ESTONIA

Oktober 1996

 

Personen:

Der Geist

Inga Lang

Guy de Maupassant

Michel

 

Der Ort der Handlung ist ein Kai im New Yorker Hafen. Es ist dunkel und die Jahreszeit läßt die kommende Kälte des Winters erahnen. Die Atmosphäre ist ein wenig gespenstisch. Hafenlichter erzeugen Schatten, ein großer Hafenkran schwebt über der Szenerie, die Kaimauer fällt im Hintergrund steil ab, der Wind sorgt hier und dort für ein kleines Geräusch. Ein Summen, ein Pfeifen, ein Knistern. Irgendwo knarzt eine rostige Tür. Das Meer schlägt in leichten Wogen gegen die Kaimauer. Über allem liegt der orange-gräuliche Dunst der Stadt. Wolken ziehen und verändern das Licht. Mal hell, mal dunkel. Lichter von Flugzeugen kommen und verschwinden. – Über den Städten der Neuzeit gibt es keinen Himmel, keine Sterne. Nur der Mond hat dann und wann genügend Watt und Lux, sich ins Spiel der Technik einzumischen.

Guy und Michel, die ihre Abende und halbe Nächte an diesem Ort verbringen, haben sich eingerichtet. Zwei alte, verwitterte Stühle stehen herum, ein kleiner Tisch, ein Regenschutz, eine Fußbank, ein klappriges Regal, ein rostiges Fahrrad, ein Windschutz aus Wellblech und was einem sonst so einfällt. Es ist nicht gemütlich, dafür ist im Hafen kein Platz. Der Ort, an dem die beiden ihre Zeit im Hafen verbringen, ist eine vergessene, winklige Ecke, die nicht mehr gebraucht wird, weil sie für Gabelstapler zu eng ist. Eine typische Ecke für alte Besen, Schaufeln, Kisten, Kartons und Müll.

 

Prolog

Der Geist:    (Er trägt eine stilisierte Matrosenuniform. Irgendwie ist er Besatzungsmitglied auf Schiffen die dem Untergang geweiht sein könnten. Manchmal schafft er es sein Teufelswerk zu verrichten, dann ist er glücklich und in ausgelassener Stimmung. Manchmal klappt es nicht, dann ist er zynisch depressiv und stürzt sich in Erinnerungen.)

Fuck. One year ago. And now? Tja, tja. Von Zeit zu Zeit bleibt Geistern nur die Langeweile. Schade. In jener Nacht lief mir der Sabber wohl aus allen Poren. Wie schön ist das Gefühl Gehässigkeit. Die Angst in ihren Augen, des Käptens schnelle Fahrt, die rasenden Motoren und Wellen die zum Himmel – stiegen. Stiegen. (Das Präteritum läuft angewidert zart über die Lippen.)

Fuck. Oh Geisternacht. Fuck. One year ago ist viel zu lang. Ich würde mich versetzen lassen, in eine andere Zone dieser Welt, doch bin ich nun einmal verfallen, dem Tod auf See, dem Untergang in stürm´scher Nacht. Tand. Tand. Von den Gemetzeln dieser Welt halt ich nicht viel, das ist TV und life dabei. Geteilte Freud ist halbe Freud. Doch jene Nacht ist ewige Erinnerung, ist Freudenquell und Geisternahrung.

Es war ein stiller Untergang, kein Kampf, kein Feuerschlag. Die Klappe riß aus der Verankerung, die Bolzen, zuvor im sich´ren Hafen von Menschen repariert, zerbrachen. Im Wassergrollen, Windewehn hört ich das Knacken, Krachen, Bersten jener frisch geschweißten Bolzen und konnt´s kaum fassen, glauben, hoffen. Mit Händen auf dem Kopf, im Haar, sah ich das Bugvisier sich krachend lösen, die Bolzen flogen durch die Luft, da hört ich Engel singen und wußt sofort, was nun geschieht. »Mayday«, klang die Stimme. »Mayday«. Im Zeichen der Waage – ich sah´s im Zeichen der Jungfrau – klang das wie: »Heirate mich. Nimm mich. Verführe mich. Sei zart und hart und treibe es bunt.« (Schlägt die Hände vors Gesicht. Reibt mit den Händen, sich die Vorstellung vor die Augen treibend, im Gesicht.) »Mayday.« (Lacht) Das war gut. Wie eine zarte Hand im Nacken.

Der Rest ist Zeitung. Ungehindert strömte das Wasser ins Autodeck. Das Schiff bekam Schräglage, kenterte, sank. 989 Menschen hatte die ESTONIA nach offiziellen Angaben an Bord. Nur 137 überlebten die Katastrophe. (zähneknirschend) Nur 137. Tja.

 

I. Akt

 

Inga:            Fuck. (Geht an der Kaimauer auf und ab.) Fuck.

 

Guy:            (Sitzt im Hintergrund. Spricht aus der Dunkelheit. Nur die Glut seiner        Zigarette ist zu sehen.)

 

Inga:            Fuck. So eine Scheiße. So eine verfluchte Scheiße.

Guy:            Schiff verpaßt?

Inga:            (Erschreckt sich. Will gehen. Es hält sie. Sie bleibt stehen.) Sieht so aus.  Na      und?

Guy:            Das war knapp.

Inga:            Ja.

Guy:            Das letzte Schiff ging vor drei Stunden, Mom.

Inga:            Das geht Sie nichts an. Scheren Sie sich um ihren eigenen Dreck. (Pause.)         Sie sind ein Schwarzer.

Guy:            Yes, Mom. An diesem Kai geht mich alles etwas an. (Pause.) Schwarz wie die Nacht. (Lacht.) Auf der Durchreise?

Inga:            (Ärgerlich.) Laß es mich so sagen, ich kann es nicht erwarten dieses Land           zu verlassen.

Guy:            Oh Mom, wir duzen uns.

Inga:            Ja, dann habe ich weniger Angst.

Guy:            Und wenn er kommt …

Inga:            … dann laufe ich.

Guy:            Weit weg.

Inga:            Ja.

Guy:            Wohin?

Inga:            Zurück nach Europa.

Guy:            Zurück. Die Länder der Dichter und Denker. Die Wiege der Zivilisation.

Inga:            Ich habe irgendwo gelesen, daß im klassischen Athen allesamt Päderasten   waren. Den lieben langen Tag nur Körperkult und Knabenbumsen.

Guy:            Oh.

Inga:            Was rede ich. Ist auch egal.

Guy:            Nein, Mom.

Inga:            Nennen Sie mich nicht Mom.

Guy:            Sondern?

Inga:            Ich möchte erst wissen, wie Sie heißen? Ich kann Sie in der Dunkelheit nicht sehen.

Guy:            Guy de Maupassant.

Inga:            Sehr erfreut. (Ruft in die Dunkelheit.) Ella Fitzgerald. (Lacht.)

Guy:            Zurück nach Europa. Ella.

Inga:            Mein Name ist Inga Lang.

Guy:            Schade. (Pause.) Es sind immer die Nettesten, die gehen.

Inga:            Fuck.

Guy:            Du läßt das Sternenbanner zurück, den Präsidenten, Vietnam.

Inga:            Ich denke, daß sie für Ausgleich sorgen werden.

Guy:            Weshalb gehst du?

Inga:            Als ich kam, da hatte ich ein Gefühl. Eine vage Hoffnung. Daß sich etwas           bewegt. Das ist dreiundzwanzig Jahre her.

Guy:            Rhythm. (Lacht.) Was haben sie, was wir nicht haben? Welche Fehler       machen wir, die sie nicht auch machen?

Inga:            Wir? Wer ist das? Ich weiß es nicht.

Guy:            Du und ich. Wir beiden, zum Beispiel.

Inga:            Scheiß Beispiel, Uncle Sam.

Guy:            Oh Ella, du bist hart geworden.

Inga:            Tun Sie nicht so, als würden Sie mich seit Ewigkeiten kennen. Ich habe diese Spiele satt. Verstehen Sie? Ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr spielen, ich will nicht, daß Sie spielen. Ich will weg. Ehrlichkeit, Klarheit, Tiefe. Die Dinge sollen etwas bedeuten. Der Schmerz soll einen  Grund haben. Außerdem will ich bessere Croissants essen, italienischen Wein in Italien trinken, den Eiffelturm sehen, ich will zu Faßbinder, zu   Foucault …

Guy:            Wer ist dieser Foucault?

Inga:            Ich habe es vergessen. Es ist alles weg. Sie sind alle tot. Als ich ging, lebten sie. Jetzt sind alle tot. Verfaulen mit ihren Ideen in irgendeiner Erde.

Guy:            Ja. Du hast es zu einer teuren Garderobe gebracht. Ella.

