Schneefrei im fiftyfiftyblog.


Gestern hörte ich im Radio, dass heute Nacht Schnee aus Russland herüberwehen würde. Klar, dachte ich. Schnee. Die Frau vom Wetterdienst klang zwar ziemlich überzeugt und sagte „Im Siegerland schneit es in der späten Nacht.“ Da ich draußen die Wildgänse zurückkommen sah, konnte ich die Schneenummer nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Und dann: Alles weiß am Morgen. Zappa! Das Telefon klingelte, die Schulbusse würden eine Stunde später fahren. Morgentiming, minutiöser Zeitplan hinfällig. Eine Stunde später kam der Bus dann nicht. Wir warteten, wir warteten, meine Bloggingzeit schwand. Wir fuhren nach Hause, Cooper verlangte nach seiner Runde und jetzt wartet Arbeit. So kann’s gehen. Kein Blogbeitrag, nur ein düsteres Zweigefoto und mal wieder ein Sonnenaufgang – dieses Mal im Maikäfertal, gestern. Schönen Schneetag euch:)

Projekt Elaine 14

Am nächsten Morgen brannte der Scheinwerfer noch. Im Zimmer roch es nach Ölfarbe. Es war dunkel, früh am Morgen, kein Vogel krähte oder zwitscherte. Cat fragte sich oft, wo und wie Vögel im Winter wohl schlafen. Mit der Kälte, dem Frost umgehen. Nur mit so ein paar Federn bekleidet. Manchmal taten sie ihr leid, vor allem die kleinen. In der Nacht hatte sie unruhig geschlafen, wirr geträumt, gleichzeitig schön und schrecklich. Ihre Seele, ihr Geist hatte sich ausgetobt und für Cat ungewöhnliche Szenen und Bilder in den Raum geworfen. Sie war verunsichert, überrascht. Ein Blick auf ihr Wandbild genügte als Erklärung. Wenn sich etwas löst, reißt es vieles mit sich. Manchmal staut sich etwas und bricht sich zum richtigen oder falschen Zeitpunkt seine Bahn. Unvorhergesehen. Cat stand auf, schaltete den Scheinwerfer aus und berührte mit der Spitze ihres Zeigefingers das Werk, um zu sehen, zu spüren, ob es real ist, ob die Farbe getrocknet ist und nicht abblättert, einfach abfällt von der Wand, vom Grund des Bildes. Sie zog sich an, schnappte sich ihre Tasche, schlich in die Küche, goss sich einen Kaffee auf, trank ihn langsam und dachte an Sue. Dieses Gefühl, diese Sehnsucht war wieder da. Sie wollte zu ihr, wollte, dass sie wieder da ist, wollte sich entschuldigen und eine Entschuldigung hören. Sie würde sich bewegen müssen, in jedem Fall. Sie konnte nicht klar denken, konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte Angst, einen Fehler gemacht zu haben und mit einem Satz eine Freundin, die Freundin verloren zu haben. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit Streitsituationen. Sie hatte Neuland betreten. Ihrer Mutter wollte sie sich nicht anvertrauen, weshalb, wusste sie selbst nicht genau.

