WEINEN UM LUCIE

Köln • März 1995

Personen:

Grasberg
Müller
Wächter

Der Ort der Handlung ist ein Zimmer in einem kleinen Haus, wie es in Schrebergärten steht. Das Häuschen befindet sich am Rande einer Kleingartenkolonie, die wiederum am Rande einer großen Stadt liegt. Zu dem Haus gehört ein Kartoffelacker, der ca. einen Viertel Hektar groß ist, und ein angebauter Schuppen.

Die Gärten sind eine Art eingezäunter Oase. Umgeben sind sie von umgepflügten Äckern. Aus der nahegelegenen Wohnhochhaus-Siedlung führt ein asphaltierter Weg quer durch die Felder zur Kleingartenkolonie. Hohe Strommasten führen Kabel über die Felder hinweg in die Stadt. Eine Autobahn und eine Eisenbahnstrecke liegen nicht weit entfernt. Am Horizont ist eine Fabrik (Raffinerie, Kraftwerk) zu sehen, an deren Schornsteinen (Kühltürmen) bei Nacht rote Warnlampen blinken.

Das Zimmer hat zwei Türen und ein Fenster, durch welches ein Teil des Kartoffelackers zu sehen ist. Eine Tür führt nach draußen und hinter der anderen Tür liegt eine kleine Küche und ein noch kleineres Schlafzimmer. Die Einrichtung besteht nur aus dem Notwendigsten. Die Wände sind tapeziert. In dem Häuschen leben Grasberg (eine Frau) und Müller (ein Mann) seit dem Frühjahr. Nun ist Herbst und auf dem Kartoffelacker blüht noch das Kartoffelgrün.

(MÜLLER sitzt in Gedanken versunken in einem Sessel. Er trägt einen längsgestreiften Schlafanzug. Auf dem Tisch stehen eine Teekanne, eine Teetasse und ein Schüsselchen Pudding. Daneben liegt die Tageszeitung. GRASBERG, die schon gefrühstückt hat, möchte gerne abräumen, damit sie spülen kann. Sie will in den Garten.)

MÜLLER: Die Seele, wenn du mich nach der Seele fragst! Sie ist ein Tier. Mit einem warmen Fell und riesigen Krallen. Du Tier. Sie zerbricht das Gesehene in Schmerz und Schrei und hüllt alles Gewesene dann in einen Mantel aus Wolle. Wie fern das Gewesene. Wie nah die Seele. Und gelogen ist die Wahrheit wenn sie vor den Augen erscheint. Ein kurzer Weg voll von Lüge, von schmerzender warmer Lüge.

GRASBERG: Du sollst deinen Pudding essen und aufhören zu faseln.

MÜLLER: Erst die Zeitung lesen, dann den Pudding essen.

GRASBERG: Nein, umgekehrt. Zuerst den Pudding essen, dann Zeitung lesen.

MÜLLER: Wir haben lange nicht mehr miteinander geschlafen. Habe meine Zunge
lange nicht in deinem Bauchnabel vergraben.

GRASBERG: Du hast deine Zunge nie in meinem Bauchnabel vergraben und wir haben nie miteinander geschlafen. Ich bin eine Freundin, keine Geliebte du alter Trottel. Du guckst mir auf den Arsch wenn ich aus dem Zimmer gehe und dann wichst du. Mehr ist nie gewesen.

MÜLLER: Ich habe dir in einem Traum den Kopf in die Möse gesteckt.

GRASBERG: Es gibt kein Zurück und ich frage dich nicht nach der Seele. Ich bin ge-
kommen, weil du mich brauchst und weil ich einen Menschen brauche. Irgendeinen Menschen. Der Nähe wegen. Der Wärme wegen. Gegen die Langeweile. Und ich brauche diesen Menschen, damit er mich in Ruhe läßt. Du sollst nur da sein und deinen Pudding essen. Laß die Seelen. Laß mich. Iß!

MÜLLER: Ich will aber zuerst Zeitung lesen. Will wissen was geschehen ist. Wir leben so zurückgezogen. Ich wollte niemals an den Rand der Stadt. Du wolltest hierher. Weg vom Dreck. Und nun leben wir hier in dem Müll. Du hast uns in die Einsamkeit gebracht.

GRASBERG: Als wir im Frühjahr herkamen blühten die Gärten.

MÜLLER: Und nun ist Herbst, und die Kälte reicht nicht einmal den Boden gefrieren zu lassen. Nur Matsch. Nasser Matsch.

GRASBERG: Du glaubst in der Stadt sei es anders?

MÜLLER: Dort leben Menschen. Man kann ihnen zuschauen, wie sie über die Straßen gehen. Bist du allein, bist du ein Tier. Krümmst dich, zeigst die Zähne. Das Fell verkommt. – Der Sommer war schön. Die Tage auf der Terasse. Die Nächte nackt bei offenem Fenster. Manchmal standen wir auf, der Hitze wegen. Tranken kühlen Wein. Dann begehrte ich dich und wollte deinen verschwitzten Körper lieben. Da lebte ich und die Gedanken hatten die Farben des Sommers.

GRASBERG: Laß!

MÜLLER: Es sind deine Augen. Bei jedem Menschen sind es die Augen. Bei dir sind es Hölle und Erde. Das Moos einer Seele und der Asphalt des Abgrunds. Hebst du die Hand und sagst nur ein Wort, dann fallen die Helden oder ein Schaf verliert mit Freude den Kopf.

GRASBERG: Was auch passiert und was auch alles passiert sein mag, ich habe weder Himmel noch Hölle in mir. Eine Sehnsucht nach Ruhe und Freundlichkeit. Ich würde dich küssen, wüßte ich den Abgrund zwischen uns zu überwinden. Niemals ist ein Mensch zu einem Menschen gegangen. Niemals.

MÜLLER: Ich weiß von der Möglichkeit eines solchen Gangs.

GRASBERG: Du sprichst von uns?

MÜLLER: Vielleicht. Ich weiß es nicht. Das wechselt von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick. Dann fühle ich die Enge meiner Haut, dann die Weite meiner Gedanken. Der Weg zum Wasser ist stets voller Hoffnung.

GRASBERG: Du solltest dich nicht an mich gewöhnen.

MÜLLER: Du solltest stark sein und dir glauben.

GRASBERG: Ich brauche nicht zu glauben. Ich brauche nicht zu denken. Ich habe
nichts zu vergessen. Es ist wie es ist. Und es kommt wie es kommt.

MÜLLER: Wo ist mein Bademantel?

GRASBERG: Am Haken.

MÜLLER: Danke. (Nimmt den Bademantel vom Haken. Zieht ihn an.)
Letzte Nacht habe ich eine Flipperkugel gehört. Sie rollte über die Spielfläche, bekam neue Stöße von den Spielarmen, schlug gegen das Glas und holte eine Menge Punkte. Ich hörte nur die Kugel. Plötzlich spürte ich, daß mein Körper von Erde umgeben war. Es war warm, fast heiß. Dort lag ich im Innern der Erde und versuchte mich zum Licht zu graben.
Die Bewegung geht immer nach oben. Als ich mich aus der Erde gegraben hatte, kam ich in ein Büro, wo mich zwei Männer auf einen Stuhl fesselten. Ich sagte, ich hätte es nicht getan. Wäre nicht dort gewesen. Wäre niemals dort gewesen. Dann nahmen sie einen Stock und brachen mir das Nasenbein. Einer löste mir die Fesseln und einer montierte breite Lederriemen auf einen Holztisch. Ich spürte eine Kraft in mir und schlug dem,
der die Fesseln gelöst hatte, die Faust ins Gesicht. Dem anderen sah ich in
die Augen, zwischen die ich den Stock schlug, mit dem sie mich geschlagen hatten. Zum Schluß tötete ich beide und stopfte sie in das Erdloch, aus dem ich gekommen war.

GRASBERG: Iß jetzt deinen Pudding. Ich will spülen. Der Tag braucht seinen Rhythmus.

MÜLLER: Kannst du nicht einmal versuchen mich zu verstehen? Dich für mich zu interessieren? Wir schüren unsere Einsamkeit wenn wir aneinander vorbeileben. Sag mir, was solche Träume zu bedeuten haben.

GRASBERG: Ich bin nicht mehr einsam. Ich lebe hier mein Leben neben deinem Leben. Du versuchst alles zu erklären, zu benennen. Versuchst in allem einen Sinn zu finden. Wenn du träumst, dann träumt dein Körper und es träumt dein Innerstes. Und sie träumen, weil du sie verwirrst, weil deine Grübeleien alles in dir verknoten. In der Nacht haben sie dann viel Arbeit die Knoten zu lösen, um sich frei zu fühlen. Du arbeitest gegen dich selbst. Dein Körper und dein Innerstes, sie sind am Morgen zu müde dich durch
den Tag zu tragen. So lassen sie dich fallen und du grübelst weiter in
deinem vermeintlichen Unglück.

MÜLLER: Was fühlst du, wenn du mich siehst?

GRASBERG: Trockenheit. Eine Wüste. Die Vorstadt. Alles, was sich nicht ändern läßt.

MÜLLER: Alles läßt sich ändern. Wenn man will.

GRASBERG: Willen ist nicht, wenn man es will. Willen ist, wenn es kommt. Wenn es sich über dich hermacht, um dir zu sagen die Zeit ist reif. Jeden Tag, den wir hier verbringen, in der lausigen Kälte einer Kleingartenkolonie, ist verschenkt, ist ein trostloses Abwarten. Ein Dahinsiechen, ein Ermorden aller Gefühle. Aber wir sind hilflos, weil wir uns ausgeliefert sind.

MÜLLER: Du brauchst nur ja zu sagen. Ich trage dich mit den Kräften meiner Hände.

GRASBERG: Zum letzten Mal, iß jetzt deinen Pudding, oder ich werfe ihn weg.
Ich brauche diese Ordnung um existieren zu können.