Inga:            Ozelot.

Guy:            Aus den Wäldern Südamerikas.

Inga:            Er lag unter dem Weihnachtsbaum.

Guy:            Und wuchs heran zur Konfektionsgröße 38.

Inga:            Sie schauen mir auf den Arsch. (Spürt seinen Blick.)

Guy:            Ich mag Ozelot. (Pause.) Welches Gefühl? Was sollte sich bewegen?

Inga:            Was soll das? Ich lasse mir nicht auf den Arsch glotzen. Geht´s um´s Fi….?

Guy:            Oh Mom.

Inga:            Sie sollen mich nicht Mom nennen.

Guy:            Am Morgen geht ein Schiff über den Atlantik. Die Queen Elisabeth 2 ist             in fünf Tagen in Southampton. England. Wenn noch ´ne Kabine frei ist.

Inga:            Jetzt brauche ich ein Schiff. Jetzt. Was nützt mir die Queen Elisabeth am            Morgen. Wer weiß, wie die Welt am Morgen aussieht. Ich habe mich  entschieden zu gehen. Jetzt zu gehen. Keine Sekunde mehr zu warten. Es   hinter mir zu lassen. (Schreit ihn an.) Ich will es nicht mehr. (Stampft mit dem Fuß auf die Erde. Wird leiser.) Ich will es nicht mehr. Fuck.

Guy:            Sollte das auch auf den Ozelot zutreffen, dann könntest du ihn mir geben.

Inga:            Ich. Ich scheiße auf den Ozelot.

Guy:            Das solltest du nicht.

Inga:            (leise.) Er ist warm. Kuschelig. Dagegen kann man sich nicht wehren.

Guy:            Du solltest deine Vergangenheit nicht wegwerfen. Trink einen Schluck                 Kaffee.

Inga:            Kaffee?

Guy:            Wenn ich hierher komme, habe ich immer Kaffee dabei. In der                 Thermosflasche. Wie die Hafenarbeiter.

Inga:            Schwarz?

Guy:            Blond und süß, so wie er sein muß. (Pause. Spricht entschuldigend.) Sagen die Hafenarbeiter. (Schenkt Kaffee ein und reicht ihn ihr. Sie kommt näher und nimmt vorsichtig die Tasse.)

Inga:            Sie kennen sich aus.

Guy:            Mit Vergangenheiten.

Inga:            Ich habe Ihnen nichts zu erzählen. Sie scheinen auf Menschen zu warten, in          deren Leben Sie rumpopeln können.

Guy:            Oh Ella. Mich interessieren nur die Schiffe. Nur der Schiffe wegen sitz´ ich          hier. Der Schiffe wegen.

Inga:            Mein Name ist Inga Lang.

Guy:            Ella ist besser. Ella, ich weiß nicht, ist näher dran.

Inga:            Wo dran.

Guy:            An dir, Lady. An mir.

Inga:            Wie Sie wollen. Ich gehe sowieso gleich.

Guy:            Ja.

Inga:            Weshalb sitzen Sie hier?

Guy:            Der Schiffe wegen.

Inga:            Die ganze Nacht?

Guy:            Ein – zwei Stunden. Je nach Schiff.

Inga:            Sie sehen alle gleich aus.

Guy:            Alle gleich. Du hast in deinem Leben nicht viel gelernt, Ella.

Inga:            Sie fangen an Unsinn zu reden. Woher wollen Sie wissen, was ich gelernt            habe und was nicht. Vielleicht können Sie ein Schiff anschauen und wissen   sofort, mit wem Sie es zu tun haben. Mit Menschen scheinen Sie nicht soviel Erfahrung zu haben, sonst würden Sie nicht solchen Unsinn reden.

Guy:            Der Vollmond drückt uns auf die Erde. Das macht uns klein, Ella.

Inga:            Mich nicht. Ich lebe auf, strecke die Arme in den Himmel. Da ist Platz.

Guy:            Neben Raumstationen, Satelliten, Atmosphärenmüll.

Inga:            Ich hätte nicht gedacht, daß Sie zynisch sind. Was ist ihnen geschehen, daß Sie hierher kommen und sich Schiffe ansehen.

Guy:            Vielleicht sind Schiffe besser als Menschen.

Inga:            Fragen Sie mal die Passagiere der Titanic.

Guy:            Wer ist hier zynisch?

Inga:            Das kann doch nicht Ihr ernst sein. Na los, was ist passiert? Hat Sie Ihre             Frau verlassen, haben Sie AIDS, Job verloren, midlife-crise …

Guy:            Du solltest Bücher schreiben.

Inga:            Ich habe Bücher geschrieben.

Guy:            Oh. Volltreffer. Liebesromane?

Inga:            Nein, keine Liebesromane.

Guy:            Schade, ich mag Liebesromane.

Inga:            Mögen Sie Romeo und Julia?

Guy:            Shakespeare. Der große Shakespeare …

Inga:            Am Ende sind beide tot. Aus Liebe und wegen eines Irrtums. Sehr                      tragisch. Ich habe es als Ballett gesehen. In einem kleinen Theater. Am Ende habe ich geweint. Beide lagen da, die Hände nicht weit voneinander entfernt. Sie hätten sich kriegen können. Wie dieses junge Paar in Sarajevo. Und Sie schauen sich Schiffe an.

Guy:            Vielleicht ist genau das der Grund.

Inga:            Sie schauen sich Schiffe an, weil Sie es nicht ertragen?

Guy:            Noch Kaffee?

Inga:            Ich habe Sie etwas gefragt.

Guy:            Und ich habe dich etwas gefragt.

Inga:            Ja, Kaffee. Danke. (Geht zu ihm, er schenkt ein.)

Guy:            Schiffe sind. (Pause.) Sie haben keinen festen Hafen, ziehen ihre Bahn von         hier nach dort. Sie stinken, stöhnen, mühen sich. Finden keine Ruhe. Das Meer nagt an ihnen. In ihren Bäuchen sabbert Öl, Diesel und Schmiere. Sie sind oft nicht einmal schön anzusehen. Verrottet, ungepflegt, die Farben verblaßt. Aber sie haben ihre eigene Geschichte, ihre Eigenheiten. Die     Maschinen laufen in ihrem eigenen Rhythmus. Unruhig. Daf-Daf-Daf-BaDaf-Daf-Daf … Sie wachsen einem ans Herz. Von weitem höre ich sie kommen und ihr Schnaufen verrät mir ihre Namen. (Pause.) Ich war Boxer.

Inga:            Und einer hat ihnen die Birne weich geklopft und Sie kriegen keine Rente.

Guy:            So ähnlich wird´s gewesen sein. Du scheinst für deinen Ozelot ja nicht die           Birne hingehalten zu haben.

Inga:            Ach ja, sondern?

Guy:            Laß gut sein, Ella. Laß gut sein.

Inga:            Nein, ich lasse es nicht gut sein. Ich lasse mir von einem alten, schwarzen           Trottel nicht erzählen, ich hätte mir meinen Ozelot zusammengefickt.  Klar? (Pause.) Was bilden Sie sich ein? Weil ich eine Frau bin? Beine breit durch´s Leben? Wie naiv und verkalkt sind Sie?

Guy:            Ich habe es nicht so gemeint.

Inga:            Sondern?

Guy:            Du solltest jetzt gehen.

Inga:            Ich warte auf mein Schiff. Und wenn es die ganze Nacht dauert. Sie können gerne gehen.

Guy:            Ist ´ne finst´re Gegend hier.

Inga:            Ja, finstere Gestalten in dunklen Ecken.

Guy:            Ich kann nicht die ganze Nacht auf dich aufpassen.

Inga:            Habe ich darum gebeten?

Guy:            Nein, das würdest du wohl auch nicht tun.

Inga:            Weshalb duzen Sie mich?

Guy:            Ist näher dran.

Inga:            Es klingt, als wären Sie mein Vater.

Guy:            Der könnte ich sein. Zumindest sind wir Brüder. Schwestern. O.K.?

Inga:            Mein Vater war Postbote in einem schwäbischen Dorf. Nachdem ich       gegangen war, habe ich ihn nie wieder gesehen.

Guy:            Es gibt Fehler, die macht man nur einmal.

Inga:            Er hat mich nicht einmal mit ins Postamt genommen. Arbeit ist Arbeit.

Guy:            Meine Kinder haben mich auch niemals boxen sehen.

Inga:            Aber ich habe ihn gesehen. Die Straßen entlang laufend, von Briefkasten            zu Briefkasten. Guten Morgen Frau X, Guten Morgen Frau Y. Ich fand es        widerlich.

Guy:            Vielleicht war es einfach sein verdammter Job `Guten Morgen´ zu sagen.