Als ihr Jérôme einfiel, wer sonst, stieß sie die Tasse um. Im gleichen Augenblick des aufkommenden Gedankens hatte sie auch schon ihre Tasche greifen wollen. Der Kaffee sickerte in die weiße Tischdecke, wurde aufgesogen. Cat sah kurz ein Muster, dachte an ihr Wandbild, an Formen, die in jedem Augenblick ganz natürlich entstehen. Egal. Sie musste zu Jérôme, musste ihn um Hilfe bitten, mit ihm sprechen, ihn fragen, löchern, aushorchen. Mit Sicherheit hatte er mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen und Freunden. Sie rief ihn nicht an, sondern lief einfach los. Den Fluss entlang durch den Park bis in die Innenstadt. Er würde noch schlafen in seiner Wohnung über dem Laden, die eigentlich nur ein Zimmer mit Klo und Kochnische war. Jérôme war vor zwei Jahren aus Brüssel hergekommen, um im Antiquariat seines Onkels zu arbeiten. Seine Eltern hatten ihn hergeschickt, nachdem er sich parallel zum Studium „einige Dummheiten erlaubt hatte“. So lautete die offizielle Version, die Cat von ihm und seinem Onkel gehört hatte. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen, weil Jérôme weder so aussah, als würde er irgendwelche Dummheiten begehen noch verriet irgendetwas anderes an ihm eine Neigung dazu. Er sprach gut deutsch, obwohl sie sein Französisch lieber mochte und wirkte auf sie französisch. Meist trug er Hemden und darüber feine Wollpullover in Unifarben, unter den Hüftjeans lugten Chucks hervor. Ein gleichsam cooler und feiner Typ, einer, der nicht viel brauchte, um wahrgenommen zu werden. Als sie ihn das erste Mal sah, räumte er Bücher aus einem Karton in ein Regal. Sie war in den Laden gekommen, um nach neuen gebrauchten Kunstbänden zu sehen. Der Großteil ihres Taschengeldes landete hier. Ihre Garderobe zahlte ihre Mutter, Geld für Cafés, Kneipen oder Discos hatte sie bislang nicht gebraucht. Jérôme schaute sie über einen Buchrücken hinweg an. Dieses erste Bild hatte sich ihr eingeprägt. Die kurzen braunen Locken, die braunen Augen, die das Lächeln in seinem Gesicht verrieten. Sie hatte zurückgelächelt und sich über sein „Salut“ gefreut. Als sie im Regal der Kunstbände stöberte, kam er zu ihr. Mit leichtem französischem Akzent fragte er sie, ob er ihr helfen könne. „Kennst du dich mit Kunst aus?“ „Ja, ein wenig. Ich habe in Brüssel zwei Semester Kunstgeschichte studiert. An der Université libre de Bruxelles.“ Cat hatte zuvor nie von der Université libre de Bruxelles gehört, empfand den Klang aber als exotisch. Als habe er in einer fernen Welt gelebt, studiert. Tatsächlich kam ihr Brüssel so weit weg vor, als habe er Chicago gesagt. Oder Hongkong. „Kennst du dich auch mit zeitgenössischer Kunst aus?“, hatte sie ihn gefragt. Die beiden kamen ins Gespräch, glichen ihren Wissenstand ab und hatten sich gegenseitig überrascht. Irgendwann brachte ihnen Paul, Jérômes Onkel, eine Kanne mit Tee und Gebäck. „Jetzt steht ihr hier schon zwei Stunden und redet und redet und redet. Ich werde nie verstehen, was es mit dieser Kunst auf sich hat. Beuys, Fettecken, Rauschenberg, Lichtenstein, Warhol. Herrje, als hätte die Welt nichts anderes zu tun, als sich mit Abstraktionen auseinanderzusetzen. Fräulein Catherine, ich bin einfach immer froh, wenn sie diese unchristlichen Bücher mit sich nehmen. Sie befreien mich, nehmen mir eine Last von der Schulter. Ja, qui, es ist eine gute Tat, die sie da Woche für Woche vollbringen. Das kann ich ihnen sagen. Und nun setzt euch, der Mensch muss auch mal dem Körper etwas Nahrung zuführen. Heute wollen alle so dürr sein. Sehen sie sich Jérôme an. Eine Katastrophe. Das soll ein junger Mann sein? Ah.“ Cat lächelte, bedankte sich und setzte sich artig an den kleinen Besuchertisch vorne direkt hinter der großen Scheibe des Schaufensters. Jérôme ließ sich noch auf ein kleines Scharmützel mit seinem Onkel ein, betonte, sowohl Shakespeare als auch Sartre und sowieso dieser Foucault seien überbewertet. Vollkommen überbewertet. Paul winkte ab, wusste die Retourkutsche des Neffen zu parieren. Seit diesem ersten Aufeinadertreffen war Jérôme ihr wichtigster Gesprächspartner geworden. Viele ihrer Bildbände hatte er für sie besorgt. Aus Nachlässen, über das Internet, auf Flohmärkten, die er mit Paul am Wochenende auf der Suche nach neuer, alter Ware besuchte. Für Cat war das Auftauchen von Jérôme ein Glücksfall gewesen. Sie wusste nicht genau, was er für sie war. Bücherverkäufer, Freund, Geliebter. Manchmal war sie in ihn verliebt. Nach Treffen mit ihm ging sie tänzelnd nach Hause. Dann wieder vergaß sie ihn, verlor ihn vorübergehend aus dem Blick, zog sich in sich zurück und tauchte erst nach Wochen wieder im Laden auf. Einmal hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen. Es war eine förmliche Einladung. „Mademoiselle Catherine, darf ich sie morgen Nachmittag auf einen Kaffee und Kuchen einladen? In das Café am Markt? Es würde mich sehr freuen.“ Cat hatte lachen müssen. „Machen das Franzosen so? Werden sie dann immer so förmlich?“ Jérôme hatte den tief Getroffenen gespielt. „Sie haben mich einen Franzosen genannt. Mon Dieu. Belgique, das Land meiner Väter. Und Mütter, ja, die auch.“ Cat hatte sich mit einem Lachen entschuldigt und die Einladung angenommen. Sie hatten den ganzen Nachmittag im Café am Markt gesessen und über Kunst und Brüssel gesprochen. Zu mehr war es nicht gekommen. Kein Verlangen, keine Leidenschaft, keine sehnsüchtige Liebe. Sie hatten es versucht, es war nicht entstanden. Aber sie waren eine Art Freunde geworden. Bücherfreunde.