MÜLLER: Ich habe dir angeboten dich mit den Kräften meiner Hände zu tragen.
Ich habe dir angeboten …

GRASBERG: Ich habe es dir gesagt. (Hat den Pudding genommen und ihn samt Teller
in den Mülleimer geworfen)

MÜLLER: (Steht auf, geht zum Fenster)
Als deine Schwester gestorben war, hörte es auf in mir zu leben. Da war nichts mehr. Meine Liebe galt einem kalten Stein und der Erinnerung an diesen hölzernen Sarg, den ich nur von weitem sah. Und schon am Tag darauf wußte ich, was das Schlimmste ist am Tod. Es ist die zurückbleibende Einsamkeit. Ich war allein. In allem was ich tat war ich allein.

GRASBERG: Deshalb riefst du mich. Der alten Spießerin doch noch eine Aufgabe
zu geben.

MÜLLER: Es ging nur um mich.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Du bist gekommen.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Du wolltest es.

GRASBERG: Ja, ich habe dich gebraucht.

MÜLLER: Weshalb hast du mir niemals gesagt, daß du mich liebst.

GRASBERG: Ich hätte es dir gesagt. Ich hätte es dir so gerne gesagt.
Wie habe ich dich geliebt.

MÜLLER: Ich weiß.

GRASBERG: Ich weiß, daß du es weißt.

MÜLLER: Wir hätten Kinder miteinander haben können, wir hätten das Land verlassen können, uns hätte die Welt zu Füßen gelegen.

GRASBERG: Das ist nicht wahr, und du weißt das.

MÜLLER: Wenn wir beide gewollt hätten, was hätte uns aufhalten können.

GRASBERG: Wir hätten uns aufhalten können, so wie wir uns aufgehalten haben.
Wir haben uns in den Dreck gesetzt, haben Mauern um unser Leben
errichtet, haben die Freundlichkeit ausgesperrt und uns vom Draußen
verabschiedet. Es kommt wie es kommt und es ist wie es ist.

MÜLLER: Aber …

GRASBERG: Kein aber. Keine Alternative. Als du mich damals riefst, da hast du im Dreck gesessen. Warst ein Stück Müll in dem Müll, der dich umgeben hat. Hilflos und feige zwischen den schimmelnden Konservendosen. Wie viel Kraft hast du noch gehabt? Wie weit warst du vom letzten Schritt entfernt? Aber du hattest nicht einmal die letzte Kraft, die sie … (bricht ab, sieht ihn starr an)

MÜLLER: Nein. Nein. Ich hatte den Mut mich nicht umzubringen. Trotz allen Drecks und trotz aller Einsamkeit zum Leben ja zu sagen. Weiß Gott, ich hatte den Strick in der Hand. Den Strick, den sie sich um die Kehle gelegt hat. Und weiß Gott, ich habe diesen Strick aufbewahrt. (holt den Strick aus einer Schublade)

GRASBERG: Wirf ihn weg, bitte wirf ihn weg.

MÜLLER: Ich brauche ihn nicht wegzuwerfen, weil er für mich keine Gefahr ist.
Er ist Erinnerung. Er ist der letzte, der ihre Wärme gespürt hat.
(Nimmt die Zeitung und liest. GRASBERG geht hinaus in den Garten.)

BLACK.

(MÜLLER sitzt alleine im Zimmer. Einige Zeit später. Liest Zeitung. Unzufrieden.
Immer noch in Schlafanzug und Bademantel. Es klopft. Es klopft heftig an der Haustür.)

WÄCHTER: (Stimme von draußen)
Machen Sie doch endlich auf. Los, aufmachen. Ich trete die Tür ein.

MÜLLER: (geht zur Tür, öffnet sie)
Machen Sie nicht so einen Lärm. Stören Sie nicht. Sind Sie wahnsinnig?
Ich lese gerade die Zeitung und bin keineswegs auf Besuch irgendeiner Art eingestellt. Gehen sie.

WÄCHTER: Ich bin nicht wahnsinnig. Ich bin auf der Flucht.

MÜLLER: Sie sind auf der Flucht vor wem?

WÄCHTER: Ich bin auf der Flucht und damit basta. Lassen Sie mich herein und stellen Sie keine Fragen.

MÜLLER: Vorsicht junger Mann, in der Nacht im Traum habe ich zwei Männer mit bloßer Hand getötet.

WÄCHTER: Ich bin anspruchslos und störe nicht.

MÜLLER: Sind Sie bewaffnet?

WÄCHTER: Nur eine Pistole. Wahrscheinlich ist keine Munition mehr drin. Jetzt hören Sie auf zu fragen. Es geht Sie nichts an, es würde Sie nur belasten.

MÜLLER: (neugierig) Kommen Sie doch bitte herein.

WÄCHTER: Danke. (tritt herein, schaut sich im Zimmer um und setzt sich)

MÜLLER: Ich kann ihnen nichts anbieten, ich weiß nicht ob wir etwas im Haus
haben. Es wird auch so gehen.

WÄCHTER: Wir?

MÜLLER: Eine Frau und ich.

WÄCHTER: Was für eine Frau?

MÜLLER: Sie sagt sie sei eine Freundin, keine Geliebte. Sie kümmert sich um mich und dafür falle ich ihr auf den Wecker.

WÄCHTER: Sie lieben sie?

MÜLLER: Sie sind sehr direkt. Wie alt sind Sie? Dreißig? Fünfundzwanzig?

WÄCHTER: Wir hatten uns darauf geeinigt, daß Sie keine Fragen stellen.

MÜLLER: Weil die Polizei oder ein imaginärer Verfolger kommen könnte, dem ich dann erzählen würde, daß ein Sechsundzwanzigjähriger mit einer vielleicht geladenen Pistole bei mir geklopft hat?

WÄCHTER: Siebenundzwanzig.

MÜLLER: Entschuldigung.

WÄCHTER: Macht nichts. Ich weiß, daß ich als jünger empfunden werde, als ich in
Wirklichkeit bin.

MÜLLER: Das ist doch nicht schlimm.

WÄCHTER: Ich habe nicht gesagt, daß es schlimm ist.

MÜLLER: Meine Absicht lag nicht darin Ihnen zu nahe zu treten.

WÄCHTER: Reden wir nicht mehr darüber.

MÜLLER: Schade, gerade wurde es interessant.

WÄCHTER: Sie finden es interessant, daß ich für jünger gehalten werde, als ich tatsächlich bin.

MÜLLER: Nein, das Blitzen in ihren Augen, wenn Sie von sich sprechen.

WÄCHTER: Was wollen Sie?

MÜLLER: Jetzt stellen Sie die Fragen. – Nichts. So einfach ist es zu antworten. Basta.

WÄCHTER: Sie glauben, daß Sie der erfahrenere Mensch sind, daß Sie schon mehr Zeit auf dieser Welt verschwendet haben als ich. Wie alt sind Sie? Fünfundvierzig? Oder älter? Und Sie haben in Ihrem Leben fünf Frauen entjungfert und drei Frauen mit ihrer Langeweile verschlissen. Und Sie haben eine ganze Menge Tage und Nächte gearbeitet und ebensoviele Tage und Nächte darüberhinaus verschenkt.

MÜLLER: Ich bin zweiundvierzig.

WÄCHTER: Sie sehen älter aus.

MÜLLER: Sehen Sie. Und mein Schwanz hat niemals eine Jungfernhaut zerbrochen. Die Arbeit, die ich machte, solange ich arbeitete war durchaus sinnvoll.
Ich war Buchdrucker und Buchbinder. Selbständig. Eine kleine Firma ohne Angestellte.

WÄCHTER: Verheiratet?

MÜLLER: Ich hatte eine Frau. Wir waren verheiratet. Sie hatte um meine Hand
angehalten. Sie hat sich mit diesem Strick erhängt. Sie hat nicht mehr gebraucht als eine Türklinke. So groß kann eine Verzweiflung sein, daß
eine Türklinke reicht. Da setzt man sich hin und läßt sich ein kurzes Stück fallen. Sie hätte nur die Arme zu Hilfe nehmen müssen. Der Steiß schwebte wenige Zentimeter über dem Boden. Wieviel Todeswillen muß in einem stecken.

WÄCHTER: (weint)

MÜLLER: Weinen Sie nicht junger Mann. Es ist über ein Jahr her.

WÄCHTER: Nein, es ist wenige Augenblicke her. (schweigt)

MÜLLER: Wenige Augenblicke?

WÄCHTER: Bevor ich an die Tür klopfte bin ich über die Felder gelaufen. Über die Zäune der Gärten geklettert. Ich sah Rauch aus dem Kamin steigen.
Ich bin vor mir geflohen. Vor dem, was ich getan habe. Vor dem Mord
an Lucie.

MÜLLER: Wer ist Lucie?

WÄCHTER: Wer war Lucie. Sie war meine Geliebte.

MÜLLER: Sie haben sie getötet?

WÄCHTER: Wieviele Kugeln sind in der Pistole?

MÜLLER: (Nimmt die Waffe, zieht das leere Magazin heraus. Zieht den Verschluß
der Waffe zurück, es fliegt eine Patrone in die Luft und fällt zu Boden.)
Eine letzte Kugel.

WÄCHTER: Es waren acht Patronen im Magazin. Ich habe sie getötet.
(Nimmt die Waffe, nimmt das Magazin, nimmt die Patrone. Baut alles zusammen, schaut zur Tür, lädt durch, legt die Waffe hin.)

MÜLLER: Das kann man so nicht sagen. Da müßte ein Arzt den Tod feststellen. Müßte sagen, daß diese Frau tot ist. Manchmal verfehlen Schüße ihr Ziel. Treffen nicht. Oder nicht richtig. Also nicht die Stellen, wo sie töten würden. Das Herz zum Beispiel. Oder mitten durchs Gehirn. Oder wenn Sie die Halsschlagader oder die Bauchschlagader getroffen hätten, dann wäre es möglich, daß sie nun verblutet.

WÄCHTER: Seien Sie still. (schreit) Hören Sie auf.

MÜLLER: Vielleicht können Sie sie noch retten.