Inga:            Es ist egal. Es ist lange her. Außerdem ist er tot.

(Im Hintergrund kommt eine dunkle Gestalt. Mit Hut und weitem Wollmantel.)

 

Michel:         Guy?

Guy:            Bon soir.

Michel:         Bon soir. Du hast Besuch?

Guy:            Sie hat ihr Schiff verpaßt.

Michel:         So? Das letzte ging vor 3 Stunden. Ich habe das Signal gehört.

Guy:            Ja Michel. Madame will nach Europa.

Michel:         (zu Inga) Nach Europa?

Inga:            Da komme ich her. Aus Deutschland. Ehemals West-Deutschland. Goethe,         Schiller, Hölderlin, Büchner, Heine, Rosa Luxemburg, Steffi Graf. Kennen        Sie die?

Michel:         Madame hat Humor. Als junger Mann las ich den Werther. Am Fenster     stehend zieht das Gewitter auf und er sagt `Klopstock´. Mehr nicht. Hören Sie, er sagte nur `Klopstock´. Diese Deutschen.

Inga:            Mögen Sie sie nicht?

Michel:         Madame, glauben Sie tatsächlich, daß man ein ganzes Volk nicht mögen            kann.

Inga:            Natürlich nicht. Man sagt es so.

Guy:            Er redet dich an die Wand Ella. Zeig´s ihm. Los.

Inga:            Halten Sie sich raus. Zumindest scheint ihr Freund mehr Niveau zu haben            als Sie. Verstehen Sie. Niveau. Freundlichkeit. Respekt. Bildung.

Michel:         Der Mensch braucht keine Bildung. Einen Sinn braucht er. Etwas zu essen.         Wärme. Aufgehoben sein. Freunde und einen Arzt wenn es sonst nicht mehr geht. Mehr nicht.

Guy:            Sie trägt einen Ozelot, Michel.

Michel:         Laß Sie in Ruhe.

Inga:            Danke.

Michel:         Der wärmt sicherlich.

Inga:            Ja. Er hält mich warm. Es ist ein schönes Gefühl ihn zu tragen. Ein Gefühl,          das ich mag.

Michel:         Weshalb gehen Sie, Ella?

Inga:            Mein Name ist Inga Lang. Ihr Freund Guy de Maupassant (verneigt sich wie ein spanischer Edelmann) gab sich die Ehre mich Ella zu nennen. Er sagte, es sei näher dran.

Michel:         Er hat recht.

Inga:            So ein Unsinn. (Pause) Weshalb?

Michel:         Ich weiß nicht, Ella ist irgendwie näher dran.

Inga:            Dann sind Sie sich ja einig. Sie sind ja auch beide schwarz.

Guy:            Volltreffer.

Michel:         Aber er ist Amerikaner. Zumindest ist er hier geboren.

Inga:            Und Sie?

Michel:         Ich stamme aus Marokko. Casablanca.

Inga:            Ich kenne den Film.

Guy:            Aber du nimmst das Schiff.

Inga:            Man hat mehr Zeit.

 

Michel:         Wofür?

Inga:            Anzukommen.

Michel:         Sie werden in Ihrem Land fremd sein.

Inga:            Ich bin auch hier fremd.

Guy:            Du kennst deinen Bäcker, deinen Friseur, deinen Pizza-Lieferanten,         Kollegen. Kinder aus der Nachbarschaft. Guy de Maupassant.

Michel:         Leben Sie allein?

Inga:            Moment mal. Seid ich hier bin werde ich systematisch ausgequetscht.     Was geht Sie das alles an.

Guy:            Nichts.

Michel:         Nichts.

Inga:            So. Aber trotzdem fragen Sie. Menschen scheinen doch interessanter zu             sein als Schiffe.

Michel:         Wie man´s nimmt.

Inga:            Weshalb verbringen Sie ihre Zeit hier im Hafen?

Michel:         Guy ist hier, und die Schiffe sind auch hier. Manchmal kommen einsame Menschen. Mit Sehnsucht nach der Ferne. Mit Hoffnungen auf ein neues, auf ein anderes Leben. Die Dinge, die hier im Hafen passieren haben immer etwas mit Veränderung zu tun. Mit Bewegung. Ankommen und wieder gehen. Ich bleibe hier. Sehe zu. Das gibt mir eine unendliche Ruhe. Und Sicherheit. Ich sitze hier, es geschieht etwas und ich sehe dem Geschehen nur zu. Mehr nicht. Es läßt mich in Ruhe. Greift nicht nach mir, nicht in mich herein. Es macht mich nicht dreckig. Ich trinke Kaffee mit Guy. Das ist alles.

Inga:            Macht es Sie glücklich?

Guy:            Mich macht es glücklich.

Michel:         Manchmal.

Inga:            Reicht es?

Michel:         Nun, ich bleibe.

Guy:            Moment mal. (Zitiert spöttisch.)”Ich trinke Kaffe mit Guy. Das ist alles.” Reicht das nicht ?

Inga:            Das hat er nicht gesagt.

Guy:            Ich spreche mit ihm.

Michel:         Was soll das Guy?

Guy:            Gefällt es dir nicht mehr, hier zu sitzen, Kaffee zu trinken.

Michel:         Es gibt schönere Orte.

Guy:            Natürlich gibt es schönere Orte. Aber gibt es bessere?

Michel:         Du weißt, daß ich dich liebe.

Guy:            (Zu Inga Lang. Ernst.) Es wäre besser, Sie hätten das Schiff bekommen.

Inga:            Ach, jetzt bin ich schuld an den Zweifeln ihres Freundes.

Michel:         Ich zweifle nicht.

Guy:            Sondern?

Michel:         Ich habe es manchmal einfach satt. Mehr nicht.

Guy:            (Springt auf, fährt sich durch die Haare. Wird lauter.) Was hast du satt?

Michel:         Das hat nichts mit dir zu tun.

Guy:            Mit ihr?

Michel:        Guy. Du kannst mir vertrauen.

Guy:            Vertrauen? Wenn du zweifelst.

Michel:         Ich zweifle nicht. Nur manchmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob es einen            Sinn hat am Kai zu sitzen, auf die Schiffe zu glotzen und doch immer hier        zu bleiben. Immer sind wir es, die zurückbleiben. Wir machen uns was   vor.

Guy:            Das ist nicht wahr.

Inga:            Rührend.

Guy:            Sag es.

Michel:         Was haben wir schon gesehen?

Guy:            Was hat Sie schon gesehen?

Michel:         Laß´ Sie da raus.

Guy:            Sie soll abhauen.

Inga:            Ich lebe, du lebst, er sie es lebt in einem freien Land. Jeder kann tun und            lassen was er will. Wo er will. (Wird lauter.) Sagen Sie mir nicht, ich solle abhauen. Morgen früh bin ich weg. Dann können Sie hier alleine vor sich  hinschimmeln.

Michel:         Er meint es nicht so.

Inga:            Wie meint er es dann?

Guy:            Er, er.

Michel:         Guy.

Guy:            Du kommst mir vor wie ´ne Schwuchtel.

Michel:         Hör zu.

Guy:            (Fällt ihm ins Wort.) Wie ´ne Schwuchtel.

Michel:         Du willst nicht zuhören.

Guy:            Ich will deinen Scheiß nicht hören.

Michel:         Ich würde Europa liebend gern einmal sehen.

Guy:            Du bist in New York. – Was soll´s da schon geben. Ist doch alles eins.    Dann bist du drüben und alles ist Scheiße. Lohnt doch nicht den Weg. Europa. Hier ist New York City, der Nabel der Welt. Burning life.

Michel:         Du willst es nicht verstehen. Das ist es. Du bist einfach stur. Wie oft       haben wir hier gesessen und haben Reisen geplant. Reisen in die ganze           Welt.

Guy:            Das war anders. Du hast es kaputt gemacht.

Michel:         Nichts habe ich.

Guy:            Nenn mir ein Land, in dem wir noch nicht waren, das wir noch nicht          gesehen haben. Die vielen Länder. Die schönen Menschen. Wälder. Ebenen. Flüsse. Der Titicacasee. Wir haben eine Woche gelacht. Über das Wort. Aserbaidschan. Nepal. Die Kapverdischen Inseln. Und Neapel.

Michel:         Neapel ist überbevölkert.

Guy:            Die sind da genau richtig.

Michel:         Ohne Bad. Die Wäsche in den Gassen.

Guy:            Da ist Leben. Die Alten sitzen auf der Straße und gehen zur Kirche. Die   beten.

Michel:         Nicht wirklich.

Guy:            Was soll das heissen?

Michel:         Die Neapolitaner beten nicht wirklich. Eigentlich sind sie dekadente         Römer. Beten ist für sie ein Spiel mit dem Schicksal.