Cat stürmte die schmale Metalltreppe am Laden aus rotem Backstein hinauf und klopfte an die Tür. Jérôme öffnete die Tür, sah ihr verschlafen mit abstehenden Locken, schmalen Augen und in Boxershorts ins Gesicht. „Was machst du hier? Es ist noch dunkel.“ Cat ging ohne zu antworten ins Zimmer. Sie war vorher noch nie in der Wohnung gewesen, wusste nur aus Erzählungen, dass er hier oben über dem Laden wohnte. Sie ging zur Küchenzeile und setzte Kaffee auf, während Jérôme seine Klamotten zusammensuchte, sich anzog und ganz allmählich wach wurde. Er zog sein Bett glatt, warf die Tagesdecke über und setzte sich. Cat gab ihm eine Tasse Kaffee, nahm sich auch eine und setzte sich neben ihn. „Ich brauche deine Hilfe, deinen Rat.“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, versuchte ihm Sue begreiflich zu machen und überschlug sich dabei in ihren Ausführungen. „Du möchtest sie nicht verlieren. Das ist es, was du mir sagen möchtest?“ Cat nickte. „Gut. Zwar kenne ich deine Sue nicht, aber da sie gerne in deinen Bildbänden blättert, hätte ich da ein Geschenk, das du ihr machen könntest. Habe ich am Wochenende entdeckt und eigentlich für dich zur Seite gelegt. Schenk es ihr. Geh zur Schule, setz dich neben sie und schieb es ihr rüber. Sie wird es verstehen und lächeln oder nicht verstehen und dann hakst du sie einfach ab. Wir gehen runter, ich geb’s dir.“ Jérôme schloss den Laden auf, suchte das Buch raus und gab es Cat. „Ich schenke es dir, damit du es verschenken kannst. Ein Freundschaftsdienst, sozusagen.“ Cats Augen wurden glasig. „Wie kann ich mich bei dir bedanken?“ Jérôme lächelte und hielt ihr die Wange hin. „Mademoiselle Catherine, in ihrem Fall bin ich mit einem kleinen Kuss auf die Wange fürstlich entlohnt.“ Cat küsste ihn, drückte ihn darüber hinaus, ging.

