Gespräch mit Noel

Auch in einem kleinen Dorf bekommt man nicht alles mit. Die rasende Zeit ist ein Vorhang, der sich vor die Wahrnehmung legt. Wow, klingt gut. Respekt. Hab ich mir gerade ausgedacht.

Heute kam ich wegen Kopfweh früher von der Arbeit. Vorgestern München bis in den späten Abend, gestern Texten und Steuer, heute eine Präsentation, da hat der Kopf NIET gesagt.

Als ich Zuhause ankam, merkte ich: Schönes Wetter, die Sonne scheint. Also bin ich raus, um mein Fahrrad zu reparieren. Neue Bremsen, Break Shoes, damit ich mich in Italien von den Höhen einigermaßen sicher in die Tiefe stürzen kann (Ich bin Kurt, ohne Helm und ohne Gurt).

Ein letzter, kurzer, nervöser Mailcheck im Office und dann raus. Die Vordertür nach Westen, die drei Stufen. Da sah ich einen Zwerg auf einem kleinen roten Fahrrad am Rande des Schulhofs den Bornerweg (born to be wild) runter rasen. Ohne Helm. Dorf. Wie früher. Du überlebst es und wirst hart oder überlebst es und wirst hart.

Speed. RÄÄspekt. Kleiner Mann, Ole. Ich wusste nicht, wer das ist. Erst dachte ich, der größere der beiden Brüder aus dem Nachbarhaus. Aber ohne Helm? Never. Dann ging alles schnell. Zoe kam runter, umarmte mich auf der Treppe „Hallo Daddy“ und begrüßte die beiden Jungs aus der Nachbarschaft. Die waren um die Hausecke gekommen, zu schnell, um der Radfahrer gewesen sein zu können. Und dann kam er. Rote Hose, rotes Poloshirt, Kragen hochgeschlagen, alles dreckig, blonde Haare auf 5 Millimeter, grüne Augen, fester Blick. Abenteurer, Gefahrensucher, Alpha-Alpha, echter Racker.

Ich habe die Kinder begrüßt und den „Neuen“ gefragt: Wie heißt du? Noel. Ah. Zoe hat mir dann gesagt, der Bruder von. So, klar, sieht man. Oben aus der Straße. Der war doch kürzlich noch ein Baby. Ich habe mein Fahrrad repariert, die Kids haben sich aufgelöst.

Später. Meine Bremsen waren erneuert, funktionierten, quietschten nicht. Ich war oben in meinem Zimmer, als die Türklingel ging. Oje, unten. Ela hatte gerade einen Yogakurs. Also bin ich schnell runter. Paketdienst? Ich hörte etwas von Schwester und sah Elas verstörten Blick. Noel. Er fragte nach Elas Schwester. Zum Spielen. Zoe. Was für ein Kompliment.

Ich habe Noel übernommen, damit Ela weiteryogan konnte. „Wo ist das Mädchen?“ Ah. Zoe. Die hat jetzt bestimmt keinen Bock, mit einem Fünfjährigen zu spielen. Also habe ich frech gelogen. „Nicht da.“ Ja, denkste. Von wegen. Noel sah mich an: „Wo ist sie?“ „Keine Ahnung, bei den Nachbarskindern?“ „Ruf sie an.“ „He?“ „Auf ihrem Handy?“ „Hat sie nicht dabei.“ „Wieso?“ MANN! Also hat sich Noel auf die Treppe gesetzt. Erst mal überlegen, was zu tun ist. „Ich muss nach Hause“ „Ah, gut, dann geh doch.“ „Jetzt noch nicht.“

Die kleine Hand rutschte in die Hosentasche und fingerte ein Kaubonbon raus. Mit den kleinen Fingern zack, zack ausgepackt. Zwei Bisse weg. Dann drückt er mir beiläufig das Papier in die Hand. Wortlos. Selbstverständlich. Erwachsene sind Diener der Kinder. Antworten geben, Papier entsorgen. Lustiger kleiner Kerl. „Ich fahr mal gucken.“ Und weg war er. Aufs Rad und Vollgas. Irgendwann wird Noel ein Auto haben und ein Motorrad. Das wird lustig… Nosbach, schnall dich an, setz den Helm auf, es kommen noellige Zeiten.

waterLOO – die Brooklyn-Bridge und wo ist das Papier?