Inga:            So ein Quatsch.

Guy:            Was weißt du? Laß ihn reden.

Michel:         Schon gut.

Guy:            Michel, hör nicht auf zu reden.

Michel:         Guy, hier ist New York.

Guy:            Fuck. New York ist überall.

Inga:            (zu Michel) Kommen Sie mit mir nach Europa. Ich habe genügend Geld für          einen langen Sommer.

Guy:            Geld, ist es das?

Michel:         Verdammt nochmal, nein.

Inga:            Sie kommen nicht mit?

Guy:            Hat er nicht gesagt.

Inga:            Er sagte „nein“.

Guy:            „Verdammt nochmal, nein“ hat er gesagt.

Inga:            Und das bedeutet?

Guy:            Scher dich zum Teufel.

(Ella dreht sich um. Will gehen.)

Michel:         Bleiben Sie. Wir sind noch nicht durch.

Guy:            Du gehst.

Michel:         Es wäre ein Sommer. Nur ein Sommer.

Guy:            Geh.

Michel:         Es ist noch nicht entschieden.

Inga:            Im Winter wird er ihnen von Neapel erzählen.

Guy:            Ich kenne Neapel.

Inga:            Aber Sie waren noch nicht dort. Flugangst?

Guy:            Ich brauche keine Schiffe, keine Flieger, keine weiße Frauen, die keine    Ahnung haben was Neapel ist.

Inga:            Klären Sie mich auf.

Guy:            Es gibt Menschen zwischen denen stehen gigantische Welten. Zwischen uns steht das gesamte All.

Inga:            Jetzt haben Sie schlechte Laune, weil ich ihren Freund entführen will. Ich sage Ihnen was. Das Geld reicht für drei. Wir werden uns einschränken müssen, an den Hotels sparen. Öfters Fast-Food essen.

Guy:            Fast-Food in Europa. Was soll das schon sein.

Inga:            Sie kommen mit?

Guy:            Wir würden untergehen.

Inga:            Hauptsache ein warmes Plätzchen im sicheren Hafen.

Guy:            Du hast Geld, einen Ozelot, hast wahrscheinlich studiert. Reich geheiratet.           Da sagt´s sich leicht – sich´rer Hafen.

Inga:            Wenn es Sie beruhigt. Jawohl, studiert. Reich geheiratet. Aber das war alles. Wo es anfangen sollte, da hat es aufgehört. Wissen Sie, wie es ist, wenn man mit einem Mann schläft, ohne Lust. Ohne Begierde. Wenn er in einem ist, ohne einen Tropfen eigener Feuchtigkeit. Das tut weh. Aber   muß sein.

Guy:            Nichts muß sein.

Inga:            Richtig. Nichts muß sein. George war reich. Immobilienmakler in New York          City. Empfänge, Einweihungen, Prominente. Der Präsident hat mir die Hand geschüttelt. Zu fest. Die Frau des Außenministers habe ich kotzen sehen. Auf einer Damentoilette im Weißen Haus.

Guy:            Alle Achtung.

Inga:            Und ich sah, wie Sie George wegbrachten. Mit einem Krankenwagen in die Klinik. Schlaganfall. Da hing sein Mund, sein Arm, sein Schwanz herab. Zack. Vorbei. Auf einer Seite taub. Die andere Seite ohne Spaß am Leben.

Michel:         Du willst ihn zurücklassen?

Inga:            Ich liebe ihn nicht mehr und er ist tot. Sie haben ihn am Morgen aus dem Fluß gefischt. Mit seinem neuen Cadillac, behindertengerecht und sündhaft teuer, hat er das Brückengeländer durchbrochen und sich in den Fluß gestürzt.

Michel:         Es ward als hätt´ der Himmel, die Erde still geküßt.

Guy:            Es war sein Wille.

Inga:            Wie dem auch sei. Jetzt ist er tot und weg und aus und vorbei.

Guy:            Sieht so aus, als finge dein Leben jetzt erst an.

Inga:            Wann geht das Schiff?

Guy:            Je nachdem. Es kommt im Laufe der Nacht an. Die Mannschaft wird       gewechselt. Die Maschinen gescheckt. Auftanken. Ladung löschen. Wenn´s pünktlich kommt und alles schnell geht, morgen früh um 10.

Inga:            Wie spät ist es jetzt?

Guy:            Gegen elf, Ella.

Michel:         Den Traum auf meinen Lippen fühl ich nicht

und wenn die Hände greifen ist´s ein schrein

als gingen meine Hände dort spazieren wo

nichts in mir mich glücklich macht.

Es ist ein klettern, steigen, fallen

und wenn ich ankomm´ ist es g´rad zu spät.

Ich möchte fassen dich mit Herz und Händen

mit allen Sinnen nehmen dich mein Glück.

doch wenn ich ankomm bist du fort und

nichts läßt du zurück.

Ich kann nicht warten kann nicht ruhn

muß suchen finden weiterziehn.

Vielleicht mit Sicherheit und morgen dann

ist´s da.

 

– Vorhang –

 

II. Akt

Die Nacht nimmt ihren Lauf. Der erwartete Luxusliner ist mittlerweile in den Hafen eingelaufen. Er liegt vertäut an der Kaimauer. Inga, Guy und Michel sind immer noch in der Nähe des Kais. Im Hintergrund ist der riesige Schiffsbug zu sehen. Der Name des Schiffs, Queen Elisabeth 2, prangt in großen Lettern an der Bordwand, das Getöse der Ankerkette verbreitet einen höllischen Lärm. Guy springt auf und schreit in den Lärm. Was er schreit ist nicht zu verstehen. Nach dem Herablassen des Ankers wird es ruhig, nur von Ferne sind Geräusche zu hören, die der Szene als Atmo dienen. Das Be- und Entladen, das Auftanken, der Wechsel der Mannschaft findet im Heckbereich des Schiffes statt.

Guy:            (schreit bis der Anker herabgelassen ist)

Michel:         (lachend zu Inga) Das hat er lange nicht getan.

Inga:            Ist die Queen Elisabeth 2 ein besonderes Schiff?

Michel:         Jedes Schiff ist ein besonderes Schiff.

Inga:            Ist dieses Schiff besonderer als andere besondere Schiffe?

Michel:         Nein.

Inga:            Weshalb schreit er dann?

Michel:         Schreist du nie?

Inga:            Wenn ich Schmerzen habe schreie ich. Aber ich kann mich nicht daran     erinnern, wann ich das Letztemal geschrien habe.

Michel:         Jetzt kannst du schreien. (In Anspielung auf den Tod ihres Mannes.)

Inga:            Ich will nicht. Wenn Frauen schreien ist das kein gutes Zeichen. Die Polizei          würde kommen und wer weiß wer sonst noch alles. Nein Danke. Ist es ein gutes Zeichen wenn er schreit?

Michel:         Ja. Das ist es. Er war Boxer. Das war sein Siegesschrei. Damit hat er nach einem gewonnenen Kampf alle Schmerzen rausgebrüllt, um danach  seine verbeulte Visage erhobenen Hauptes in die Garderobe zu schleppen. So hat er´s jedenfalls erzählt.

Inga:            Haben Sie ihn jemals boxen sehen?

Michel:         (Während Michel von Guys letztem Kampf erzählt und davon, wie sich die beiden kennenlernten, ist Guy bei der Queen Elisabeth 2. Guy liebt  Schiffe.) Seinen letzten Kampf. Vor fünfzehn Jahren. Ein Zufall. Es zog mich in die  Halle, der Kampf hatte gerade begonnen. Ich konnte es nicht glauben. Er war viel älter und schwächer als sein Gegner. Der hat ihn nach Strich und Faden verprügelt. Die Schläge gingen auf die rechte Schulter. Immer auf dieselbe Stelle. Der junge Boxer war blitzschnell, tänzelte um Guy herum     und schlug auf die rechte Schulter. Und wieder auf die rechte Schulter. Guys Arm wurde lahm und lahmer. Er hatte keine Deckung mehr und die Linke war zu schwach für den Angriff. Seine Schläge gingen ins Leere. Das Publikum johlte und pfiff zugleich. Dann nahm der Gegner Guys Gesicht ins Visier. Spielte mit seinem wehrlosen Opfer. Guy versuchte immer wieder den rechten Arm vor´s Gesicht zu nehmen. Sofort schlug ihm der Gegner wieder auf die Schulter. Irgendwann hing der Arm einfach herab. Wie tot. Rechts-links-rechts ins Gesicht. Guy ging zu Boden. Blut lief aus der aufgeplatzten Augenbraue. Für ein K.O. gab´s 100 Dollar extra.

Inga:            Schwachsinn.

Michel:         Nein. Es war sein Leben.