WÄCHTER: Es war gleich jemand bei ihr.

MÜLLER: Gut. Vielleicht kann ich ihnen doch einen Tee anbieten. Und Plätzchen.
Vanille-Plätzchen.

WÄCHTER: Nur Tee. Heißen Tee. Danke.

MÜLLER: Ich habe lange keinen Tee mehr gekocht. Ich werde Wasser aufstellen.
(Geht in ein Nebenzimmer. Geräusch fließenden Wassers. Das Scheppern des Kessels und der Teedose. Der Teelöffel fällt zu Boden. Ein ungeübter Teekocher.)

WÄCHTER: Ich auch nicht.

MÜLLER: Es war mir zu mühsam.

WÄCHTER: Ich weiß nicht.

MÜLLER: Sie wissen nicht. Das kann ich gut verstehen.

WÄCHTER: Ich weiß nicht. Heiß. (vergräbt das Gesicht in den Händen, krümmt sich)

MÜLLER: (aus dem Nebenraum) Eigentlich bin ich nie in diesem Raum. Sie kocht.
Sie spült. Sie wäscht. Es ist ihr widerlich, wenn ich mich einmische. Wenn
ich koche, spüle, wasche. Der Mann tauge nicht zur Emanzipation. Und
diese widerliche halbausgegorene Vermengung sei ihr verhaßt. In ihr
haben sich auf eine wundersame Weise Haß und eine mir fremde Art von
Liebe zusammengefunden.

WÄCHTER: Wo ist sie?

MÜLLER: Draußen.

WÄCHTER: Ich habe sie nicht gesehen, als ich kam.

MÜLLER: Sie ist hinter dem Haus auf dem Feld. Wir haben einen kleinen Acker.
Einen viertel Hektar Land. In der Hauptsache Kartoffeln. Verschiedene
Sorten. Frühe, späte, kochfeste, mehlige. Sie kümmert sich darum.

WÄCHTER: Lucie wollte auch aufs Land.

MÜLLER: Wir sind hier nicht auf dem Lande. Am Rande der Stadt. Am Rande der Vorstadt. Noch vor der Grenze. (kommt mit einem Tablett zurück. Darauf stehen zwei Tassen. Er hat sich doch für Teebeutel entschieden. Und ein Teller mit Plätzchen.) Wir leben hier im Dreck. Über alles legt sich ein feiner schwarzer Film. (Pause) Sie haben sie getötet?

WÄCHTER: Ja, ich denke ja.

MÜLLER: Weshalb nur haben Sie sie getötet?

WÄCHTER: Der Tee ist gut. Heiß.

MÜLLER: Sie war Ihre Geliebte?

WÄCHTER: Sie war mein Leben. Ich nehme mir einen Keks.

MÜLLER: Ja, nehmen Sie. Nur zu.

WÄCHTER: Danke.

MÜLLER: Lassen Sie diese Höflichkeitsfloskeln. Die sind hier draußen nicht nötig.

WÄCHTER: Entschuldigung.

MÜLLER: Entschuldigen Sie sich nicht.

WÄCHTER: Ja. Werden Sie die Polizei rufen?

MÜLLER: Die Polizei. Nein. Nein. Keine Polizei.

WÄCHTER: Gut. Ich werde einige Tage hierbleiben. Werde mich verstecken.
Zur Ruhe kommen.

MÜLLER: Sie wollen hierbleiben? Zur Ruhe kommen. Das geht nicht, Sie können nicht hierbleiben.

WÄCHTER: Ja, zur Ruhe kommen.

MÜLLER: Wie können Sie glauben, daß Sie zur Ruhe kommen. Sie haben eine Frau getötet. Vielleicht die Frau, die Sie lieben. Die Sie geliebt haben.
Wahnsinn. Sie könnte noch leben. Könnte hier sein, könnte Ihren Hals
streicheln. Und Sie haben sie erschossen. Grundlos niedergestreckt.
Es gibt keinen dümmeren Selbstmord.

WÄCHTER: Ich mußte es tun.

MÜLLER: Nein. Nein.

WÄCHTER: Ich kann es nicht erklären.

MÜLLER: Und nun wollen Sie hierbleiben. Für einige Tage. Das halte ich nicht aus.
Den Tod im Haus. Gehen Sie.

WÄCHTER: Nach mir wird gefahndet. Man wird mich einsperren.

MÜLLER: Man wird uns einsperren, weil wir einem Mörder Unterschlupf gewähren.

WÄCHTER: Ich bin kein Mörder. (schreit – Grasberg kommt ins Haus.
In der Hand hat sie einen Korb mit frischen Kräutern. Stellt ihn ab.)

GRASBERG: (schaut auf Müller, dann auf Wächter)
Du hast Tee gemacht? Wer sind Sie?

MÜLLER: Frag ihn nicht. Schick ihn weg. Sag ihm, daß er gehen soll. Sofort.

GRASBERG: Wer immer Sie sein mögen, verlassen Sie unser Haus.

WÄCHTER: Ich habe Lucie erschossen.

MÜLLER: Schweigen Sie.

WÄCHTER: Ich habe ihre Schönheit nicht ertragen. Ihre Nähe. Ihre Existenz. Ihre Träume. Ja, ihre Träume. Von einem besseren Leben. Einem glücklicheren Leben.

GRASBERG: Sie haben Lucie erschossen?

MÜLLER: Mit sieben Schüssen niedergestreckt.

WÄCHTER: Ihr Optimismus war ein Traumbild. Eine traurige Lüge. Sie wäre niemals glücklich geworden. Nicht wirklich. Dazu fehlten die Möglichkeiten.
Das Geld, der Mut. Die Lust. (Pause.)

GRASBERG: Das ist kein Grund.

WÄCHTER: Es gab keinen Ausweg.

GRASBERG: Es gibt immer einen Ausweg.

MÜLLER: Er soll gehen. Er soll den Tod nehmen und gehen.

GRASBERG: Sag du nicht, daß er gehen soll. Nicht du. (Pause)

MÜLLER: Er hat hier nichts verloren. Er gehört nicht hierher. Ich ertrage ihn nicht.

GRASBERG: Doch, du erträgst ihn. Wir haben genügend Platz. Deine Einsamkeit ist ein großes Bett. Wir werden neue Laken brauchen.

MÜLLER: Und wenn man ihn hier findet?

GRASBERG: Hat man dich gefunden?

BLACK.

(Am Morgen des nächsten Tages. Grasberg und Wächter sind im Zimmer. WÄCHTER sitzt unter einer Decke im Sessel, in welchem er die Nacht verbracht hat. MÜLLER schläft noch. Auf dem Tisch liegt eine aktuelle Tageszeitung. Grasberg hat Tee gemacht.)

GRASBERG: Das Schlimmste ist überstanden. Wir müssen jetzt einige Tage abwarten, dann ist die akute Gefahr vorüber. Die Polizei hat am Morgen die Befra-
gungen in der Siedlung eingestellt.

WÄCHTER: Das Schlimmste wird noch kommen. Dann werde ich eines Tages auf-
wachen und begreifen, was ich getan habe. Ich bin voller Angst. Mich hätte ich erschießen sollen.

GRASBERG: Für solche Überlegungen ist es jetzt zu spät.
Es ist geschehen was geschehen ist.

WÄCHTER: Sagen Sie nicht, daß das Leben immer weiter geht.

GRASBERG: Nein, das Leben geht nicht immer weiter. Wir sterben jeden Tag. Verlieren ein Stück Atem. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann besteht sie darin zu kämpfen. Sich zu überwinden, die fatale Konsequenz aufzuheben. Wer Glück hat, rettet sich am Ende in eine bloße Erträglichkeit.

WÄCHTER: Ihr Tee ist gut.

GRASBERG: Ich habe ein kleines Beet mit Kräutern. Die Kräuter sind mir die Liebsten. Sie sind robust, blühen und duften. Jedes Kraut hat seine eigene Wirkung. Ich stelle Mischungen zusammen, experimentiere.

WÄCHTER: Eigentlich haben Sie es hier schön. Es liegt so nah an der Siedlung und trotzdem ist es hier schön.

GRASBERG: Für ihn ist es eine Müllhalde. Ein stinkender Haufen Müll am Rande der Stadt. Sein Bademantel steht Ihnen gut. Er läßt Sie zufrieden aussehen.

MÜLLER: (ruft aus dem Nebenzimmer) Wo ist mein Bademantel?
(kommt ins Zimmer) Ich habe ihn gestern Abend … Sie? Sind noch hier?

WÄCHTER: Sie hat es mir erlaubt.

MÜLLER: Was erlaubt?

WÄCHTER: Zu bleiben. Für eine Weile.

MÜLLER: Ziehen Sie den Bademantel aus. Ziehen Sie ihn sofort aus. Mir ist es kalt.
(Wächter zieht den Bademantel aus und gibt ihn Müller)

GRASBERG: Ich habe ihn ihm gegeben.

MÜLLER: Weshalb?

GRASBERG: Ihm war es kalt.

MÜLLER: Als hätten wir nicht schon genug Probleme. Wir können ihn nicht durchfüttern. Es reicht kaum für uns.

GRASBERG: Wir haben ein wenig gespart und wir haben den Garten.

MÜLLER: Im Garten gibt es nur Kartoffeln.

GRASBERG: Es ist Herbst, wir können bald ernten. Wir brauchen nicht viel und es ist genügend da.

MÜLLER: Du willst wirklich, daß er bleibt?

GRASBERG: Ja.

MÜLLER: Dann gehe ich.

GRASBERG: Du kannst nicht gehen.

MÜLLER: Ja. (geht in das andere Zimmer zurück)

WÄCHTER: Weshalb kann er nicht gehen?

GRASBERG: Ihnen kann ich es sagen. Er wird von der Polizei gesucht.

WÄCHTER: Was hat er getan?

GRASBERG: Was er getan hat weiß ich nicht. Nachbarn fanden seine tote Frau entkleidet auf dem Küchentisch.