The Loo

Wer den fiftyfiftyblog seit längerem verfolgt, wird eine fotografische Vorliebe für Toiletten entdeckt haben. Habt ihr? Diese stillen Orte, an denen sich Menschen im privaten und öffentlichen Bereich so intim nah kommen.

Männerklo. Kölner Flughafen. Im Stehen pinkeln. Der feine Herr neben mir, teurer Anzug, exquisite Schuhe. Macht, was Mann machen muss. Pipi. Und raus. Ohne Händewaschen. Ah. Feuchter Händedruck im ersten Meeting. Wo er wohl hingeflogen ist? Hätte ich Anzug und Schuhen nicht zugetraut, die Nummer. Aber so läuft’s im Leben. Ist alles nicht so ganz gradlinig und 1 zu 1 nachvollziehbar, antizipierbar, einschätzbar. Da liegt man schon mal daneben.

Mein schönstes Toilettenfoto habe ich übrigens nicht geschossen. 8. Stock, wenn ich mich recht erinnere. Meine Güte, wie dringend ich musste. New York. Finanzdistrict, denke ich. Nirgends ein Cafe oder eine öffentliche Toilette. Im Gericht habe ich falsch gefragt in der Aufregung – nach einem guest-room, statt restroom. Klar, dass die nicht sehr hilfreich waren und wahrscheinlich auch gedacht haben: Ein wenig Gaga.

Also bin ich zum Rathaus in der Nähe. Mein naiver Gedanke: Öffentliche, frei zugängliche Toiletten im Erdgeschoss. Rein und raus. Wie im Ehrenfelder Rathaus. Ha! Security-Check. Taschen ausleeren, Taschenmesser deponieren, Formular ausfüllen. Ich sage euch, ich musste. Wirklich. Es war knapp. Ich durfte rein, sah mich um und sah nirgends eine Toilette. Die Antwort auf meinen fragenden Blick: 8. Etage! Fahrstuhl. Nun ja, da war es, das Büro. Robert Giuliani, der Hardliner, der Durchgreifer, das personifizierte Law plus Order. Major of New York City. Schräg gegenüber das rettende Symbol. Das Männchen des Friedens und der inneren Freiheit. Aber. Au Mann. Die Tür verschlossen. Geschützt mit einem Zahlenschloss. Nun war ich nicht und bin ich nicht der Actionheld, der den Code mal eben mit nem Streichholz knackt.

Es war pure Konzentration. Einhalten, aushalten, sanft atmen, wenig bewegen, alles zusammenhalten. Dort in den Flur vor dieses Büro zu pippeln war natürlich keine Option. Wahrscheinlich wäre das als Anschlag gewertet worden. Gericht, Schnellverfahren, kurzer Prozess, ab in den Knast. So zumindest meine Vorstellung. Ich konnte nicht weg. Bewegen war unmöglich, verharren auffällig. Es kam ein Mann, der nicht der Hardliner Giuliani war. Er sah mich an, wie ich flehend schauend vor der Tür stand. Er lächelte, öffnete, ließ mir den Vortritt.

Tatsächlich war ich schockiert. Ein reichlich abgewracktes Klo. Nicht sonderlich gut duftend. Ärmlich, schmutzig, verkommen dort oben im 8. Stock. Ich tat, was ich tun musste, ordentlich, sauber, ohne eine Spur zu hinterlassen. Im Stehen, weil das der schnellste Weg ist und der sauberste. Auf so eine Brille hocken? Uah.

Das Becken, also diese weiße Porzellanschale wie oben im Bild, neben der von mir befüllten, fehlte. Ein blauer Müllsack verdeckte das unschöne Anschlussloch in der Wand. Wie kann das passiert sein? Aber, ich muss euch sagen, das war nur ein kleiner Nebengedanke. Denn der Hauptgedanke galt diesem unglaublichen Bild. Ich sah beim Pinkeln auf die Brooklyn-Bridge. Da waren die riesigen Brückenträger zu sehen. Gigantisch. In der Erinnerung ist es da, das Bild, wirklich abgelichtet ist es nicht. Damals habe ich noch nicht fotografiert. PP. Persönliches Pech. Aber ich war erleichtert… Dieser erste Kaffee in einem Starbucks hatte mich in die Klemme gebracht. Das war 1999 im April. Lange her. Diese Toilette hatte mich gerettet. Giuliani hin oder her. Ende Geschichte.