Inga:            Sich die Birne weichhauen lassen.

Michel:         Das verstehst du nicht.

Inga:            Moment mal.

Michel:         Er hat sich nie beklagt. Es gibt Dinge, die kann man sich nicht vorstellen.           Dazu reicht es nicht.

Inga:            Und Sie haben einfach zugesehen bei diesem Kampf.

Michel:         Es war der erste und letzte Boxkampf, den ich gesehen habe. Ein Zufall.            Es zog mich. Ich kannte weder Guy noch seinen Gegner.

Inga:            Er hat Ihnen sicherlich leid getan.

Michel:         Ich traf ihn Tage später hier im Hafen. Er sah aus wie ein Monster. Ich     habe mich ziemlich erschrocken. Dann erinnerte ich mich an das Gesicht und sprach ihn an.

Inga:            Der Spaß an der Katastrophe. Lust. Faszination.

Michel:         So ein Schwachsinn. Neugierde. Der Mensch. Was ist das für ein Mensch,          der sich schlägt und dann im Hafen sitzt und in die Nacht schaut.

Inga:            Erzählen Sie von diesem Menschen.

Michel:         Es gibt nichts zu erzählen.

Inga:            Fünfzehn Jahre und es gibt nichts zu erzählen.

Michel:         Ich habe schon zuviel geredet. Ich habe kein Recht dazu. Es gehört mir   wie es ihm gehört.

Inga:            Machen Sie Ihr Leben nicht spannender als es ist.

Michel:         Du kannst penetrant sein.

Inga:            Offen. Nur offen.

Michel:         Du willst in einer Nacht mein Leben aufrollen, willst alles erfahren. Es       liegen fünfzehn Jahre hinter mir, die sich nicht mit ein paar Worten    zusammenfassen lassen.

Inga:            Jeder hat seine fünfzehn Jahre. Oder mehr. Oder weniger. Mal so, mal so.          Wir haben Zeit.

Michel:         Einen Sommer lang?

Inga:            Vielleicht. Es liegt nicht an mir.

Guy:            (Kommt von der Schiffswand zurück.) Stahl. Und doch so weich. Das     macht das Wasser. Die Ozeane streicheln die Queen Elisabeth 2.

Inga:            Michel hat mir von Ihrem letzten Kampf erzählt.

Guy:            So.

Michel:         Habe ich.

Guy:            Hatte keinen guten Tag damals. War nicht schnell genug. Dieser verfluchte Arm wollte sich nicht mehr heben lassen. Dann gab´s richtig           Prügel.

Inga:            Es gibt nettere Methoden sein Geld zu verdienen.

Guy:            Zum Beispiel die Gelegenheitsjobs von denen ich jetzt lebe. Mom. Putzen,          schleppen, Werbezettel verteilen. Nett. Verstehst du, nett. Jeder kleine     Pinscher kann dich Wixer nennen. Wer hätte sich das früher getraut. Das verdammte Maul aufzumachen und mich anzupissen. Wovon sprichst    du, Mom. Von Gesichtspealing und Arschfaltencreme, Mom? Hier ist das Leben. Die Sonne, das Meer.

Michel:         Du hast den Hafen.

Guy:            Und eine Geliebte.

Inga:            Eine Geliebte.

Guy:            Ja. Sie ist schön. Sehr schön.

Inga:            Wo ist sie?

Guy:            Sie liegt vertäut am Kai.

Michel:         Queen Elisabeth 2.

Inga:            Englands Königin.

Guy:            Die sind verrückt, die Europäer.

Inga:            Es hält sich in Grenzen.

Guy:            Sind sie so spießig wie du?

Michel:         Laß sie. Laß sie in Frieden.

Guy:            Schon gut.

Inga:            Ich kann mich sehr gut selber verteidigen.

Guy:            So.

Inga:            Vielleicht tun Sie mir einfach nur leid.

Guy:            Ich tue dir leid. Ich dir? Du bist verrückt. Wo lebst du?

Inga:            Bald wieder in Europa.

Guy:            Bei den Spießern.

Inga:            So einfach ist das. Da die Spießer und hier die coolen Brüder. Hejho.

Guy:            Weshalb bist du hergekommen?

Inga:            Ich schaute ihnen damals in die Gesichter und dachte „ihr verdammten,   widerlichen Spießer und Nazi-Schweine“.

Guy:            Und jetzt?

Inga:            Mittlerweile gibt es wohl Leute die ganz in Ordnung sind. Wer unter 45 ist hat die Entnazifizierung mitgemacht. Da wo ich herkomme sieht man in der Schule Auschwitz Filme. Ein Tag im KZ und so. Da ist man dreizehn und fängt an zu rechnen. Wie alt war der und der. Du heulst und kommst dir schuldig vor. Das waren deine Leute und du selber wärst auch dabei gewesen. Eine Frage des Datums. Was sind 20 oder 30 Jahre. Es waren     so viele die gebrüllt haben und gekämpft und geglaubt. Allmählich fangen Sie mir an leid zu tun.

Guy:            Bravo.

Inga:            Mittlerweile ist es mir egal.

Guy:            Europa ist mir so egal. Total Scheiß egal. Hier ist Freiheit. Scheiß Freiheit           aber Freiheit. Cu Cux Clan und Sammy Davis Junior. Es ist möglich. Fuck.

Michel:         Ihr macht mich wahnsinnig. Warum gebt ihr euch nicht die Hand, wir        trinken Kaffee und fahren nach Europa. Verbringen dort einen Sommer,   lassen alles hinter uns und kommen zurück wann es uns gefällt.

Guy:            Gute Idee. Wirklich gute Idee. Das einzige Problem liegt darin, daß schon           jetzt kein Kaffee mehr da ist. Verstehst du.

Inga:            Ich werde Kaffee holen.

Guy:            Wo bitte schön willst du um diese Uhrzeit Kaffee holen?

Michel:         Sie will Kaffee holen, Sie wird Kaffee holen. Entspann dich. Hörst du,     entspann dich.

Guy:            Ich soll mich entspannen? Ich bin entspannt. Vollkommen entspannt. Und           aus meiner vollkommenen Entspannung heraus werde ich euch jetzt einmal was erzählen:

Der Mensch wird irgendwo hingeboren. Das ist sein Schicksal. Damit muß er klarkommen. Da kann er nicht dauernd dran rumdrehen und hierhin und dahin fliegen. Weil´s dort besser sein soll. Und kommt er hin ist es Scheiße weil sie ihn dort nicht haben wollen. Die haben schon genug Probleme. Auch ohne so´n Scheiß verlausten Schwarzen aus dem New  Yorker Hafen.

Michel:         So.

Inga:            Mündigkeit. Vernunft. Selbstbestimmung.

Guy:            Du hast dir doch den Makler gekrallt und die Schnauze gehalten.

Inga:            Kommen Sie mit. Ich bitte Sie. Es ist wichtig. Wir können nicht so weiter-            machen.

Guy:            (Pause.) Ella, du bist das Schönste was in den letzten fünfzehn Jahren in            diesem Hafen passiert ist. Aber ich habe eine gottverdammte Angst. Ich will nichts verändern. Ich wollte niemals etwas verändern. Nur durchkommen.

(Ella geht auf Guy zu und umarmt ihn. Guy stehen Tränen in den Augen. Sie stehen so einen Augenblick. Dann setzt sich Guy hilflos auf den Boden. Inga dreht sich tief atmend zur Seite.)

Michel:         Jetzt wäre mir nach Kaffee.

Inga:            Morgen früh werden wir an Bord gehen, werden uns eine Kabine aussuchen, werden uns frisch machen und uns zum Buffet begeben. Dort    gibt es dann Schokoladen-Croissants, dunklen-schwarzen Kaffee und   unberührte, ungefaltete Zeitungen aus der ganzen Welt.

Michel:         Das ist Irrsinn. Gottverdammter Irrsinn. Was machst du mit mir Ella? Mir wird es schwindelig, ich bekomme Angst, mein Leben läuft vor meinen Augen ab. Scheiße, ich tille wie ein verfickter Scheiß Flipper. Das kannst    du mir nicht antun. Auftauchen und nichts beim Alten lassen. Verstehst du, das geht nicht. Du bist wie so ´ne linke Werbebotschaft. Direkt ins Kleinhirn. Und festsetzen und die Gedanken nicht mehr loslassen und    plötzlich fährst du ´nen Cadillac und weißt nicht wie du ihn bezahlen            sollst. Irgendwann steht einer auf der Matte und will ´nen Haufen Kohle    sehen. Das ist so´n Ding auf Pump, wo man nicht mehr rauskommt.

