Cat wachte mit einem sanften Gefühl auf. Die Nacht war unruhig. Begleitet von merkwürdigen Träumen. Sie war mehrfach aufgestanden, hatte etwas getrunken, war auf die Toilette gegangen, hätte sich gerne ans Klavier gesetzt und gespielt. Es war sehr früh am Morgen. Lange bevor Sie aufstehen musste. Die Sonne war im Begriff, aufzugehen, erste Strahlen durch die Bäume im Osten des Grundstücks in ihr Zimmer zu werfen. Die Vögel sangen seit geraumer Zeit, quietschten, schnatterten, jagten umher. Cat hatte das Gefühl. Diese Stimmung. Verletztlichkeit und die wissende Stimme. Dann konnte sie Dinge erahnen. Sehen. Fühlen, spüren. Nicht wie in einer Glaskugel, im Bild gelegter Karten. In ihr. Sie hätte es niemandem beschreiben können, sie behielt es für sich. Hatte nie jemandem davon erzählt. Diese Stimme war ihr wichtiger als andere Stimmen, Meinungen. Wissen. Darauf verließ sie sich. Ein Gespür. Nicht im Bauch, im Kopf. Im ganzen Körper. Mehr als ein Hauch, sie empfand eine Brise. An solchen Tagen fühlte sie sich verwurzelt, als stünde sie mitten in einem großen Wald auf einer sonnenbeschienenen Lichtung mit den nackten Füßen in einem Moosbett. Das Bild hatte sie manchmal vor Augen. Vor dem Aufstehen hatte sie es gespürt. Eine Wärme. Durch den Kopf, den Körper zu den Füßen hinaus. Eingebunden.
Sie ging ins Bad, wusch sich, sah in den Spiegel. Sie hatte die Haare und die Augen ihrer Oma geerbt, behauptete ihre Mutter. Sie hatte ihre Oma nicht mehr kennengelernt, sie war früh an Krebs gestorben. Ein unbehandelter Brustkrebs. Zu spät erkannt. Zu früh gestorben. Ihre Oma hatte auch diese hellgrünen Augen und das feine, glatte braune Haar. Auf den Fotos, die sie kannte, waren die Haare ihrer Großmutter bereits grau. Cat ihre Haare halblang, bis in den Nacken. Dazu ein Pony, hinter dem sie ihre Augen verstecken konnte, wenn es nötig war. Es war meistens nötig. Wenn andere, ihr fremde Menschen, und das waren fast alle, in ihre Nähe kamen. Die junge Frau, die an diesem Morgen in den Spiegel sah, war schön, auf ihre Weise schön, auch wenn sie selbst es so nicht wahrnahm. Es war ihr an diesem Morgen auch egal, weil sie mit dem Aufkommen des sanften Gefühls, wie sie es nannte, die Sicherheit gewann, diesen Tag, diesen besonderen Tag anzugehen. Bald würde sie Susanne sehen. Und nun wusste sie, dass sie Freundinnen werden würden, dass Susanne sie verstehen würde und umgekehrt. Sie hatte keine Zweifel mehr, ging zurück in ihr Zimmer, hing die am Abend zurecht gelegten Kleider zurück in den Schrank und wählte eine enge Jeans und einen schlichten schwarzen Wollpullover mit V-Ausschnitt. Keine Mode an diesem Tag, keine Allüren, kein Dresscode, kein Aufwand. Schlichtheit und Offenheit. Sie würde sprechen, sie hatte es gefühlt. Und Susanne würde antworten. Und es wäre da, das Band, die Ebene, die sie sich immer gewünscht und bislang nicht gefunden hat.
Lächelnd ging sie runter in die Küche, setzte Kaffee auf, altmodisch mit einem weißen Porzellanfilter und einer alten weißen Kaffeekanne. Ebenfalls aus Porzellan, feinem, dünnen Porzellan mit geschwungenem Ausguss und leicht bauchig gewölbtem Körper. Wie ihre Mutter erhitzte sie Evian im Wasserkocher, weil das heimische Wasser aus dem öffentlichen Netz hart und tot war. „Absolut unbrauchbar für das Kochen eines wirklich guten Kaffees“, wie ihre Mutter meinte. Cat hatte es ausprobiert und musste ihr zustimmen, auch wenn sie es für ein wenig snobistisch hielt. Aber wen störte es, außer vielleicht sie selbst. Ein wenig. Ohne auf ihre Mutter zu warten, ging sie los. Sie hinterließ einen Zettel. An diesem Tag wollte sie Gespräch am Morgen mit dem üblichen Austausch von Floskeln. Sie wollte ihr sanftes Gefühl bewahren, das sie nach außen stark, hart machte, das sie aber nur allzu schnell verlor, wenn die Welt auf sie einprasselte. Cat ging viel zu früh los, nahm den Weg durch die Stadt, verzichtete auf den Bus, auf ihren Platz in der Ecke hinter dem Fahrer. Sie ging am Fluss entlang, traf auf die Menschen, die ihre Hunde ausführten, im Park. Setze sich auf eine Bank, atmete tief, genoss ihre Zufriedenheit, den Moment, in dem ihre innere Waage austariert war. Ein schönes, unglaubliches Gefühl. Intensiv, offen. Als es Zeit wurde, zur Schule zu gehen, ging sie los und setzte ihre Füße schnell voreinander. Ein energischer Schritt, ein zuversichtlicher Rhythmus. Es würde gut gehen, sie hatte es gefühlt, sagte sie sich immer wieder. Alles.