Hier nun noch gesammelte Klos aus der fiftyfiftyblog-Historie. Eine kleine Galerie. Vollkommen unvollständig. Viel Spaß, und immer schön Hände waschen. Jungs.

Frankfurt, 2013
Frankfurt, 2013
London, McDonald 2012
London, McDonald 2012
Wildberg, 2012
Wildberg, 2012
Willingen, 2014
Willingen, 2014
Provence, 2010
Provence, 2010

Nosbach – Munich – Nosbach – Italy:)

Airport_Munich_Juni 15

Große Welt. Big Business.

Mögt ihr Flughäfen? Ich mag sie. Liebe sie. Drehkreuze. Kosmopolitische Sammelplätze.

Es sind die letzten Tage. Arbeit. Wie ihr an meinen Blog-Schreibzyklen merkt, bleibt wenig Raum. Viel zu tun. Freie Jobs. Agentur. Steuer. Ich bin recht eingespannt, ohne, dass es zu viel wäre. Aber eben ausreichend. Ausfüllend.

Heute Morgen ging der Wecker um 4:30 Uhr. Ein Termin bei einem Münchner Kunden. Ein Workshop, um Fragen zu beantworten und Lösungen zu finden. In den nächsten Wochen. Vor und nach meinem Urlaub. Am Abend vorher Hemd bügeln, Schuhe putzen, Sakko rauslegen. Eintauchen in diese Welt. Es ist schön, mitzuspielen. Nicht im Äußerlichen, aber in den Themen, den Diskussionen, den Fragen, Schwierigkeiten. Es ist schön, Antworten zu suchen, zu finden, Probleme zu lösen, die Kuh vom Eis zu holen.

Und es ist schön, etwas zu erleben. Morgens mit dem Kollegen über die Autobahn zu heizen, sich zu verstehen, einen Kaffee hinter dem Sicherheitscheck zu trinken, die Beschleunigung beim Start zu spüren, die Flügel zu sehen, das Verschwinden des Bodens, das plötzliche Aufgehen der Sonne über den Wolken, das weiche Bett da unten.

Wolken_Munich

Mit dem türkischen Taxifahrer in die City, dem es nicht gefällt, dass die Griechen von Europa unterstützt werden. „Dieser christliche Club.“ Und, dass die Türkei nicht in die EU gelassen wird. „Jährlich 11 % Wachstum, aber jetzt will die Türkei auch nicht mehr.“ Er hätte uns gerne am Abend wieder zum Flughafen gefahren. Part 2. Hey!

8 Stunden Workshop. Konzentriert. Mitschreiben, mitdenken. Lösungspfade anlegen, Testfragen stellen, Fakten sortieren, auf wichtige Zwischentöne hören. Anschließend zum Japaner. Sushi. Taxi. Flughafen. Boarding. Über die Wolken. Home sweet home.

Wolken_Munich 2

Im Bus vom Flieger zum Terminal saß ein Niederländer neben mir. „Lufthansa. Würde ich so mit meinen Kunden umgehen, hätte ich keine mehr.“ Ah ja. 21.20 Uhr. Ich war schon im Abendmodus. Runterfahren, entspannen, alle Aufregung gehen lassen. OM! Was habe ich an mir, dass solche Statements anzieht. Morgens der Taxifahrer, abends der Mann im Bus neben mir. Die Welt ist schön! Ich sehne mich nach positiven Botschaften! Ein wenig Freude, Harmonie. Früher hieß das: Friede, Freude, Eierkuchen.

Nun ja, was will man von der Welt erwarten?

22:20 Uhr – arrival. At home. Ah. Das Telefon ringt, Viveka. Rettung naht. Sie hat eine außerordentlich schöne Stimme. Mein Herz hüpft. Ich habe ihr all die Fotos gemailt. Bin ich unterwegs, schieße ich Fotos mit dem Handy. Dann weiß sie, dass ich sicher gelandet bin. Fotos von Flughäfen und vom Flug. Weite Welt, eng zusammen. Es ist schön, wenn da jemand ist, der die Fotos empfängt. Noch schöner ist es, wenn man denjenigen, diejenige liebt. Oh ja. Sehr. Im Sommer werden es drei Jahre sein. Drei Jahre seit dem Sommer 2012. Italien. Eine unglaubliche Zeit. Die Erinnerung so frisch, vieles da.