Inga:            Es wird nicht mehr als eine Art Spritztour. Europa mit Rückfahrschein. Nur für einen kurzen Sommer. Jeder macht mal Urlaub. Hawaii, Dominikanische Republik, Kenia, Thailand, Australien. Da ist nichts dabei. Man macht es einfach. Hören Sie. Dazu braucht man keinen Mut.

Michel:         So einfach ist das nicht.

Inga:            Sie mögen keine Schokoladen-Croissants?

Michel:         Ella.

Inga:            Die kleinen netten Dinge dieser Welt. Entspannen. Loslassen. Sich frei    machen.

Michel:         Ich bin frei.

Inga:            Und weshalb liegt dann dieser Hafen wie eine Kette um Ihr Fußgelenk?

Michel:         Weshalb nennst du mich nicht Michel?

Inga:            Ich will das nicht.

Michel:         Hast du Angst ich würde dich küssen?

Inga:            Darum geht es nicht. Wir könnten gefickt haben und ich würde immer      noch Sie sagen. Sagen Sie jetzt nicht das wäre einen Versuch wert.

Michel:         Hej.

Inga:            Schon gut. Keine Sorge, wir werden miteinander klarkommen. Alle drei.   Einen kurzen Sommer lang. Dann sehen wir weiter.

Michel:         Du bist zu schnell.

Inga:            Noch ist das Konto gedeckt und ich habe die Kreditkarten. Er hat sie mir            freundlicherweise hinterlassen. Als Makler kennt man die besondere Bedeutung von Geld. Er war nuneinmal ein praktischer Mensch. Jemand anderes hätte es wahrscheinlich nicht geschafft bis in den Fluß zu kommen, das Brückengeländer zu durchbrechen. Er hatte sich im Wagen festgebunden. Ein Seil um den Hals, das ihn erdrosselt hätte bei dem         Versuch an die Oberfläche zu tauchen.

Michel:         Ein Perfektionist.

Inga:            Können Sie sich die Schmerzen vorstellen, die einer hat bevor er so etwas          tut? Ich habe ihn weinen sehen. Nur einmal habe ich George in all den   Jahren weinen sehen. Ich hätte ihn küssen können. Er saß in diesem  Rollstuhl und ließ die Tränen laufen. So weich, zart habe ich ihn nie zuvor gesehen. Waren die Tränen Trauer oder Abschied oder Verzweiflung. Ich weiß es nicht. Er hat nichts zu mir gesagt, hat kein Wort, keine Silbe zurückgelassen. Zum erstenmal war er ganz und gar ehrlich. (weint.)

(Der Geist tritt auf in einer ordenbehängten Offiziersuniform der Queen Elisabeth 2. Er hat die Tränen der letzten Zeilen mitbekommen und will sich nun die Langeweile mit ein paar kleinen Menschentränen vertreiben. Ein Schiffsunglück ist in dieser Nacht nicht mehr zu erwarten. Die See ist ruhig und außer ein paar Kursabweichungen dürfte nichts vorfallen. Zwar hatte der Geist auf einem phillippinischen Tanker eine Nachtwache mit brennender Zigarette zum Einschlafen gebracht – der Wind sang eine nette Melodie und die Wellen schlugen sanft den Takt – aber die Zigarette fiel aus der Hand in eine Wasserlache. Und verlosch.)

Der Geist:    Guten Abend. Bon Soir. Meine Dame, die Herren.

Michel:         Bitte.

Der Geist:    Konnte nicht schlafen. Einfach nicht schlafen. Und so laufe ich einige Schritte im Hafen umher.

Michel:         So.

Der Geist:    Ja.

Inga:            Sie arbeiten auf dem Schiff?

Der Geist:    So könnte man es sagen.

Michel:         Sie hat dich was gefragt.

Der Geist:    Ich antwortete.

Inga:            Ausweichend.

Der Geist:    Ich bin Offizier auf der Queen Elisabeth 2. Ich befehlige eine ganze Menge …

Michel:         Was?

Der Geist:    Ist das ein Verhör. Habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen?       Mögen Sie keine Spaziergänger in der Nacht?

Michel:         Listen…

Inga:            (fällt Michel ins Wort) Lassen Sie ihn.

Michel:         Schon gut. So´n feiner Pinkel. Eitatei.

Inga:            Könnten Sie uns Plätze auf der Queen Elisabeth 2 besorgen?

Der Geist:    (Sieht sich um) Drei Personen.

Inga:            Ich denke wir wären zu dritt.

Der Geist:    Konjunktiv.

Michel:         Zu dritt.

Guy:            Zu dritt.

Der Geist:    Eine Kabine, zwei oder drei?

Michel:         Eine Doppelkabine und eine Einzel. (Guy schaut ihn mißtrauisch an.) Für          Ella, Mann.

Der Geist:    Ich müßte schauen. Habe das nicht im Kopf. Die Daten sind im Computer.

Guy:            Das wäre quasi sowas wie last minute mit dem Schiff.

Der Geist:    Quasi.

Michel:         Wann?

Der Geist:    Morgen früh. Ab sechs Uhr, denke ich, ist der Zahlmeister auf seinem     Posten. Er hat die Listen von der Zentrale. Entweder ist alles ausgebucht oder Sie haben Glück. Herzattacke. Oder Schlaganfall. Kommen häufig vor. Gerade wenn es um lange Reisen geht. Die Aufregung. Der Streß. Was nehm´ ich mit? Was trägt man in Europa? Und solche qualvollen Fragen. Und manchen haut´s dann einfach um. Gerade dann wenn´s schön werden soll. Raus aus dem Streß und rein ins Krankenhaus. Juchhu. Oder                    schlimmer. Der Deckel wartet voller Ruh und schnappt dann über´m Köpfchen zu.

Guy:            Laß solche Sprüche. Laß sie einfach weg und wir kommen klar.

Der Geist:    So empfindsam sehen Sie gar nicht aus.

Guy:            Einfach weglassen, kapiert?

Der Geist:    Entschuldigen werde ich mich nicht, aber Rücksicht nehmen auf ihre zarte        Seele, das ist möglich.

Inga:            Wie spät ist es?

Guy:            Halb vier.

Inga:            Sechs Uhr sagten Sie.

Der Geist:    Ab sechs Uhr. Der Zahlmeister ist über dreißig Jahre im Dienst und hat   so seine Marotten entwickelt.

Michel:         Scheint wohl üblich zu sein.

Der Geist:    (wird härter in der Stimme.) Die See hat ihre eigenen Gesetze und ihren    eigenen Rhythmus. Da draußen -Mann- bist du so klein mit Hut. Dein Schiff ist ´ne Illusion. Nichts weiter. Und wenn der liebe Gott (lächelt.) es will, dann kenterst du und liegst am Boden des Meeres. Vielleicht, wenn du Glück hast, so tief, daß kein Hai dich fressen kann und der Zahn der Zeit in kleinen Schritten dich zu sich nimmt. Adieu schöne Welt.

Guy:            Scheinst auf solche Stories abzufahren.

Der Geist:    Ich sprach vom Zahlmeister und seinen Marotten, mehr nicht. Und wer die See kennt weiß, weshalb Matrosen eigentümlich sind.

Inga:            Sie scheinen sich auszukennen.

Michel:         Alter Seefahrtsadel. In weißer Uniform am Sonnendeck.

Der Geist:    Meine Familie fährt, sozusagen, seit Generationen zur See. Ein                           -Verwandter- war beim Untergang der Titanic dabei.

Inga:            Ihr Urgroßvater?

Der Geist:    So in der Art.

Guy:            Hat der alte Herr überlebt?

Der Geist:    Ja. Ja. Er hat überlebt. Hatte damals all seinen Mut zusammengenommen        und noch in letzter Minute einige Passagiere, Frauen und Kinder aus der Dritten Klasse (Pause.) – gerettet -.

Michel:         Wow, ein Held.

Der Geist:    Es war damals eine mehr als ruhige Nacht. Augenzeugen sprachen von   der ruhigsten Nacht auf See, die ein Matrose je erlebt hat. Es war nicht sonderlich hell, das Licht des Mondes blieb in dichten Wolken hängen. Die   Wasseroberfläche war so glatt, das sich am Horizont eine klare gerade Linie des Übergangs ergab.

Inga:            Gespenstisch. Hat Ihr Urgroßvater Ihnen das erzählt?

Der Geist:    Ein Passagier der Zweiten Klasse, Lawrence Beesley, überlebte und        schrieb gleich darauf ein Buch. Pathetisch, moralisch, fast widerlich. Nun ja. (holt einen Notizblock raus.) Zumindest hat er das Unglück, in wenigen Zeilen, nett zusammengefasst. Soll ich lesen? (Zieht ein altes zerfleddertes Buch, das er scheinbar stets bei sich trägt, aus der Tasche.)