WÄCHTER: Sie hat sich erhängt.

GRASBERG: Hat er Ihnen das erzählt?

WÄCHTER: Gestern Abend, als ich gekommen war, sagte er, daß sich seine Frau an einer Türklinke erhangen hätte.

GRASBERG: Ja.

WÄCHTER: Sie glauben ihm nicht.

GRASBERG: Die Polizei hat nach ihm gefahndet, weil er abgehauen ist. Er hat ein paar Sachen zusammengepackt und ist verschwunden. Ihr Körper begann zu stinken. Da wurden die Nachbarn aufmerksam. Der Beerdigung hat er per Fernglas beigewohnt. Sagt er. Nach einem halben Jahr rief er mich an und bat um Hilfe. Ich wollte ihn ausliefern, wollte den Mörder meiner Schwester bezahlen sehen für das, was er getan hat.

WÄCHTER: Sie haben die Polizei nicht gerufen.

GRASBERG: Er gab mir eine Adresse, wo ich ihn abholen sollte. Ich fand ihn im Keller eines Rohbaus, an dem gerade nicht gebaut wurde. Sein Zustand war erbärmlich. Ich schlug ihm ins Gesicht, in den Magen. Trat ihn, trat immer wieder auf ihn ein.Dann nahm ich ihn mit zu mir. Wir saßen eine Nacht beisammen. Er konnte mir nicht in die Augen sehen, sah immer nur auf den Tisch und stammelte unzusammenhängende Dinge.

WÄCHTER: Sie haben ihm vergeben.

GRASBERG: Ich weiß es bis heute nicht. Er tat mir leid. Ich mietete dieses Häuschen
und brachte ihn hierher in Sicherheit. Seitdem leben wir hier.

WÄCHTER: Schlagen Sie mich. Treten Sie mich.

GRASBERG: (schlägt ihm ins Gesicht) Das muß reichen. Mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun. Sie haben Lucie erschoßen, Sie müssen da rauskommen. Ich habe damit nichts zu tun.

WÄCHTER: Wie hat er es geschafft?

GRASBERG: Ich weiß nicht ob er meine Schwester tötete.

WÄCHTER: Trotzdem, er mußte den Tod seiner Frau überwinden.
Den Tod der Geliebten.

GRASBERG: Er hat nichts überwunden. Schauen Sie ihm in die Augen.

WÄCHTER: Wie lange ist es her?

GRASBERG: Eine Ewigkeit.

WÄCHTER: Ich hatte gute Gründe es zu tun. Sie war nicht für diese Welt geschaffen. Diese Welt ist zu schlecht für sie. Diese Siedlung. Diese Trostlosigkeit und ein ganzer Winter vor der Tür. Der Blick auf die Felder. Nur umgepflügte braune Erde. Kein Grün. Und alle hundert Meter ein Strommast. Ihr Hals, ihr weicher Hals. Ich schloß die Augen, fuhr mit der Nase an ihrem Hals entlang, küßte sie …

GRASBERG: (laut) Ziehen Sie sich an und räumen Sie die Tassen weg. Wir holen den Liegestuhl aus dem Schuppen.

WÄCHTER: Ja. (Pause.) Vielleicht sollte ich doch gehen. Ich falle Ihnen zur Last.

GRASBERG: Wohin wollen Sie denn gehen? Sie würden nicht weit kommen.
Sicherlich kennt man Sie in der Gegend.

WÄCHTER: Lucie hätte niemals Selbstmord begangen, sie wäre nicht einmal auf die Idee gekommen. Ihre Leidensfähigkeit war zu groß.

GRASBERG: Und Sie? Weshalb ertragen Sie die Leiden?

WÄCHTER: Ich bin ein schlechter Mensch. Bin es immer gewesen. Ich leide nicht,
weil ich nichts anderes gewöhnt bin. Meine Eltern sind, wie man so sagt, einfache Leute.

GRASBERG: Was sagt das schon.

WÄCHTER: (bestimmt) Sie sind einfache Leute. Sie haben sich an die Anspruchs-
losigkeit gewöhnt, haben sich in die Ecke treiben lassen. Das Gerede von
Moral und Anstand, das Unterdrücken aller Bedürfnisse. Unerträgliche
Selbstkontrolle und Angst. Sie sind voller Angst. Eingeschüchtert.

GRASBERG: Vielleicht sieht das nur so aus. Vielleicht sind sie in ihrer Liebe
aufgehoben.

WÄCHTER: Ja. (Pause) Vielleicht. Wahrscheinlich sind sie tot.

GRASBERG: Haben Sie keinen Kontakt zu ihren Eltern?

WÄCHTER: Nein. Wozu?
GRASBERG: Gefühle.

WÄCHTER: Vater ist Tierpfleger im Zoo. Oder er war es, ist im Ruhestand, ich weiß es nicht. Wenn ich ihn im Zoo besuchte, dann machte er die Käfige sauber.
Da stand dann der kleine Mann mit dem Schlauch in der Hand und
spritzte die Scheiße weg.

GRASBERG: Was ist daran schlimm?

WÄCHTER: Das entstandene Bild. Der Mann im Käfig. Und es war nicht einmal sein eigener Käfig und es war nicht einmal seine eigene Scheiße.

GRASBERG: Sie spielen sich auf, verurteilen. Wahrscheinlich waren Sie die Last ihrer Eltern, ihr Unglück.

WÄCHTER: Nein.

GRASBERG: So wie Sie Lucies Unglück waren.

WÄCHTER: Ich habe alles für sie getan.

GRASBERG: Alles. Was mag für Sie schon alles sein.

WÄCHTER: Ich war für sie im Gefängnis und ich wäre wieder für sie ins Gefängnis gegangen.

GRASBERG: Vielleicht ist das nicht die Wahrheit, daß Sie für sie gesessen haben.

WÄCHTER: Es ist die Wahrheit. Ich habe alles versucht sie glücklich zu machen,
sie aus der Siedlung rauszuholen. Weg aus der dreckigen Vorstadt.

GRASBERG: Hinaus aufs Land. Aufs schöne Land, wo die Wiesen so grün sind, und die Luft so luftig ist. Da wachsen dir die Früchte in den Mund und gebratene Hähnchen fliege zum Fenster herein.

WÄCHTER: Wir hätten eine Chance gehabt.

GRASBERG: Einbruch? Diebstahl? Erpressung?

WÄCHTER: Ich ging durch die Straßen. Ohne Grund. Die Pistole in der Tasche.
Da kam ich zu einer Post. Ich hatte Lust, sie zu überfallen. Das Geld
rauszuholen und das Leben zu ändern. Sie war geschlossen. Mittagspause.
Da ging ich in die Bäckerei neben der Post, zog die Waffe und verlangte
nach dem Geld. Plötzlich kam ein kahlgeschorener Mann von hinten aus
der Backstube. Er hatte einen Karabiner auf meinen Kopf gerichtet. Bereit
zu töten. Wir sahen uns, die Waffen aufeinandergerichtet, in die Augen.
Er kam auf mich zu, erwartete meinen Schuß. In seinen Augen der um-
gelegte Hebel. Was sollt’ ich tun. Nur ein Zucken meiner Augen, er hätte geschossen.

GRASBERG: Und Lucie würde noch leben.

WÄCHTER: Hören Sie auf.

GRASBERG: Nein.

WÄCHTER: Sie wollen mich quälen. Darum geht es ihnen. Nun können Sie doppelt Rache üben. Was Sie ihm zufügen, das können Sie jetzt auch mir zufügen. Aber die Rechnung geht nicht auf. Nein. Das Spiel läuft ohne mich.
(nimmt die Waffe aus der Schublade und zielt auf GRASBERG.
MÜLLER kommt aus dem Nebenzimmer.)

MÜLLER: Legen Sie die Waffe weg. (schreit) Sie sollen die Waffe weglegen.

WÄCHTER: (zielt auf Müllers Kopf.) Merken Sie es nicht, sie will Sie zugrunde richten. Sie übt langsame, qualvolle Rache. Diese Räume sind ein Ort des Schreckens und sie ist ein Rachemonster. In ihren Augen sehe ich, daß sie eine Schwester Lucies ist. Sie will nicht verstehen, daß es keinen Ausweg gab.

GRASBERG: Nun beruhigen Sie sich doch. Das Rachemonster bin nicht ich. Es steckt in Ihnen. Der Schmerz ist unerträglich, aber es ist Ihr Schmerz, Ihr eigener gottverdammter Schmerz.

(Wächter legt die Waffe zurück.)

WÄCHTER: Ich halte es nicht aus, halte diesen Schmerz nicht aus. (Pause)

MÜLLER: Ich ging aus dem Haus und lief davon. Rannte und rannte um eine Entfernung zu ihrem toten Körper herzustellen. Unter dem Arm eine Sporttasche, in der ich einige Fotos und den Strick mitgenommen hatte. Wohin sollte ich gehen. Es gab plötzlich keine Vergangenheit mehr. Ihr Leben und mein Leben ausgelöscht. Meine Gedanken trieben in einer Zwischenwelt, in einem Teil meines Wesens, das ich bisher nicht gekannt
hatte. Die fremde Welt draußen und die fremde Welt in mir. Ich mußte in
Bewegung bleiben, durfte mich nicht hinsetzen. Sonst wären die Gedan-
ken so schwer geworden, daß sie mich erdrückt hätten. Dann stieg ich in
einen Zug, ging die Gänge entlang. Da lag ein Mann blutend am Boden.
Er war zusammengeschlagen worden und zitterte. Es sah aus, als würde er
sterben. Er trug einen Anzug. Er trug ein Hemd und Krawatte, und er trug
Joggingschuhe. Ich schüttelte ihn, er sah mich an, fuhr mir mit der Hand
durch mein Haar und küßte mich auf den Mund. Da sprang ich auf,
rannte den Gang entlang. Der Zug hielt, ich riß die Tür auf und stolperte
hinaus. Dieses Riesenplakat, riesige weiße Zähne eines männlichen
Lächelns. Ich drehte mich um, sah den blutenden Mann in der Tür des
Zuges und …

GRASBERG: … lief davon.

