verlängerung, mein Vater ließ seine linke Körperhälfte in der Nacht. Der Schlag. Der Arzt kam erst am nächsten Abend. Keine Zeit. Dann war es zu spät. Krankenwagen, Blaulicht, zwei Jahre später kam er zurück. Wie sein Vater nach dem Krieg, verändert, abgemagert, traurig.

Er hat sich zurückgekämpft, hat Autofahren gelernt, hat getanzt, gefeiert wie kein Zweiter. Er ist ein wilder Mann geblieben und hat bis zu seinem Tod drei weitere Schläge überlebt. Ein zäher Brocken. Wenn ich auf diesen Kirchturm schaue, der gerade restauriert wird, denke ich an ihn. Die Zeiten früher, als ich Kind war, als die Autos orange waren, die Väter Koteletten trugen und Hosen mit Schlag. Verrückt.

Nun sitze ich hier in der Küche. Nebenan drückt sich Jim davor, seine Wäsche vom Boden zu räumen. Ela und Zoe sind in Wuppertal und schauen ein Stück von Pina Bausch. Ende November hält Zoe ihren Vortrag. Sie wird über das Leben der Pina Bausch sprechen und dann wissen, was in ihr getanzt hat. Herr Cooper liegt zu meinen Füßen, leckt sich die Pfoten und morgen Früh werden wir in den Wald gehen. An den Ort, wo meine Heimat ist, wo ich immer und überall Zuhause bin, wo die Seele es warm hat, nichts will, nicht schaut, nicht macht, nur ruht in allen Zeiten.

Golden past

oktoberwiese

Die Dinge gehen.

Man kann nicht alles halten. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Der goldene Oktober. Das letzte Aufbäumen. Noch einmal ein wenig Sonne und dann: Abschied.

In der Schule haben wir gesungen: Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder. Ob das heute noch gesungen wird? Mein Musiklehrer war mein Trompetenlehrer. Eine Blaskapelle in der Eifel. Oh du schöner Westerwald oder Oh Mosella. Mein kleiner Bruder und ich. Weinfeste. Lippen gespitzt, Töne geformt, Knallgas.

Der Herbst, die gehende Zeit ist eine Erscheinung meiner Kindheit. Einer dieser kleinen Tode, wenn die Sommerzeit ging und der Nachmittag plötzlich in Dunkelheit erloschen ist.

Es wird nicht einfach. Jetzt. Allen Mut zusammennehmen, der Dunkelheit ins Gesicht schauen und den Tiger reiten. Im Februar, wenn es schon ein wenig weh tut, sprechen wir uns wieder. Bis dahin: Durchhalteparolen. Och, ist doch auch schön gemütlich. Mit Kerzen und Keksen und so.

Naja, geht so. Ich träum mich weg. Weit weg. In Neuseeland beginnt der Sommer und das Meer lässt sich surfen. Familienvater. Ja. Man kann nicht alles haben.

Warten auf die Krokusse.

oktoberhof