Irgendwann werden wir zusammenziehen, wenn unsere Kinder uns nicht mehr brauchen, wenn der Job getan ist. Momentan hangeln wir uns von Wochenende zu Wochenende. Und bald. Unglaublich. 3 Wochen gemeinsam in Italien. Mein Herz hüpft. Vorfreude. In meinem Büro stapeln sich Zelte und Schlafsäcke. Zoe, ich, Viveka und ihr Sohn. Patchwork, complete. Sonne, Meer, Ruhe im Kopf. Ihr könnt euch nicht vorstellen…

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Chiaveri_red

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Der gute Herr Cooper wird 10!

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Morgen! Da heißt es dann Happy Birthday mein Lieber und Congratulation und drei Mal HOCH.

Menno, wie die Zeit vergeht. Jim fährt mittlerweile Auto, Zoe ist eine junge Frau und Herr Cooper und ich ergrauen allmählich gemeinsam. Noch ist er schwarz und ich dunkelblond, aber es schieben sich graue Haare ins Bild.

Der alte Weggefährte. Maikäfertal. Berge rauf, Berge runter. Im Oktober 2005 habe ich ihn abgeholt bei einer Pflegestelle von Retriever in Not. Wir wussten nicht, wen wir bekommen. Es war ein Lotteriespiel. Weil die Kinder noch jung waren, sollte es ein Welpe sein. Das hatten uns die Leute vom Verein empfohlen. Also haben wir gewartet. Und dann plötzlich der Anruf.

Ein Hund war aus einer Familie zurückgekommen. Der Herr Cooper, der damals anders hieß. Er war fast vier Monate alt und hatte schon zweimal die Familie gewechselt. Wir haben uns auf ihn gefreut und so bin ich an einem Tag mitten in der Woche morgens aufgebrochen, um ihn zu holen. Irgendwo hinter Bielefeld in einer Pflegestelle der Organisation.

Ich kam rein in diesen Hundehaushalt, der deutlich Hund geprägt war. Eine Frau begrüßte mich und rief den kleinen Kerl, der fröhlich angetapert kam. Kein Welpe mehr, aber noch ein sehr kleiner süßer Fratz. Dicke Pfoten, große Ohren, unschuldsvoller Blick. War der süß.

Alle meinten, ich solle für den Transport einen Hundekäfig mitnehmen. Wollte ich nicht. Einsperren. Uahh. So einen kleinen Kerl. Nun, ich hatte Glück. Herr Cooper war von Anfang an eine Seele. Ruhig, entspannt, sympathisch, freundlich, friedlich. Er hat sich auf die Decke im Fußraum des Beifahrersitzes gelegt, hat mich angesehen und ist eingeschlafen.

Zwischendurch habe ich mit ihm kurz an einem Feldweg gehalten und er hat schön Pipi gemacht und hat sich dann, nachdem ich ihn ins Auto gehoben habe, direkt wieder hingelegt. Bubu. Und so liegt er nun auch hier. Ich sitze am Tisch in der Küche und er liegt völlig entspannt auf seinem Kissen und freut sich auf morgen.

Hunde-Geburtstag mit befreundeten Hunden aus der Hundeschule, die Dorfhunde kommen auch, es gibt Frolic und Kauknochen und lustige Spiele quer durchs Haus. Wer kriegt den Ball? Nunja, das ist natürlich Quatsch mit Sauce. Es wird eine stille Feier. Bin gespannt, wer dran denkt. Gestern habe ich es mal erwähnt. 10 Jahre. Ist ja schon ein Alter. Ich werde ihm einen Kauknochen schenken. Verpackt. Wie an Weihnachten. Da zerfetzt er dann das Papier und kann es kaum glauben. Ein Geschenk!

Singen werde ich für ihn auch. Im Wald morgen Früh. Wie schön, dass du geboren bist… Ja wirklich. Mann, ist der mir ans Herz gewachsen. Eine gute Seele, ein liebevoller Hund, der ganz selten bellt, nie knurrt, allem Stress mit anderen Hunden aus dem Weg geht und so gut wie nie Ärger macht.