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine 11

Projekt Elaine 12

Projekt Elaine 13

So schön intensiv kann Schule sein.

Werte Leserinnen, werte Leser. Ich habe es mehrfach angedeutet, aber mich bislang nicht wirklich getraut, darüber zu schreiben. Fast ist es ein Outing, wüssten die meisten Menschen, die hier regelmäßig vorbeischneien, es nicht eh schon: Meine Kinder besuchen eine Waldorfschule. Ich schreibe das in diesem vorsichtigen Stile, weil diese Beichte in der Erfahrungswelt meiner Vergangenheit oft zu Beschimpfungen führte. Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das ich mir mittlerweile so erkläre: Es wird als Vorwurf verstanden. Als Abgrenzung zu den normal üblichen Schulen. Es entsteht eine Verteidigungshaltung, weil, so glaube ich, das Gefühl aufkommt, die eigene Wahl einer staatlichen Schule würde durch die Wahl einer Freien Waldorfschule kritisiert. Hinterfragt.

Deshalb gehe ich dem Thema aus dem Weg und sage anderen Menschen im persönlichen Gespräch nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass meine Kinder eine andere Schule besuchen. Darauf folgt die Frage: Ach ja, welche denn? Dann sage ich es und sehe ein Zucken. Als hätte ich eine moralische Verurteilung ausgesprochen. Ich möchte niemanden verurteilen. Ich möchte mich auch nicht über irgendjemanden stellen. Ich möchte auch niemandes Schulwahl bewerten oder gar verurteilen. Ich möchte nur meine Kinder auf die Schule schicken, die ich für passend empfinde. Passend für sie, für uns.

Heute nun schreibe ich über die Waldorfschule, weil ich ein sehr schönes, bewegendes, intensives Erlebnis hatte. Am letzten Wochenende war der Termin der öffentlichen Vorträge der achten Klasse. Es gehört zum Waldorflehrplan in diesem Schuljahr, eine Biographiearbeit zu schreiben. Der Sinn und Zweck ist es, dem besonderen Lebensalter von 14 Jahren ein besonderes Erlebnis, eine besondere Herausforderung, eine besondere Erinnerung zu geben. Mit 14 wird die Verabschiedung der Kindheit eingeläutet – aus Kindern werden Pubertierende, Erwachsene. An dieser Nahstelle persönlicher Entwicklung ist die Biographiearbeit eine Art Orientierungshilfe.

Die Schüler/innen haben sich im Herbst einen Menschen gesucht, mit dessen Leben sie sich beschäftigten wollten. Jim hat Marie Curie gewählt. Andere Barack Obama, Udo Lindenberg, Walter Röhrl, Anne Frank, Gustav Gründgens, Brigitte Bardot…
Nach den Herbstferien haben die Schüler/innen einen Zeitplan für sich erarbeitet – Recherche, das Schreiben der Arbeit, Entwicklung eines praktischen Teils, Vorbereitung des öffentlichen Vortrags. Zwar haben die in den letzten Jahren mehrere Referate geschrieben und gehalten, aber keines von einem solchen Umfang. Rund 15 DIN A4-Seiten. Abgabetermin war Anfang Februar, die 15-minütigen Vorträge wurden dann letzten Freitag und Samstag gehalten (38 x 15 Minuten!). Im großen Eurythmiesaal. Die praktischen Arbeiten wurden im Mehrzweckraum präsentiert. Jim zeigte ein großes Foto von Marie Curie in ihrem Labor und ein selbst gefertigtes Atommodell (etwa 60 cm hoch) des Elementes Radium, das Marie Curie entdeckt hat. Dafür und für die Entdeckung des Poloniums erhielt sie jeweils einen Nobelpreis. Als erste Frau.