WÄCHTER: Ich bin leer. In mir ist nichts. Um mich herum ist nichts. Wahrscheinlich
war da nie etwas. Es waren alles Hirngespinste. Einbildung.

(WÄCHTER geht nach draußen um den Liegestuhl zu holen.)

MÜLLER: Wir müssen unser Leben ändern. Von Grund auf ändern. Es sind die in uns angelegten Sackgassen die alles zunichte machen. Die uns abtöten. Weil wir dem, was mit uns geschieht blind gegenüber stehen. Dann sind wir nur noch halbwegs funktionierende Chemiefabriken. Wir führen alles ein. Vitamine, Proteine, Fette. Egal, es muß nur irgendwie laufen. Calcium dazu. Vitamin B 12 baut auf. Es läuft, es läuft. Und den Sondermüll schwitzen wir aus und den Normalmüll scheißen wir aus, und unsere
Schwänze sind Abwasserrohre die sich in Kloaken ergießen. Und wenn wir
tot sind bleibt ein einziger Haufen Leichengift, der luftdicht unter der Erde
entsorgt wird. Oder wie Müll verbrannt wird. Oder wir werfen uns ins
Meer um noch ein paar Fische mitzunehmen.

GRASBERG: Das sind Hirngespinste.

MÜLLER: Es sind Hirngespinste und es ist die Wahrheit.

GRASBERG: Es ist nicht die Wahrheit.

MÜLLER: Du glaubst in deinem Leben wäre alles in Ordnung, weil du alles aufs einfachste reduziert hast. Weil du glaubst frei von Ballast zu sein. Weil
dein Kartoffelacker frei von jeglichem Chaos ist. Weil du dir keine Ge-
danken machst. Du hast alles in schwarz und weiß aufgeteilt. Ich bin der
Dreck und du glaubst die Normalität zu sein. Du funktionierst nur, weil du denkst, daß du ein kleines Stück größer bist als ich. Du irrst dich. Du bist leer.

GRASBERG: Du hast dich niemals für mich interessiert. Als ich dich holte hüllten wir
uns in dein Schweigen. Du hättest gerne mit mir geschlafen. Das war
alles.

MÜLLER: Ja, ich hätte manches Mal gerne mit dir geschlafen. Na und. Wir wären uns vielleicht ein wenig nah gekommen.

GRASBERG: Du redest und redest. Von Gedankenwelten und Veränderungen. Und
wenn wir es getan hätten wärst du einfach über mich drübergerutscht.

MÜLLER: Hör auf.

GRASBERG: Das erträgst du nicht. Wie war es denn wenn du mit ihr geschlafen hast?
Hat sie gestöhnt? Vor Lust gewimmert? Hast du sie vorher gestreichelt
und nachher zärtlich in die Arme genommen oder hast du einfach zum Taschentuch gegriffen? Hast du es ihr auch weggemacht oder bist du gleich eingeschlafen?

MÜLLER: Wir hatten keinen Sex mehr.

GRASBERG: Dann hast du’s dir für mich aufgespart.

MÜLLER: Alles was ich wollte war Nähe. Eine Zuneigung. Einen Ort, an dem andere Gesetze gelten.

GRASBERG: Gesetze. Glaubst du nicht, daß du dieses Wort nicht benutzen solltest.

MÜLLER: Ich kann es so nennen und ich kann es so nennen. Die Namen sind egal. Als ich sie kennenlernte, da war das ein unbeschreibliches Gefühl. Übermächtig. Und ich dachte, daß das nur der Anfang sei. Daß sich das Gefühl weiterentwickeln würde. Wir waren frei. Begannen zu leben.

MÜLLER: Ich kann es so nennen und ich kann es so nennen. Die Namen sind egal. Als ich sie kennenlernte, da war das ein unbeschreibliches Gefühl. Übermächtig. Und ich dachte, daß das nur der Anfang sei. Daß sich das Gefühl weiterentwickeln würde. Wir waren frei. Begannen zu leben.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Sie war voller Ideen, voller Verrücktheiten. Ich kannte sie drei Tage, da klaute sie ein Auto und wir fuhren an den Atlantik. Wir hatten nichts
dabei, außer die Klamotten, die wir am Körper trugen. Es war himmlisch.
Eine Reise in die Freiheit. Ich spürte Dinge in mir, von denen ich vorher
nicht zu träumen gewagt hätte. Grenzenlosigkeit. Schwerelosigkeit. Sie
mußte nach Paris. Wir tranken Sekt am Montmatre und schliefen im Bois
de Boulogne. Am Himmel die Lichter der Stadt. Mir war so warm an ihrer
Seite und ich spürte sie in jedem Winkel meines Körpers. Das war die
Leichtigkeit.

GRASBERG: Das Geld hatte sie mir gestohlen. Ich hätte es gebraucht. Es war verplant.

MÜLLER: Sie sagte, ich solle nicht nach dem Geld fragen. Ich tat es nicht.

GRASBERG: Sie hat es mir nie zurückgegeben. Nicht einmal entschuldigt hat sie sich.

MÜLLER: Wir haben die Welt ein Stück reicher gemacht.

GRASBERG: Ihr hattet eine Hypothek aufgenommen, der ihr nicht gewachsen ward.

MÜLLER: Du weißt nicht wovon du sprichst.

GRASBERG: Es gibt verschiedene Wege sich dem Leben zu nähern. Und es gibt viele Wege das Leben zu verschenken.

MÜLLER: Ich habe es nicht verschenkt.

GRASBERG: Was wurde aus dem Sekt am Monmatre und was wurde aus dem Lichterhimmel über der Stadt? Alle Leichtigkeit ist verflogen. Sie ist tot
und du bist so schwer wie ein alter Mann.

MÜLLER: Hätten wir Kinder gehabt oder vielleicht nur einen Hund.

GRASBERG: Vielleicht wären die dann jetzt auch tot.

MÜLLER: Hör auf mit diesen ewigen Anschuldigungen. Ich kann es nicht mehr
hören.

GRASBERG: Ich werde dir einen neuen Bademantel kaufen. Frottee. Längsstreifen.
Möchtest du? (weint)

MÜLLER: Ja. Das wäre schön. Farben. Bunte Längsstreifen.

GRASBERG: Ich werde Tee machen. Eine neue Mischung.

WÄCHTER: (WÄCHTER kommt von draußen. Er schleppt einen Klappliegestuhl.)
Im Schuppen steht ein Wagen.

GRASBERG: Warten Sie, ich helfe Ihnen.

MÜLLER: Du wolltest Tee machen.
(MÜLLER hilft WÄCHTER den Liegestuhl aufzubauen. Beide wollen sich reinsetzen.)

WÄCHTER: Der Wagen ist fast neu. Fährt bestimmt. Zugelassen ist er auch.

GRASBERG: Das ist mein Auto.

WÄCHTER: Ein schöner Wagen.

MÜLLER: Ein Auto.

GRASBERG: Immerhin ist er mit Katalysator.

MÜLLER: Dann dauerts ein wenig länger bis die Welt hopps geht.

WÄCHTER: Wir könnten fliehen.

MÜLLER: Ich muß nicht fliehen.

WÄCHTER: Wir müssen nicht, aber wir könnten.

MÜLLER: Sagen Sie nicht wir. Wohin?

GRASBERG: An den Atlantik, mit Frühstück am Montmatre.

WÄCHTER: Nein, das wird kein Abiturienten-Abenteuer.

GRASBERG: (schaut zu Müller) So. (geht ins Nebenzimmer Tee kochen)

WÄCHTER: Was hält uns hier? He? Was haben wir jetzt noch zu verlieren?

MÜLLER: Hier gibt es was klarzustellen, ich habe keinen Grund zu fliehen.

WÄCHTER: Sie fühlen sich wohl in dieser Baracke.

MÜLLER: Das geht Sie nichts an.

WÄCHTER: Hören Sie, hier ist kein Ort an dem man bleiben sollte. Das spüre ich.

MÜLLER: Es ist ein Ort an dem ich meine Ruhe hatte bis Sie kamen.

WÄCHTER: Sie sollten keine Feindschaft zu mir aufbauen. Wir sitzen im selben Boot. Sie werden genauso von der Polizei gesucht wie ich.

MÜLLER: Mich interessiert die Polizei nicht.

WÄCHTER: Die Polizei sollte Sie interessieren. Das Versteck wird nicht ein Leben lang halten. Die Menschen sind neugierig und die Menschen schwatzen. Irgendjemandem wird auffallen, daß sie mehr Lebensmittel einkauft, als
sie alleine verbrauchen kann.

MÜLLER: Das glauben Sie doch nicht wirklich. Niemand interessiert sich für niemanden. Sie würde noch leben wenn es anders wäre.

WÄCHTER: Wir müssen weg. So schnell wie möglich. Ihr traue ich auch nicht. Wie sie mich anschaut. Sie hat etwas in ihren Augen. Ich weiß nicht, aber ich möchte nicht dahinterkommen.

MÜLLER: In ihren Augen ist Kraft und Ehrlichkeit.

WÄCHTER: Sie verehren sie.

MÜLLER: Ich liebe sie.

WÄCHTER: Das ist nicht wahr.

MÜLLER: Es geht Sie nichts an und es ist auch unwichtig.

WÄCHTER: Sie machen einen Fehler wenn Sie bleiben. Hier gehen Sie vor die Hunde.

MÜLLER: Ich bin schon zu oft gegangen.

WÄCHTER: Lassen Sie diese billigen Filmfloskeln. Hier haben Sie keine Chance und
das wissen Sie. Ihnen bleibt kaum genug Platz zu atmen. Wir können neu anfangen. Wir bringen die Grenze hinter uns und beginnen mit dem Vergessen.

MÜLLER: Sie sollen nicht wir sagen.