Außer, er ist mal wieder ausgebüxt ins Dorf und ich muss ihn suchen und finden und holen und mir Fragen anhören wie „na Jens, suchst du mal wieder deinen Hund?“. „Och. Nö. Geh‘ nur mal so spazieren. Ist so schöne Luft.“ „Ah. Das ist gut. Dann kannst du auch gleich den Herrn Cooper einfangen, der ist hier gerade vorbeigekommen.“ „Echt? So ein Zufall. Dann schau ich mal. Tschüss.“

So ist und bleibt das Leben mit Herrn Cooper spannend und ich genieße dieses besondere Gefühl, wenn er meine Nähe sucht. Da geht dann plötzlich die Tür auf und er legt sich vor mein Bett und bleibt dort liegen. Oder er liegt vor meiner offenen Bürotür und wartet. Der Gute. Wie sehr ich ihn mag. Und morgen nun wird er 10 und ich freue mich – für ihn, für mich, für alle.

Cooper_Hase

Bogotá – von Susanna Schönberg

Bogota

Essen. Zeche Zollverein. C.A.R. Contemporary Art Ruhr. Von Freitag bis Sonntag. Im Cubus. Ein Betonwürfel – 35 m x 35 m x 34 m. Von japanischen Architekten entworfen, heute genutzt von der Folkwang-Schule. Ein irres Gebäude. Schön. Groß. Unvorstellbar.

Viveka und ich waren eingeladen zur Vernissage am Freitag. Vivekas Freundin Susanna Schönberg hatte uns auf die Gästeliste setzen lassen. Ich war zu spät in Essen, hatte die Woche wie ein besessener gearbeitet, am Freitag das Haus geputzt und getextet und telefoniert und war zu spät. 20 Uhr statt 19 Uhr. Eine ewige Hetzerei. Termine, Autobahnen, Textpassagen, Konzeptionen.

So war mein Kopf unvorbereitet. Keine Zelle hatte an die Ausstellung gedacht. Irgendetwas war da, aber was? Kunst? Susanna Schönberg. Ein Beitrag. Asche auf mein Haupt, ich hatte keine Ahnung. Null.

Irgendwann landeten wir auf dem Parkplatz vor dem Museum und waren dort nicht ganz richtig. Wir schlängelten uns durch. Verschlossene Türen wurden uns von mitfühlenden Menschen geöffnet. Es war kafkaesk. Unter uns die ausgehöhlte Erde, über uns das Ziegelbraun der Zeche, die Stahltürme, Kolosse, Industrie-Denkmäler. Meine Vorstellung schickte mich in einen engen dunklen Raum mit schlecht beleuchteten Bildern. Manches lässt sich weder denken noch antizipieren.

Wir fragten eine Horde junger, Bier trinkender Menschen. Die lachten und riefen „Hier, folgt uns, kommt mit. Dort geht es lang.“ Wir folgten, kamen um eine Ecke und ich traute meinen Augen nicht. Ich Vollidiot hatte meine Kamera im Auto gelassen. Ich meine, hey, sonst fotografiere ich jede Gänseblume und jetzt: Leere Hände. Denn vor uns, in kontrastreichen Regen-Abendwolken: DER CUBUS, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt.

Eine Betonfassade. Quadratisch. Fenster. Quadratisch. Oh. Schön, groß, erhabend. Der Luxus eines reichen Landes. Ein Würfelgebäude mit 5.700 qm Kunstfläche auf fünf Etagen. Tägliche Bewirtschaftungskosten 1.000 Euro. Yepp. Nehmt meine Steuern für solche Projekte. Bitte. Verschwendet sie in Ästhetik und Proportion. In Herzschlag und Licht. In diesem Gefühl, einem Haus dankbar zu sein, nur weil es es gibt.