Ich war ziemlich überrascht, als mir Jim sein Radium-Modell erklärt hat. Er war tief eingestiegen in die Materie. Sprach von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung, von Helium4-Kernen, von ionisierender Strahlung, Neutronen, Protonen, Elektronen. Er war so fasziniert und ergriffen. Parallel ließ er auf seinem Laptop eine Powerpointpräsentation mit Fotos und den wichtigsten Stationen der Forscherin ablaufen. Am intensivsten jedoch waren die Vorträge. Es gab eine Bühne mit einem großen Rednerpult. Hier standen die Vortragenden und sprachen fünfzehn Minuten vor über 100 Menschen. Mit 14 Jahren. Sie hatten zu zeigen, was sie über den Menschen, mit dem sie sich beschäftigt hatten, herausgefunden haben. Was da vom Rednerpult herunter kam, war beeindruckend. Meist verschwand nach den ersten Sätzen die Aufregung und Begeisterung für das Thema brach heraus.

Für die Schüler/innen war es ein Sprung ins kalte Wasser. Die hatten richtig Schiss. Verständlich, hätte ich auch gehabt. Aber, sie haben es alle gemacht. Und sie haben sich alle gegenseitig zugehört und so die Biographien von 38 Menschen kennengelernt. Haben Höfen und Tiefen menschlichen Seins erlebt, haben gehört und gesehen, wie es im Leben laufen kann. Besonders eindrucksvoll war die Präsentation eines jungen Mannes, der sich Johnny Cash vorgenommen hat. Der Saal hing an seinen Lippen, es war magisch. Am Ende sang er einen Johnny Cash Song. Den aus dem Gefängnis. St. Quentin. Er sang, spielte Gitarre und ließ sich durch seinen Bruder auf der E-Gitarre begleiten. Wunderbar. Ein Stück sichtbar gewordene Menschwerdung. Das Reifen, Formen, Festigen von Persönlichkeit.

Als Jim seinen Vortrag nahezu ohne einen Blick auf sein Konzeptpapier gehalten hatte, war ich ziemlich ergriffen. Ich weiß noch, als ich ihn nach der Geburt im Arm hielt. Und nun stand er da oben und sprach, als habe er nie etwas anderes gemacht. Mächtig stolz war ich und froh, dass er diese Schule besucht, die ihm diese Möglichkeiten der Wegfindung bietet. Im nächsten Monat wird die Klasse das Theaterstück Die Welle einstudieren. Wieder werden sie an ihre Grenzen gehen und Ängste überwinden müssen. Alle haben eine Rolle. Auch der Mathefreak muss raus auf die Bühne. Jim wird den Lehrer spielen, der sich verleiten lässt und verleitet. Zu unguten Dingen. Dieses Mal werden mehrere hundert Menschen im großen Theatersaal sein und zusehen, wie sich Schüler/innen wieder einen Schritt weiter nach vorne in ihr eigenes Leben bewegen. Ausprobieren, erleben, erfühlen. Sehe ich am Ende der Schulzeit die jungen Menschen auf der Bühne, weiß ich, dass sie gut gerüstet sind. Das gibt mir ein gutes, schönes Gefühl, aus dem heraus mir dieser Text wichtig war.

Frieden 11

Mutters Picasso im Schlafzimmer neben dem Spiegel
Mädchen mit Taube, weiß
auf Spanplatte
Musterplatte meines Vaters
Rand gestrichen, weiß
– so sanft

Neben dem Foto
des Vaters meines Vaters
noch lächelnd
nach der Entnazifizierung
gestorben am Darmkrebs

Mein Sohn heute
in Köln
Ausflug der Klasse
ins Gestapogefängnis
Gedenkstätte
Entnazifizierung des Volkes Teil X
Lege meine Hand über deine Seele
sende dir Blumenduft und Rosenhauch
und eine starke Hand

Bilderstreit
Messehallen Köln
Ästhetik des Widerstands
danke Peter, Peter
Schmidt und Weiss
Guernica
Les Bombardements never ends