WÄCHTER: Ob Sie wollen oder nicht, wir sind miteinander verbunden. Ihre Frau ist tot und Lucie ist es auch. Basta. Lassen Sie uns noch heute Nacht verschwin-
den. In fünf Stunden sind wir an der Küste. Wir nehmen die erste Fähre
am Morgen.

MÜLLER: Wohin wollen Sie?

WÄCHTER: Nach Skandinavien. Nach Schweden.

MÜLLER: Aber der Winter kommt.

WÄCHTER: Umso besser. Niemand wird auf die Idee kommen uns in der Kälte des Nordens zu suchen.

MÜLLER: Auf den Fähren werden sie die Pässe kontrollieren.

WÄCHTER: Wir werden im Kofferraum sein und sie wird fahren.

MÜLLER: Ich denke Sie trauen ihr nicht.

WÄCHTER: Was bleibt mir anderes übrig. Wenn sie mich verraten will, dann kann sie
es hier wie dort tun.

MÜLLER: Sie wird nicht mitkommen.

WÄCHTER: Hätte sie eine Alternative, sie lägen noch immer im Keller des Rohbaus.
Sie hat Sie gerettet, weil sie eine einsame Frau war. Im Rudel der Wölfe
wäre sie das Leittier. Aber wir sind Menschen und deshalb ist sie allein
gewesen bis zu dem Zeitpunkt, als Sie in die mißliche Situation gerieten
auf sie angewiesen zu sein.

MÜLLER: Sie reimen sich da was zusammen. Der Kartoffelacker ist für sie wichtiger als alles andere. Ohne geerntet zu haben wird sie nicht gehen.

WÄCHTER: Ohne sie haben wir nicht die geringste Chance. Wir werden Geld
brauchen und sie hat ein wenig gespart. Verstehen Sie doch.

MÜLLER: Des Geldes wegen. Sie würden sie des Geldes wegen mitnehmen.

WÄCHTER: Nicht nur, aber in erster Linie schon.

MÜLLER: Weshalb Schweden?

WÄCHTER: Es ist ein leeres Land. Dort gibt es Platz genug für jeden. Es ist nicht so fürchterlich überfüllt wie hier. Und Sie lieben dort die Natur. Sie haben
Zeit und Raum die Natur zu lieben. Zumindest hat Lucie das gesagt.

MÜLLER: Lucie wäre sicherlich gerne mit ihnen nach Schweden gegangen.

WÄCHTER: Lucie lebte nur in Träumen. In einer unzugänglichen Welt. Jeden Tag wäre sie gerne woanders gewesen, um nur nicht dort zu sein wo wir lebten. Jeder Tag machte sie ein Stück unglücklicher. Ich habe das nicht mehr ertragen.

MÜLLER: Und wenn Sie mit ihr einfach gegangen wären, wenn Sie sie an die Hand genommen hätten und wären losgegangen, so wie Sie nun mit mir los-
ziehen wollen.

WÄCHTER: Ihre Kraft hätte nicht gereicht. Sie hatte eine teuflische Angst vor dem Leben, vor den Dingen die passieren konnten. Die Wohnung zu verlassen um einkaufen zu gehen war für Lucie eine große Überwindung. Sie ertrug die Menschen mit ihren lauten Stimmen nicht.

MÜLLER: Es gibt auch Menschen mit leisen Stimmen.

WÄCHTER: Wenige.

GRASBERG: (kommt herein mit einem Tablett mit Teetassen, Teekanne und Keksen)
Der Tee ist fertig, ich hoffe die Gemüter haben sich beruhigt.
(stellt die Tassen hin) Was ist aus den Fluchtplänen geworden?
Werdet ihr Casablanca noch heute Nacht verlassen?

MÜLLER: Es ist kein Scherz. Gib mir bitte Tee. Die Lage ist ernst. Eigentlich wissen
wir das schon lange. Er hat recht, eines Tages werden sie uns finden.
Wir müssen gehen. Ich kann mich hier nicht immer verstecken, mich
einsperren wie in einem Gefängnis.

GRASBERG: Dann geh zur Polizei und lös deinen Fall auf. Sag ihnen, daß du es nicht warst, daß es Selbstmord war.

MÜLLER: Sie würden mir nicht glauben. Dazu ist es zu spät.
Nicht einmal du glaubst mir.

GRASBERG: Wie kann ich dir glauben, wenn du mit mir niemals darüber gesprochen hast. Als ich dich holte, da sagtest du, daß du es nicht getan hättest und, daß du niemals mehr darüber sprechen wollest. Daran habe ich mich gehalten, auch wenn es mir oft schwerfiel. Ich weiß nicht, was wirklich geschehen ist.

WÄCHTER: Lassen Sie ihn doch zufrieden. Die Vergangenheit ruht und die Zukunft ruft. Aber eine Zukunft ist nur eine Zukunft, wenn man sich bewegt. Wieviel Geld haben Sie gespart? Und wo ist das Geld?

GRASBERG: Hast du dich mit ihm verbündet? Sag ihm doch wo das Geld ist, dann könnt ihr gemeinsam verschwinden.

MÜLLER: Ich würde niemals ohne dich gehen. Ich bekomme noch einen neuen Bademantel von dir. Du hast es versprochen.

WÄCHTER: Kommen Sie mit uns. Fahren Sie uns in eine neue Welt.
Es ist nicht zu spät mit einem neuen Leben zu beginnen.

GRASBERG: Trinken Sie ihren Tee.

MÜLLER: (steht auf) Schweden.

GRASBERG: Meine Kartoffeln.

WÄCHTER: Wir werden in der Dunkelheit einen Zentner ernten und mitnehmen.

GRASBERG: Die Kartoffeln sind noch nicht soweit. Ich kenne niemanden in Schweden und außerdem wird dort bald Winter sein.

MÜLLER: Ja, richtiger Winter.

WÄCHTER: Und wen kennen Sie hier? Wer wird Ihnen eine ehrliche Träne
nachweinen?

GRASBERG: Ich vermute niemand.

MÜLLER: Dann komm mit. Auf nach Schweden.

GRASBERG: Trink deinen Tee.

MÜLLER: Ja. (setzt sich)

WÄCHTER: Sagen Sie nicht ja. Sie wird Sie umstimmen.

MÜLLER: Du wirst nicht mitkommen?

GRASBERG: Nein.

WÄCHTER: Sie machen einen großen Fehler. Aber wir werden es auch ohne sie schaffen. Wo ist das Geld und wo sind die Wagenschlüssel.

GRASBERG: Hören Sie, weder den Wagen noch das Geld werden Sie von mir bekommen.

WÄCHTER: Wir werden den Wagen und das Geld aber brauchen.

MÜLLER: Ich kann nicht mitkommen.

WÄCHTER: Sehen Sie. Letztendlich werden Sie ihn der Polizei ausliefern.
Das wollen Sie doch nicht, oder?

GRASBERG: Es ist mir egal.

WÄCHTER: Dann werden Sie alleine sein. Einsam.

GRASBERG: Was wissen Sie denn schon von Einsamkeit. Seien Sie doch endlich still.
Ich hätte Ihnen keine Gastfreundschaft anbieten dürfen, Sie sind es nicht wert.

MÜLLER: Laß ihn.

GRASBERG: Sei still.

MÜLLER: Zu gehen ist seine letzte Chance. Gib ihm das Geld und gib ihm das Auto.

GRASBERG: Seine letzte Chance war Lucie.

WÄCHTER: Das ist nicht wahr.

GRASBERG: Sie haben es doch gar nicht ausprobiert.

WÄCHTER: Ich habe alles für sie getan.

GRASBERG: Alles. So. Und haben Sie ihr auch Zeit gegeben? Wie alt sind Sie denn?

MÜLLER: Er ist siebenundzwanzig.

GRASBERG: Und wie alt war Lucie?

WÄCHTER: Im Sommer wäre sie zweiundzwanzig geworden.

GRASBERG: Ich sollte die Polizei rufen. Sie sind krank.

WÄCHTER: Es war die Angst in ihren Augen. Ich habe es nicht mehr ertragen.

GRASBERG: Sie hätten sich erschießen sollen.

MÜLLER: Grasberg, laß ihn. Du wirst ihn in den Tod treiben.

GRASBERG: Er ist genauso feige wie du, sonst hätte er sich erschossen und nicht Lucie.

MÜLLER: Du urteilst und verurteilst. Du hast Lucie nicht gekannt. Woher willst du wissen, wie es um sie stand.

GRASBERG: Und woher soll dieser Junge das gewußt haben? Sag mir das.

MÜLLER: Es gibt Dinge auf dieser Welt von denen wir nicht einmal eine Vorstellung haben.

GRASBERG: Und dann nehmen wir eine Pistole und halten sie in das Zentrum dieser unvorstellbaren Dinge.

WÄCHTER: Hätte es eine andere Lösung gegeben, ich hätte es nicht getan.

MÜLLER: Hat sie es gewollt?

WÄCHTER: Ich sah ihr in die Augen. Da war nur Leere. Sie starrte in den Lauf. Es war ihr egal.

GRASBERG: Übermorgen oder in zehn Jahren wäre es ihr vielleicht nicht mehr egal gewesen.

WÄCHTER: Was wissen Sie denn schon. Sie sind ja so erfahren. Wahrscheinlich sind
Sie in ihrem Leben niemals einem Menschen wirklich nahe gekommen.
Ich kann es weder ihnen noch irgendwem erklären. Nur Lucie und ich
wissen, daß es richtig war. Sie sind kalt und starr. Sie würden es niemals
verstehen können. Das kalte Herz trübt den Blick.

GRASBERG: (weint) Sie machen es sich sehr einfach.

MÜLLER: Lassen Sie uns jetzt bitte allein.

WÄCHTER: (geht ins Nebenzimmer) Alle Last liegt auf meinen Schultern.

MÜLLER: Du bist weder kalt noch starr. Er kennt dich nicht.

GRASBERG: Das ist es nicht. (Pause)

MÜLLER: Was ist es dann?