Cubus

Auf der Wiese trafen wir Susanna und Stefan. Susanna filmte eine Performance. Sie hat einen Teil der Ausstellung kuratiert: TRANS_AKTION. Ausgewählte Gesten und Versuche des Übertragens. Sie hat mit jungen Künstlern gearbeitet. Ich würde euch gerne beschreiben, was es damit auf sich hat, aber es würde den Rahmen sprengen. Ein Ornament einer Istanbuler Moschee per Forografie übertragen in die Ausstellung. Transaktion. Ein Leuchtfenster, ein Muster. Gerhard Richters Domfenster (meine Assoziation). Egal. Hier ist jetzt nicht der Raum.

Wir haben den Cubus betreten und uns durchgearbeitet. Susanna war vorgegangen, Stefan, ihr Mann, hatte uns vage begleitet. Kunst anzuschauen ist eine individuelle Angelegenheit und Rhythmen der Betrachter sind unterschiedlich. Wir sahen uns, trafen uns, verloren uns, begegneten uns, überraschten einander.

1. OG. Was für eine profane Bezeichnung. Wir sind die Treppen hoch gegangen. Ein schmuckloses Beton-Treppenhaus mit weißen Stahlhandläufen und Stahl-Feuerschutztüren, wie in den Kellern unserer Einfamilienhäuser. Keine Arabesken. Kein Prunk. Konsequente Einfachheit. Nun denn, eine beeindruckende Einfachheit. Eine grandiose Einfachheit. Eine überwältigende Einfachheit. Mamamia.

Das 1. OG ist ein Raum mit der beschriebenen 35 m x 35 m Grundfläche. Imposant. Aber dann. Freunde. Hey. Von hier geht es hoch. Die Decke schwebt 10, 11, 12 Meter höher. Die Außenwände sind durchzogen von quadratischen Fenstern in unterschiedlichster Größe. Das Draußen ist Drinnen. Keine Trennwände, nur zwei Versorgungsschächte.

Nun ist da dieser Cubus. Und in diesem Cubus war die Kunst und ich wusste nicht, wem ich mehr Beachtung schenken soll. Cubus. Kunst. Kunst. Cubus. Wenn das Drumherum so groß ist, muss die Kunst außerordentlich sein.

Glück. War es. Für mich. Wenn man eingeladen wird zu einer Vernissage, dann steht irgendwann eine Frage nach Wertung im Raum. Das ist wie in einem Roman, in dem eine Pistole auftaucht. Irgendwann, herrje, wird sie abgefeuert. Und auf einer Vernissage sucht die Frage nach Antwort: Und? Die Bewertung, Einschätzung.

Wir wussten nicht, welches Werk von Susanna war. Wir schauten uns durch, ließen uns treiben, beeindrucken, langweilen. Als Ausstellungsbesucher trägt man die Arroganz der Wertung in sich, verteilt lautlos Noten, wendet sich zu, wendet sich ab, verharrt, geht, streift, gafft, lächelt. Wischt mit einem Handstreich die Arbeit von Wochen, Monaten weg.

Wir hatten alles gesehen (man sieht niemals alles). Und dann glaubten wir zu wissen. Bogotá.

Zwei Bildschirme auf Stativen. Die Bildschirme aus Fernsehern ausgebaut. Rudimentär. Auf der Rückseite die sichtbare Elektronik. Zwei Platinen mit Widerständen und Steckern. Verbunden mit kleinen knarzenden Lautsprechern. Umgebaut, gelötet. RAW. Direkt, technisch, wissenschaftlich, auf das Wesentliche beschränkt. Monitore ohne Marketinghülle. Der Rahmen verzinktes Blech, silber. Passend zu den Stativen.

Bildschirme

Die Videopanels wie die Fenster des Cubes. Der Blick nach draußen. In diesem Fall nicht nach Essen, sondern nach Bogotá, Kolumbien. Susanna hatte dort drei Wochen verbracht. Eingeladen von einer Hochschule. Dort hat sie gedreht. Sie ist Medienkünstlerin, Videokünstlerin.

Parque Parada 3

In Bogotá hat sie die Sequenzen eingefangen. An zwei Orten. Parque und Parada. Susanna hat uns ein wenig erzählt. Ein Luxus. Das, was sich niemals erschließt, was nirgends geschrieben steht. So öffnet sich Kunst. Bogotá ist eine Stadt, die sich in ihrer Psychologie verändert hat. Dort leben fast 8 Millionen Menschen und es werden mehr. Damit ändern sich die Rahmenbedingungen. Kriminalität, Drogenkriminalität hinterlässt ihre Spuren im Alltag. Susanna sprach von Paranoia der Menschen.