Danke Joseph
bist mir eine Stütze
Dürer, ich
führe per=
sönlich Baader+
+Meinhof
durch die
documenta
V

jens schönlau, februar 2011

Projekt Elaine 13

Wie sollte sie reagieren? Cat fühlte sich verraten, vor den Kopf gestoßen. In Momenten der Krise öffnet die Seele die Schotten, lässt alles passieren, die Vorurteile, gefärbten Erinnerungen, unschönen Konstruktionen. Die zu Anklagen formulierten Hypothesen, die sich wie junge Staatsanwälte auf ihre Gegenüber werfen, um ihnen die Klauen des Rechts, der Moral in die ungeschützten Flanken zu rammen. Die Farben ändern sich, aus Annahmen werden Gewissheiten. Cat legte sich ins Bett, sagte ihrer Mutter, sie sei krank, habe Fieber, eine Erkältung, Kopfschmerzen, ihre Tage und überhaupt. Ihre Mutter ließ sie. Brachte frischen Orangensaft, mundgerecht geschnittenes Obst, kümmerte sich, genoss es. Drei sorgfältig auf einen kleinen Teller dekorierte Zwiebacke dokumentierten den Status anerkannte Krankheit.

„Mama, kannst du mir aus dem Atelier Papier und einen Kohlestift mitbringen? Einen breiten für dicke Striche.“ Ihre Mutter stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie oft hatte sie versucht, Cat zum Malen zu bringen, sie in die Kunst einzuführen, in ihr Atelier einzuladen. Sie hatte es bereits aufgegeben, hatte sich mit der Enttäuschung abgefunden. Cat wollte die im Gegenlicht der tief stehenden Wintersonne schwarz gefärbten Zweige vor ihrem Fenster malen. Dieses dunkle Labyrinth, das ineinander lief, sich verhedderte, grelles Licht durch Öffnungen fielen ließ, das Schwarz an Überschneidungen in ein weit finstereres Schwarz verwandelte, das Himmel und Erde verband. Sie suchte eine Metapher, einen Ausweg. Ihren Gedanken glaubte sie nicht. Sie wollte Sue nicht verurteilen, ihr nichts Böses an den Hals wünschen, auch wenn die innere Stimme ihr das einzureden versuchte. Ihre Mutter freute sich still, brachte ihr eine große Unterlage, eine Auswahl an Papier und einen kompletten Kasten voller Kohlestifte und ließ Cat allein. Mit sich, ihren Fragen, ihrem Unmut, ihrer Enttäuschung, den Zeichenutensilien. Breite Striche zogen sich langsam über das Papier, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Zweigen draußen hatten. Cat war keine Zeichnerin, hatte Zeichnen nicht wirklich gelernt. Es half ihr. Als würden diese dunklen, breiten Linien direkt aus ihr heraus laufen, als hätte sie einen Graben nach draußen geschaffen. Aus den dunklen Straßen, den Zweigen, wurde ein Gesicht. Hilflos verfremdet, fern jeder Realität und doch intensiv. Sie zeichnete Sue, dachte an Sue, vermisste Sue. Schon jetzt, nach nur einem Tag. Vielleicht würde es besser. Sie wusste es nicht, konnte ihre Verworrenheit nicht einschätzen. Vielleicht würde sie die Sehnsucht verlassen, mit dem Kohlestaub auf dem Papier aus ihr heraus fließen. Sie sah Sue auf dem Sofa sitzen, ihr gegenüber. Sie kannte Sues Gesten, ihre Bewegungen, als hätte sie sie studiert, in sich aufgezeichnet. Sie musste lächeln und weinen, versuchte es neu und anders.