GRASBERG: Wir können niemals entkommen. Wohin wir auch gehen, in welchem Loch wir uns auch verstecken, das Böse kommt und holt uns aus der Ruhe und der Freundlichkeit. Es wächst niemals Gras über unsere Wunden. Irgendjemand kommt sie wieder aufzureissen. Ich dachte hier würde ich Ruhe finden, würde mich mir und den Kartoffeln widmen können.

MÜLLER: Er wird gehen und du wirst deinen Frieden haben.

GRASBERG: Was du da redest.

MÜLLER: Du traust mir nicht. Wir werden einander niemals nah kommen. Ich bin dein kleiner Junge. Du machst mir Tee, kochst für mich, wäschst die Wäsche. (Pause) Sprich mit mir. Sag mir was in dir vorgeht, was dich beschäftigt, woran du denkst.

GRASBERG: Ich denke nicht.

MÜLLER: Das ist nicht wahr. Du sprichst im Schlaf, manchmal schreist du sogar.
Dann gehe ich zu deinem Bett, halte deine Hand und streichle dir über
den Kopf. Hinter der Stirn sehe ich diese dunkle Welt liegen die dich martert. Hab Vertrauen.

GRASBERG: Das sagt sich so einfach. Dir geht es doch nicht um mich. Du brauchtest Hilfe, die habe ich dir gegeben. An nichts anderem warst du interessiert.
Es ist in Ordnung, du bist mir nichts schuldig.

MÜLLER: Ich war am Boden und fast hätte mir die Kraft gefehlt mich am Leben zu halten. Mich hat nichts mehr interessiert. Du hast mich gerettet und dafür werde ich dir immer dankbar sein, aber trotzdem bist du mir was schuldig.

GRASBERG: Und das wäre?
MÜLLER: Ehrlichkeit.

GRASBERG: Als hätte ich dich belogen.

MÜLLER: Du hast geschwiegen.

GRASBERG: Was willst du damit sagen?

MÜLLER: Möchtest du noch Tee?

GRASBERG: Ja. (MÜLLER schenkt ihr ein)

MÜLLER: Ich habe sie bei ihr gefunden. Sie muß sie kurz vor ihrem Tode gelesen haben.

GRASBERG: Du solltest sie niemals zu Gesicht bekommen.

MÜLLER: Ich habe die Briefe gelesen. Ich habe sie alle gelesen.

GRASBERG: Jedes Wort, jeder Buchstabe nichts als Fiktion.

MÜLLER: Du hast ihr die Liebe zu mir nicht gegönnt, deshalb wolltest du diese Liebe zerstören.

GRASBERG: Diese Briefe habe ich ihr nicht gegeben, sie hat sie sich genommen.
Sie war bei mir zu Besuch und suchte nach Fotografien aus unserer
Kindheit. Dabei hat sie die Briefe gefunden und eingesteckt. Daß die
Briefe weg waren, habe ich erst nach ihrem Tod bemerkt. Ich dachte mir
nichts dabei.

MÜLLER: Das glaube ich dir nicht. Die Briefe waren als Geschäftspost getarnt an mich adressiert.

GRASBERG: Fast hätte ich sie abgeschickt.

MÜLLER: Ich habe niemals etwas Zärtlicheres gelesen als diese Briefe.

GRASBERG: Mir tat alles weh vor Liebe. Tag und Nacht dachte ich an dich. Für dich gab es nur sie. Da saß ich mit meinen Gefühlen. Kein Weg. Keine Möglichkeit. Du gehörtest ihr und sie war meine Schwester. Ich versuchte alles dich zu vergessen, doch je größer die Mühe, desto größer der Schmerz. Die Reise nach Italien war eine Flucht vor dir. Ich blieb länger als ich ertrug, weil ich Angst hatte vor der Rückkehr. Da waren Männer, die mir halfen dich aus meinen Gedanken fernzuhalten. Viele Männer. Mich ekelte vor ihnen.

MÜLLER: Ich verstehe das alles nicht. Wir sind uns nie nahgekommen, haben nie mehr miteinander gesprochen als unbedingt nötig.

GRASBERG: Es ist … Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht war es deine Weichheit.

MÜLLER: Du hast nichts preisgegeben.

GRASBERG: Sie hat es mir verboten.

MÜLLER: Sie hat es gewußt?

GRASBERG: Sie kannte mich, wie ich sie kannte. Sie wußte es bevor ich es gewußt habe. Kam ich nur in deine Nähe, strafte sie mich mit Blicken, die ich nie vergessen werde.

MÜLLER: Sie war nicht eifersüchtig. Immer wieder sagte sie, ich solle mit anderen Frauen schlafen, solle mich nicht auf sie fixieren.

GRASBERG: Wir waren Schwestern und es wäre nicht um eine Nacht gegangen.

MÜLLER: Was ist aus der Liebe geworden?

GRASBERG: Ein Kartoffelacker. Du hast sie nicht getötet?

MÜLLER: Nicht in jener Nacht.

GRASBERG: Weshalb bist du fortgelaufen?

MÜLLER: Der Formalitäten wegen. Der Banalitäten wegen. Man hätte mich gefragt wie es dazu gekommen ist und wo ich war als es geschah. Das hätte ich nicht ertragen. Als ich sie fand war der Körper noch warm. Ich war in der Werkstatt und machte einen Auftrag fertig. Der Kunde hatte am Morgen gedrängelt, weshalb ich bis in die Nacht arbeitete. In der Wohnung war es dunkel. Ich dachte sie würde schlafen. Ich öffnete die Schlafzimmertür, aber da lag etwas im Weg. Als ich das Licht anmachte sah ich ihre leblosen Beine. Die Füße waren merkwürdig nach außen verdreht. Die Tür ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Da hing sie an der Türklinke. Ich löste die Schlinge und trug sie in die Küche, legte sie auf den Tisch neben ihre Tasse und die Briefe. Die einzelnen Blätter waren zerfleddert, mit Kaffee bekleckert. Sie muß sie immer und immer wieder gelesen haben.

GRASBERG: Du glaubst die Briefe waren schuld? Ich bin schuld an ihrem Tod?

MÜLLER: Wenn ich wüßte wer an ihrem Tod schuld ist. Ich habe mit ihr zusammen-
gelebt, war ihr Mann, ihr Geliebter. Sie zog sich in sich zurück, lächelte
und wehrte ab. Das Leben langweilte sie. Ich hatte meine Bücher an die
ich glaubte, die Arbeit, den Umgang mit Menschen. Sie hatte Ideen, die
sich nicht verwirklichen ließen. Hoffnungen, Phantasien, Utopien. Ich
wollte ein Buch mit ihr machen. Sie wollte das nicht, wollte ihre Welt
für sich behalten. Diese Welt hat sie mit in den Tod genommen. Ich
konnte ihre Tagebücher nirgends finden. Sie hat sie verschwinden lassen,
weil sie wußte, daß sie geht. Es war alles geplant. Sie hat ihr Leben
komplett ausgelöscht.

GRASBERG: Das alles macht mir Angst.

MÜLLER: Vielleicht sollten wir doch nach Schweden gehen.

GRASBERG: Wäre ich mit dir nach Italien durchgebrannt, das hätte Sinn gegeben.
Sie würde noch leben und wir hätten eine Verrücktheit begangen, die
uns das Leben heute erträglicher machen würde.

MÜLLER: Du meinst wir wären ein glückliches Paar.

GRASBERG: Nein. Vielleicht wären wir glücklich geschieden und hätten allen Grund unser Alleinsein zu genießen.

MÜLLER: Ich liebe dich.

GRASBERG: Du brauchst mich.

MÜLLER: Brauchst du mich?

WÄCHTER: (kommt herein) Ich halte es nicht mehr aus.

MÜLLER: Lassen Sie uns allein.

WÄCHTER: Ich kann jetzt nicht allein sein. Es ist schlimmer als im Gefängnis.

GRASBERG: Es ist wie es ist.

MÜLLER: Wir können es ändern. Erinnere dich an die Briefe.

WÄCHTER: Was für Briefe? Ich kann nichts mehr ändern.

GRASBERG: Seien Sie doch endlich still.

WÄCHTER: Ich habe siebenmal abgedrückt.

GRASBERG: Die Vorstellung, daß Sie Lucie umgebracht haben ist unerträglich.
Ich sollte Sie erschießen. (WÄCHTER nimmt die Waffe.)

WÄCHTER: Ich sollte Sie erschießen, dann wäre der Weg frei.

MÜLLER: Sie müßten uns beide erschießen. Mit einer Kugel. Sollen wir uns hintereinander stellen? (stellt sich vor Grasberg) So?

WÄCHTER: Machen Sie sich nur lustig. Es könnte passieren, daß ich Sie mit bloßer Hand erschlage. Mir kann es gleichgültig sein, ob zu der Toten eine Tote und ein Toter hinzukommt. Das sind nur Zahlen.

(GRASBERG und MÜLLER stehen immernoch hintereinander.
Wächter hat die Pistole auf MÜLLERS Brust gerichtet.)

GRASBERG: Du lächerlicher Schlappschwanz. (GRASBERG tritt zur Seite)

WÄCHTER: Provozieren sie mich nicht. Ich warne Sie.

(WÄCHTER zielt weiterhin auf MÜLLERS Brust.)

GRASBERG: Du lächerlicher Schlappschwanz.