Parque Parada

PARADA. Der rechte Bildschirm, etwa in zwei Meter Höhe. Man sieht einen Mann gehen und hört rollende Geräusche. Der Mann wird von der Kamera verfolgt. Es ist ein Betonweg, der rechts und links von Glasscheiben gesäumt ist. Neben den Glasscheiben rollt der Verkehr. Es ist ein Busbahnsteig mit Schleusen. Der Bus hält an, Glastüren öffnen sich. Alles sicher, kontrolliert. Im Video ist es irritierend, eine unbekannte Atmosphäre. Fremd. Das ist nicht Köln, nicht Berlin, nicht Paris, nicht London. Es ist Bogotá. Die Menschen schützen sich, haben Angst, schaffen Sicherheitszonen.

Parque Parada 2

Susanna wurde empfohlen, nicht zu filmen. Das sei gefährlich. Sie hatte sich entschieden, es doch zu tun. Mit einer auffälligen Konstruktion. Mit einem fahrbaren Stativ, mit dem sie die GoPro auf Überkopf-Höhe und höher ausfahren konnte. Hat sie gemacht und dann hat sie das Stativ geschoben und die Szenen von oben gefilmt. Weil die Rollen auf dem Untergrund nicht sauber laufen, ruckelt der Film, hat aber Schärfe und Klarheit. Die Kamera folgt dem Mann, rechts rauscht der Verkehr, rauschen Busse vorbei. Ein dynamisches, verstörendes Bild. Man muss hinschauen und hinfühlen, um die Spannung aufzulösen. Ich habe mir die Sequenz wieder und wieder angesehen. Der Mann geht, Menschen gehen, ein Bus kommt, wird von einem zweiten überholt. Alltag.

PARQUE. Ein Niemandsland. Eine geordnete Parklandschaft, sauber, geometrisch angelegt. Der Bürgermeister von Bogotá hat hier ein schwieriges Viertel geglättet. Die Kriminalität musste weiterziehen. Susanna lässt den Film in einer Tiefgarage starten. Es geht um Höhen der Stadt. Hier sind die Höhen tief. Bedrückend. Schwarz-weiß. Aus der Perspektive der Überwachungskameras. Man hört das Rollen der Stativräder auf dem Untergrund. Als sie nach oben will, gibt ihr die Garagen-Security zwei Männer an die Hand. Dort oben, im Park, ist es zu gefährlich. Die Kamera fängt die Beschützer ein. Von oben herab. Da stehen zwei Security-Männer und bewachen eine filmende Frau. Und der Park im Hintergrund liegt friedlich und ruhig. Kein Mensch dort. Ein gepflegtes Niemnandsland.

Die beiden Bildschirme in der Ausstellung bewegen sich auf zwei Höhen, auf den Höhen, die die Kamera in Bogotá jeweils eingenommen hatte. Die Bilder fesseln, ziehen hinein.

Wir haben uns mit Susanna unterhalten. Über die Arbeit, über die Ausstellung, über die Kunst überhaupt. Sie sprach von Konzept. Ich musste innerlich lächeln. Mein Job. Konzepter. Ja, wir brauchen in der Werbung, in der Kommunikation Konzepte. Das ist mein täglich Brot, das ist das, wofür ich bezahlt werde. Und das ist das, was in der Kunst wie in der Werbung den Unterschied macht.

Im Job, ziehe ich Konzepte durch. Stringent. Konsequent. Bei meiner Kunst, bei meinen Gedichten, Fotos und Texten hier im Blog, arbeite ich wie ein Amateur. Ohne Konzept. Was immer das bedeutet, das war eine interessante Message an mich. Mal sehen, was ich damit mache.

Susanna hatte eine dritte Sequenz in Bogotá gedreht, die von der Ästhetik aus dem Rahmen gefallen wäre. Ich hätte diesen dritten Strang gerne gesehen. An diesem Ort, in diesem Kubus, ein weiteres Fenster mit bewegten Bildern aus einer fremden Welt.

Die Ausstellung ist vorbei. Im nächsten Jahr wieder.

Infos: Susanna Schönberg und C.A.R.