Guy:            Oh Mann.

Inga:            Lesen Sie.

Der Geist:    Nun gut.„Der Kiel der Titanic wurde am 31. Mai 1911 gestreckt, und sie lief am 31. Mai 1911 vom Stapel, absolvierte ihre Probefahrt vor dem Handels-Ministerium am 31. März 1912 in Belfast, kam am  4. April in Southampton an und lief am folgenden Mittwoch, dem 10. April, mit 2208 Passagieren und Besatzungsmitgliedern nach New York aus. Am selben Tag legte sie in Cherbourg an, am Donnerstag in Queenstown, von wo sie nachmittags nach New York auslief, wo sie vorraussichtlich am nächsten Dienstag morgen ankommen sollte. Aber die Reise wurde nie beendet. Sie stieß am Sonntag um 23.45 Uhr auf einer Breite von 41 Grad 46 Minuten Nord und einer Länge von 50 Grad 14 Minuten West    mit einem Eisberg zusammen und sank zweieinhalb Stunden später mit 815 ihrer Passagiere und 688 Besatzungsmitgliedern, 705 wurden von der Carpathia gerettet.“

Inga:            Schrecklich.

Der Geist:    Nun ja. Es war die Jungfernfahrt und das Schiff war größer als alle         vorherigen Schiffe. Es wäre auch durchaus sicher gewesen, hätte dieser Eisberg nur die ersten fünf Kammern des Bugs aufgeschlitzt. Aber das Schicksal ließ den Schnitt noch bis zur sechsten Kammer gleiten. Zur entscheidenden sechsten Kammer. Die Schote im Innern wurden herabgelassen und hätten das einströmende Wasser auch aufgehalten,    wäre diese sechste Kammer unberührt geblieben. So war´s ein Tick zuviel und, nunja, die Titanic lief allmählich voll und sank.

Guy:            Klingt als wärst du dabeigewesen. Mann.

Der Geist:    Die See ist mit dem Unglück verbunden. Die Andrea Doria, die Lusitania,           die Herold of Free Enterprise, die Estonia. Die vielen Tanker. Hier, dort, überall. Die See ist hart und kleine Menschen machen große Fehler. Die Titanic hatte einfach zu wenig Rettungsboote. Sie haben nicht genügend gekauft. So spielten die Kapellen bis zum Untergang und viele standen an der Reeling und sahen auf die letzten überfüllten Rettungsboote. Dann ging´s hinab in über dreitausend achthundert Meter. Da liegt sie nun  verstreut am Meeresgrund. Der Bug, das Heck verdreht in siebenhundert                    fünfzig Meter Entfernung. Das Porzellan und Kupfertöpfe liegen da am   Meeresgrund.

Inga:            Es reicht. Wir haben schließlich eine Überfahrt vor uns.

Der Geist:    Ja, eine Überfahrt. Eine Seefahrt die ist lustig. (lächelt.)

Michel:         Wie stehen die Chancen, daß wir Plätze bekommen?

Der Geist:    Warten Sie´s ab.

Michel:         Es ist wichtig.

Guy:            Mann. (Pause.)

Michel:         Die Queen Elisabeth 2 ist der letzte Luxusliner im Liniendienst.

Guy:            Verdammt vornehmes Schiff. Bin mal oben gewesen. Kurz. Nur zum       gucken. Die kommt ja regelmäßig.

Der Geist:    Wir sind ein wenig stolz auf dieses Schiff.

Guy:            Ich hab´ mal ´nen Prospekt gesehen. Zwölf Passagierdecks, ´ne             Bibliothek, Boutiquen, ´n Theater, Swimmingpools, Sonnendecks, ein kleiner Golfplatz und ´ne Filiale vom Kaufhaus Harrods in London. Die   Crew besteht aus über 1000 Leuten.

Der Geist:    Es erwartet Sie eine fünftägige, geruhsame Transatlantiküberquerung. Viel Spaß und gute Laune. (verbeugt sich, nimmt die Mütze ab und will     gehen.)

Michel:         Moment. Wie kommen wir an die Tickets.

Der Geist:    Ich werde gegen sechs herkommen und nachsehen, ob Sie noch Interesse          an einer Überfahrt haben. Dann gehe ich zum Zahlmeister und wir werden  sehen.

Guy:            Wenn du ´ne Fliege machst, werde ich echt sauer sein. Kapiert?

Der Geist:    Kapiert. (Und verschwindet auf dem Schiff. Ein kurzer Blitz am Himmel.   Wetterleuchten.)

Inga:            Meine Herren, ich bin überrascht.

Michel:         Abwarten.

Inga:            (Ein wenig sarkastisch.) Nun nehmen die Dinge ihren Lauf. Wir werden es         nicht aufhalten können.

Guy:            Wenn man ihm trauen kann.

Inga:            Jetzt müssen wir uns trauen. Meter für Meter.

Guy:            Bist du sicher, daß du sie dabei hast. – Die Karte.

(Schaut ihn an. Nimmt die Golden American Express Card aus der Tasche.)

Inga:            Der Schlüssel zur Welt: Sesam öffne dich und der Weg sei geebnet.

Michel:         Wenn es so einfach wäre.

Guy:            Es ist.

Inga:            Ich staune. Sehen Sie.

Michel:         Wir werden sehen.

Guy:            Michel.

Michel:         Guy.

Guy:            Wir machen´s. Hau´n ab und kommen zurück oder vergammeln in fucking         europe. Wo geht´s eigentlich hin?

Inga:            Southampton.

Michel:         Ella, das weiß er.

Guy:            Neapel. Und Warschau.

Michel:         Warschau?

Guy:            Ja. Warschau.

Michel:         O.K. Warschau. Und Lissabon. Stockholm.

Inga:            Damit das gleich geklärt ist. Die Karte gehört mir, wir sind zu dritt und es           wird abgestimmt. Darüber hinaus entscheide im Zweifelsfall ich und sollte es Entscheidungen geben, die unter männlicher Überlegenheit leiden, dann habe ich ein Vetorecht.

Michel:         Wir werden schon klarkommen Ella.

Inga:            Ich sehe es als eine Art Minderheitenschutz. Mehr nicht.

Guy:            Wir werden dich nicht über´n Tisch ziehen.

Inga:            Gemeinschaften brauchen Statuten. Davon bin ich überzeugt.

Michel:         Das wäre geklärt.

Guy:            Europa. Auf der Queen Elisabeth 2. Mann, Jesus.

Inga:            Ich möchte meine Mutter sehen.

Michel:         Kannte sie George?

Inga:            Sie kannte nicht einmal mich.

Guy:            Wie lange schlaft ihr so? Also mit mir ist vor 11 Uhr nichts anzufangen.   Ist so´n Trauma. Meine Natur.

Michel:         Du schläfst jeden Tag bis 11?

Guy:            Wenn nichts anliegt.

Inga:            Wir werden sehen.

Michel:         Wenn wir dem weißen Matrosen trauen können.

Inga:            Er wird kommen. Ich habe das im Gefühl. Er war so engagiert. Mit der See verwachsen. Solche Leute halten ihr Wort.

Guy:            Mir kam der Typ mehr als spanisch vor. Total schräg. Abgedreht.            Irgendwie abgedreht. Uniformen verderben den Charakter. Das war so´n      Katastrophen-Freak. Voll drauf mit Titanic und so. Solche Typen sitzen   tagelang in Bibliotheken und recherchieren. Der Typ kennt mit Sicherheit die komplette Gästeliste der Titanic auswendig.

Inga:            Ist die Queen Elisabeth 2 sicher?

 

Michel:         Nun ja, Sie ist nicht gerade taufrisch. Aber sie kommt Woche für Woche.            Also bisher.

Guy:            Bei solchen Typen läuft´s mir kalt am Bein runter. Gänsehaut und so. Böse         Vogelzeichen. Ohne den an Bord wäre mir wohler.

Inga:            Tiritanga, Tiritonga.

Guy:            Hey.

Inga:            Schon gut. Was soll´s. Wer nicht wagt … Das ganze Leben ist ein Risiko.           Vielleicht wird morgen genau an dieser Stelle (zeigt auf Guy) einer erschossen. Na und? Kaum gefallen und schon vergessen.

Michel:         Und George?

Inga:            Lassen Sie ihn ruhen. In mir ist nichts. Kein Gefühl. Keine Traurigkeit.      Nichteinmal ein Loch.

Guy:            Ella, du wirst doch nicht etwa froh sein?

Inga:            Auch das. Und das. Ich liebe ihn wie nichts anderes auf dieser Welt. Er ist          ein Teil von mir.

Guy:            Er ist tot.

Inga:            Eben.