WÄCHTER: Sie wollen mich in die Katastrophe treiben. Ihn soll ich umbringen, für Sie umbringen, (richtet die Waffe auf GRASBERG) damit Sie freie Bahn haben. Ich habe Sie durchschaut, von Anfang an durchschaut. Er ist für
Sie ein Spielzeug, eine Art Teddybär, den Sie nur für sich haben, weil er
nicht weg kann. Weil er auf Sie angewiesen ist. Wären wir zu dritt nach Schweden gegangen, dann hätte er seine Freiheit zurückbekommen.
Das wollten Sie nicht. Ihr Lieblingsspielzeug hergeben. Und nun ist hier
ein neues Spielzeug, eine neue Marionette. Welch ein Glücksfall. Wieder
kann das Tierchen nicht weg, kann nicht um Hilfe schrei´n. Wie praktisch.
Zum täglichen Zeitvertreib gibt es die Zeitung und Tee und Kekse. Ab und
an ein neues Mäntelchen. Und wie ist das Tierchen im Bett? Hat es ein
schönes langes steifes Rohr? Na, ist er gut? (schaut auf Müller, senkt die Waffe) Sie lassen das alles mit sich machen. Ich hätte Sie befreit, wäre wie ein Bruder zu Ihnen gewesen. Ich bin geschickt, kann organisieren. Ein ganz neues Leben hätte auf uns gewartet. Es ist nicht zu spät. Wir nehmen ihr die Schlüssel und das Geld ab, erschießen sie und fahren los. In zehn Minuten könnten wir fertig sein und im Auto sitzen. Dann wäre Schluß
mit diesem Loch hier. Das Leben würde beginnen, die Freiheit. Wie lange wollen sie denn noch Kartoffeln fressen und auf ihre Befehle hören.

GRASBERG: Ihre Rechnung geht nicht auf. Er hat keinen Grund fortzugehen, weil er kein Mörder ist.

WÄCHTER: Hören Sie nicht hin. Sie lügt. Mir hat sie etwas ganz anderes erzählt.

MÜLLER: Er hat recht.

WÄCHTER: Ja, mir können Sie vertrauen. Ich bin bereit sie zu erschießen.
Kein Problem.

MÜLLER: Hier halte ich es nicht mehr lange aus. Der Winter steht vor der Tür.

GRASBERG: Was willst du tun? Mich erschießen? Dich in die Hände dieses Wirrkopfs begeben?

MÜLLER: Grasberg, wir könnten ihn erschießen und dann nach Schweden gehen. (grinst)

GRASBERG: Schweden.

WÄCHTER: Das werden Sie bereuen. Ich habe ihnen meine Freundschaft angeboten.
Das werden Sie bereuen.
(läuft zur Eingangstür hinaus, die Waffe in der Hand)

GRASBERG: Er wird dich verraten.

MÜLLER: Na und.

GRASBERG: Wir müssen etwas unternehmen.

MÜLLER: Laß uns miteinander schlafen.

GRASBERG: Und dann?

MÜLLER: Sehen wir weiter.

BLACK.
(Es ist dunkel im Raum. GRASBERG und MÜLLER schlafen im Nebenzimmer. Durch das Fenster hindurch sieht man, daß der Kartoffelacker brennt. Von draußen hört man einen Schrei. MÜLLER kommt aus dem Nebenzimmer. Er hat eine Schlafanzughose an, der Oberkörper ist frei. Vom Haken im Zimmer nimmt er den Bademantel und zieht ihn über. MÜLLER geht vor die Tür und kommt nach einer Weile wieder herein. In der Hand hält er einen leeren Benzinkanister. Inzwischen ist GRASBERG ins Zimmer gekommen. Sie hat ein Nachthemd an.)

MÜLLER: Er hat den Acker mit Benzin übergossen und angezündet. Die Pflanzen stehen in Flammen.

GRASBERG: Er kann sie nicht alle angezündet haben, der Acker ist zu groß.

MÜLLER: Ich habe ihn noch weglaufen sehen. Hoffentlich kommt keine Polizei.

GRASBERG: Über den Pflanzen liegt der Nachttau. Sie werden nicht lange brennen. – Und wegen der Polizei mach dir keine Gedanken. Ein Verrückter hat den Acker angezündet. Das ist alles.

MÜLLER: Ebenso könnte der Verrückte das Haus anzünden. Er sagte, daß wir es bereuen würden.

GRASBERG: Nichts bereue ich. Im Gegenteil. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir mit ihm gegangen wären. Er ist es, der für diese Welt nicht gemacht ist. Um sich das nicht einzugestehen hat er Lucie umgebracht.
Sie war die Hündin, die er getreten hat.

Müller: Der ist irre. Draußen läuft ein Irrer herum, der es auf uns abgesehen hat.

GRASBERG: Die Waffe. Er hat die Waffe mitgenommen als er hinauslief.

MÜLLER: Er hat noch einen Schuß.

GRASBERG: Vielleicht wird ihm der verbrannte Acker genügen.

MÜLLER: Er hat nichts mehr zu verlieren. Wir sind die Einzigen auf dieser Welt, zu denen er noch eine Beziehung hat. Und diese Beziehung hat reichlich merkwürdige Formen angenommen.

GRASBERG: Laß uns heute Nacht wachbleiben.

MÜLLER: Den Kartoffelacker hat er angezündet, weil er wußte, daß er
dein Liebstes ist.
GRASBERG: Das ist nicht wahr. Der Acker ist nicht mein Liebstes. Die Arbeit auf dem Feld hat mir Ruhe gegeben. Mit den Händen in der Erde wühlen und das Grün wachsen sehen. Erst sind die Pflanzen klein und zerbrechlich. Dann wuchern sie und bekommen Blüten. Man fühlt sich verantwortlich. Zupft Unkraut, besorgt Mist. Für die Pflanzen ist man wichtig, weil sie auf Hilfe angewiesen sind.

MÜLLER: So wie ich.

GRASBERG: Bei dir ist es anders.

MÜLLER: Du hast mich auch aufgepeppelt und umsorgt. Wie ein kleines Kartoffelpflänzchen. All der Tee und all die Pflänzchen.

GRASBERG: Du wirst albern.

MÜLLER: Ich fühle mich neu. Befreit.

GRASBERG: Ich brauche dich, nicht irgendeinen Menschen. Früher haßte ich mich für meine Einsamkeit, so wie ich sie vor ihrem Tod haßte, weil sie glücklich
war. Glücklich zu sein schien. Deine und ihre Welt war mir fremd und verschloßen. Ihren Tod verstand ich nicht, genausowenig, wie ich dein Verschwinden verstand.

MÜLLER: Es läßt sich nicht erklären.

GRASBERG: Dein Anruf gab mir eine Ahnung davon, wie groß eine Verzweiflung sein kann. Wie unwichtig, wie klein erschien mir dagegen meine Einsamkeit.

MÜLLER: Dieser albernen Einsamkeit wegen hat sie sich das Leben genommen.

GRASBERG: Ihr seid zu zweit gewesen. Zusammen.

MÜLLER: Wir hatten eine Wohnung, ein Konto und ein gemeinsames Bett. Aber wir waren uns fremd, kannten uns nicht. Ich war zufrieden mit meinem
Leben, mit unserem Leben. Sie war es nicht. Ihr fehlte Nähe, Wärme.
Unsere Gedanken haben sich niemals gefunden. Ihre Kräfte schwanden
von Tag zu Tag. Sie zog sich zurück, in sich zurück. Ich merkte es viel zu
spät, weil ich zu sehr mit mir beschäftigt war. Das Geschäft, die Ideen,
meine Utopien, Spinnereien. Ich war blind, sah nur mich.

GRASBERG: Ich hatte niemals irgendwelche Ideen.

MÜLLER: Jeder Mensch hat Ideen.

GRASBERG: Ich nicht. Hätte ich welche, es wäre alles anders.

MÜLLER: Es ist wie es ist.

GRASBERG: Für den Augenblick ist es so und dann ändert sich wieder alles.

MÜLLER: Ich habe sie geliebt, aber ich habe sie niemals verstanden.

GRASBERG: Ich habe mir ein Leben lang gewünscht geliebt zu werden. Aber ich habe
am Leben nicht teilgenommen. Habe nur beobachtet, zugeschaut. Stand draußen vor der Tür und sah durch einen winzigen Spalt. Ich hatte nicht den Mut hereinzutreten. Mich auszuliefern. Ja zu sagen. Draußen vor der Tür steht man im Regen. Da wird man naß, aber nicht dreckig.

MÜLLER: Hast du uns auch beobachtet?

GRASBERG: Dazu fehlte mir der Kontakt. Sie hielt mich von dir fern. Dir konnte das nicht auffallen, weil du mich nicht wahrgenommen hast. Ich wollte das nicht ändern. Es hätte dir selbst auffallen müssen.

MÜLLER: Du schriebst die Briefe.

GRASBERG: Ich habe sie nicht abgeschickt.

MÜLLER: Aber du hast sie geschrieben.

GRASBERG: Möchtest du Tee?

MÜLLER: Ob ich Tee möchte. Es ist jetzt alles so anders. Du hast mich immer
gefragt, ob ich Tee möchte. Und nun reden wir miteinander. Die Dinge überschlagen sich. Ich weiß nicht was ich tun soll, was ich sagen soll.

GRASBERG: Wir müßten lernen zu sprechen.

MÜLLER: Müßten?

GRASBERG: Du kannst jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich habe die Tür
geöffnet. Ich liebe dich.

(draußen fällt ein Schuß. MÜLLER läuft hinaus. Kommt wieder herein.)

MÜLLER: Er hat sich erschoßen. Die Kugel durch den Kopf.

GRASBERG: Und nun?

MÜLLER: Laß uns gehen.

BLACK.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. Die Rechte der Aufführung liegen bis auf weiteres beim Autor. Dieser Text gilt bis zum Tage der Uraufführung als nicht veröffentlicht im Sinne des Urheberrechtsgesetzes.

2 Antworten auf „WEINEN UM LUCIE“

  1. Hallo Jens,

    wow! Ist das Dein Theaterstück? Vor 16 Jahren geschrieben, mit so einer Intensität !!!! Wie soll ich es beschreiben? Das ist nicht nur Theater, Schauspiel, nein, Auseinandersetzung mit dem Leben. Klasse! Herr Jens Schönlau, ich verneige mich und staune.

    Sonnigste Grüße

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      jetzt sind es schon zwei. Ja, beide von mir. Eine Ewigkeit her. Da hatte ich noch keine Kinder und kein Haus und keinen Hund und keinen Kombi:) Viel Raum für Gedanken, Auseinandersetzung. Damals.

      Liebe Grüße

      Jens

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