Sie ließ The Cure laufen, Sue hatte ihren Stick vergessen. War nach Cats Aufforderung aufgestanden und wortlos gegangen. Die Musik mischte sich mit den Sonnenstrahlen, die der helle Wintertag mit blauem Himmel in das Zimmer fallen ließ. An der Wand tanzten die Schatten der Zweige im leichten Winterwind. Cat musste lachen, um wie viel besser die Natur sich selbst zeichnen, lebendig inszenieren konnte. Sie legte ihre Suezeichnungen zur Seite, nahm einen breiten Kohlestift und bannte die Schatten auf die Wand um die Tür herum. Ein dickes Geflecht schwarzer Adern entstand. Immer wieder ging sie einige Schritte zurück und schaute, welche Zweige sie wollte und welche nicht. Sie stieg auf ihren Stuhl, führte die Linien in Bögen, fügte kleine Zweige ein. Mit Bedacht wählte sie kleine und große Äste, suchte nach einer Form, die mit wenigen Bögen und Linien eine Harmonie entstehen ließ, zugleich filigran und authentisch kraftvoll. Eine Krähe landete draußen im Baum, im Bild, schickte ein Krächzen hinein, der Flügelschlag des Davonfliegens zog sich als Schwarz-Weiß-Filmsequenz quer über die Wand. Zwischendurch schoben sich Wolken ins Bild, die den Schatten wegräumten, die Vorlage tilgten. Sie nahm sich einen großen Bogen, warf das bereits Entstandene als Skizze aufs Papier und probierte. Konzentrierte sich, versuchte in Kopfbildern, nahm das Konstrukt des Schattengeflechts in ihren Schädel. Die Gedanken an Sue verschwanden für einen Moment, Cat fühlte eine produktive Harmonie, fühlte sich ausgelastet, gut. Als würde sie mit jedem Kohlestrich auf Papier und Wand ein Stück weit Frieden schließen. Mit Sue und mit vielem mehr. Sie begann, ihre Welt zu gestalten, sich auszudrücken, eine Form zu finden, die ihr entsprach, die ihr Klarheit gab. Sie räumte den Schrank zur Seite, um Platz an der Wand zu schaffen. Sie lief ins Atelier, holte sich Pinsel und schwarze Ölfarbe. Ihre Mutter blieb im Hintergrund, beschäftigte sich in der Küche, obwohl sie darauf brannte zu sehen, was Cat in ihrem Zimmer veranstaltete. Sie sagte nichts, rührte sich nicht. Spürte den Moment, wollte nichts im Keim ersticken, es nicht vermasseln. Cat wusste nicht, wie sie mit Ölfarbe malen, umgehen sollte. Sie probierte aus. Langsam, drückte die Farbe auf ein Tellerchen, das ihre Mutter zum Mischen benutzte. Mit kleinen Pinseln zeichnete sie Kohlelinien nach. Schaute, wie die Farbe dicker wurde und Aststrukturen auf der Wand entstanden. Zur Decke und zu den Seitenwänden hielt sie Abstand. Ihr schwebte ein Ausschnitt vor, den sie in ihrer Vorstellung Zweig für Zweig komplettierte. Mittlerweile hatte sie die Grundzeichnung auf einen großen Papierbogen übertragen, auf dem sie Größenverhältnisse und Astpositionen zunächst mit Bleistiftlinien, die sie wegradieren konnte, und dann mit Kohlestrichen ausprobierte. Hatte sie einen Zweig gefunden, übertrug sie ihn mit Ölfarbe auf die Wand. Sie nahm sich Zeit, genoss die innere Ruhe, die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollte. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, dem Impuls, mit Farben zu arbeiten, nachzugeben, um Kontraste zu setzen, Blicke zu führen. Sie blieb beim Schwarz, der Nichtfarbe. Als die Sonne am Nachmittag unterging, lieh sie sich von ihrer Mutter einen Scheinwerfer aus dem Atelier. Sie verpasste das Abendbrot, hörte Sues Stick komplett durch, fühlte sich in ihr Bild an der Wand gezogen, in die Schatten und Zweige. Tief in der Nacht war ihr Bild, ihr Wandgemälde fertig. Gerne hätte sie Sue angerufen, hätte es ihr gezeigt. Sie legte sich in ihr Bett, schaute auf die vom Scheinwerfer angestrahlte Wand und war fast wieder gesund.