Michel:         Hör auf. Mann. Mir wird. Tod, Titanic, Europa. Inga, tu das nicht. Das ist       ein verdammt schmaler Grad. Du mußt dir den Schmerz nehmen, sonst wird er dich verfolgen. Und auffressen. George ist tot.

Inga:            Nun hat die liebe Seele Ruh´.

Michel:         Laß George, George sein. Verstehst du.

Inga:            Sie nannten mich Inga.

Michel:         Es geht um dich.

Inga:            Es geht um eine lange Reise. Ins Europa der Möglichkeiten. Ins Europa der Geschichte, des Schreckens, der Lust. Sie haben die Grenzen aufgehoben und wollen sich eine gemeinsame Währung geben.

Michel:         Das hat nichts mit dir zu tun. Nichts mit Menschen. Keine Ahnung           weshalb sie das machen. Fuck. Grenzen sind wichtig. Es ist nicht alles eins.  Du mußt wissen wo es anfängt und wo es aufhört. Frankreich ist nicht Deutschland ist nicht Luxemburg und George ist nicht Inga.

Inga:            Ella gefällt mir besser.

Michel:         Du bist Inga.

Inga:            Ist näher dran. An dir. Michel.

Michel:         Du bist verrückt.

Inga:            Durcheinander. Am Ende voller Hoffnung.

Guy:            Teile der Titanic wurden geborgen. Es gibt Fotos vom Wrack. Da liege    ich unten und ein Portrait der Wasserleiche Guy de Maupassant erscheint in der New York Times und in der Washington Post. Über mir liegt der fette Anker und die Fische nagen an meinen Knochen wie an einem Hühnchen. Und irgendwelche Verrückten werden meinen Namen auswendig lernen. Dann heißt es nicht mehr: Ah, Maupassant , der Dichter. No. Ah, Maupassant, der schwarze Boxer unter´m Anker.

Michel:         Du wirst es noch herbeireden.

Guy:            Es gibt Stellen im Meer, die werden zu Seefriedhöfen erklärt. Du stehst   vorne am Bug und weißt, hier ist es. Das Schiff durchschneidet das Wasser und die Seelen ziehen am Metall.

Michel:         O.K. Es ist gut. Wir haben jetzt verstanden. Erspar´ uns weitere   Einzelheiten. Du wirkst wie verzaubert. So ist das mit lausigen Boxern. Irgendwann haben sie in ihrer weichen Birne vor allem Angst und die Dinge verschwimmen zu nebulösen Gespenstern.

Guy:            Oh, danke.

Michel:         Sorry.

Inga:            Ich habe keine Angst mehr, es läßt sich nicht aufhalten.

Michel:         Als ich vom Untergang der Estonia hörte, von den vielen Menschen, der             dunklen Nacht, den hohen Wellen, den hoffnungslosen Rettungsversuchen, da war mir tagelang unwohl hier im Hafen. Ich habe dem Meer die Schuld gegeben, der mörderischen mit Salz versetzten H2O Brühe. Kam nicht auf den Gedanken, daß der Untergang was mit   Menschen zu tun hat, daß die gleiche Spezie, die da ersoffen ist, selbst     Schuld war. Es kommt alles zusammen. Die Natur. Die Natur und die Natur des Menschen. Wenn ich nur wüßte, was diese verfickte Natur des Menschen ist? Wer sind wir? Mann, ich frage nicht weil ich so ein verdammter Philosoph sein will, ich frage das, weil ich wissen will was hier los ist. Was ist das für ein Spiel in dem wir hier jahrelang am Hafen sitzen und irgendwie verbunden sind mit der ganzen Welt. Das zieht sich wie ein Geflecht, wie eine chemische Verbindung durch alles hindurch. Und der Mensch ist auch fast nur Wasser. Und dann kommst du und willst uns über dieses Wasser nach Europa bringen. Und George ist in         diesem Wasser gestorben. Da gibt es Verbindungen, die mir nicht klar sind. Ihr müßt mich verstehen. Oh Gott.

Guy:            Du wirst es nie kapieren. Wir haben da keine Chance. Es geht nur darum             irgendwie durchzukommen. Mann. Was ist das für ´ne Nummer. Mir wird ganz schlecht. Hier löst sich alles auf. Diese Frau auf der Estonia, du weißt Michel, die für ihren Freund gefahren ist. Seinen Dienst übernommen hat. Diese Scheiß-Geschichte. Die fast rausgekommen wäre, kurz bevor das Schiff kenterte. Sich an ´nem Geländer hoch zum Ausgang hangelte. Diese Schwedin. Aus Stockholm. Und kurz bevor sie es geschafft hätte kommt so´n besoffener aus ´ner Kabine gestürzt und reißt sie mit sich. Scheiße.

Inga:            Es läßt sich nicht aufhalten. Es läßt sich nicht aufhalten.

Guy:            Ihr Freund hat die Kohle ihrer Lebensversicherung bekommen. Weshalb   hinterlassen Tote eigentlich Geld?

Michel:         Guy.

Guy:            Er hat ´nen Suchboot mit ferngesteuertem Tauchboot gechartert, um die           Leiche heraufzuholen. Die Schweden wollten das verhindern. Haben die Polen unter Druck gesetzt, damit sie dem Kerl kein Marineboot zur Verfügung stellen. Hat dann in Hamburg eins gefunden und wäre fast von der schwedischen Marine gerammt worden an genau der Stelle. Stand in der Zeitung. Sollte wohl alles keinen Wirbel geben.

Michel:         Hör auf Guy.

Inga:            Tand. Tand. Wir haben nichts hier, um auf unsere bevorstehende Reise   anzustoßen. Der Blick sollte jetzt nach vorn gerichtet sein, nicht nach unten. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Laßt uns vergessen. Passé die Vergangenheit. Die Estonia, George, die Schwedin. Es ist alles in Ordnung auf dieser Welt. Wir haben nicht den geringsten Grund beunruhigt zu sein. Die Queen Elisabeth hat genügend Rettungsboote. Die Welt wird in         jedem Winkel von Satelliten überwacht. Es ist nicht ein Schiff in der Nähe, es sind hunderte. Mit großen und schnellen Motoren, die der Zeit den Hals abschneiden. Save our Souls.

Michel:         Schokoladen-Croissants.

Guy:            Frisch gepreßter Orangensaft.

Michel:         Weichgekochte Eier.

Guy:            Bacon and eggs.

Michel:         Camembert et Baguette. Bordeaux et Côte de Rhone.

Guy:            Frische, knusprige Cornflakes.

Michel:         Vorspeisen am Abend.

Guy:            Saftige Steaks. 200 Gramm. Mindestens.

Michel:         Vielleicht ein kleines Gläschen Vieuve Cliquot.

Guy:            Zur Einstimmung.

Michel:         Pasta.

Guy:            Mit Lachs.

Michel:         Oder Krabben.

Guy:            Hummer. Garnelen. Langusten.

Michel:         Und wenn´s uns stinkt, ab zu Mc Donalds.

Guy:            Mc Donalds europe?

Michel:         Taste it. In Paris oder Wien. In Moskau oder Madrid.

Guy:            Wow. Hört sich an wie im Traum. Guy in Wonderland.

Inga:            Und wie steht´s mit Kultur?

Guy:            Klar. Täglich ab 11.

Inga:            Vielleicht mieten wir uns eine Wohnung.

Michel:         An welches Land denkst du?

Inga:            Deutschland.

Guy:            Wir sind schwarz.

Inga:            Sie sind keine Monster.

Michel:         Na, hoffentlich wissen sie das.

Inga:            Wenn es uns nicht gefällt, können wir jederzeit gehen.

Michel:         Sofern sie aus uns keine Asche gemacht haben. War ´n Joke. Werden schon klarkommen. Inga.

Inga:            Du sollst mich Ella nennen. Los.

Michel:         Inga.

Inga:            Komm.

Michel:         Ella.

Inga:            Oh.

Michel:         Tja.

Inga:            Michel.

Guy:            Und was wird aus mir?

Inga:            Du natürlich auch.

Michel:         Er auch? Der ist Boxer.

Inga:            Guy.

-Vorhang-

 

III. Akt

Inga, Guy und Michel stehen eng beieinander. Es ist kurz vor sechs und sie sind alle drei durchgefroren. Trotzdem sind sie bester Laune in der Vorfreude auf die Reise. Der Geist kommt mit Sonnenbrille von der Queen Elisabeth herab, bald wird der Tag anbrechen und die ersten Sonnenstrahlen würden in seine Augen fallen. Der Geist fühlt sich im Dunkeln, in der Nacht wohler.

Der Geist:    Bon Jour. Hatten sie eine angenehme Nacht?

Michel:         Was ist mit den Tickets?

Der Geist:    Ich habe kein Auge zugetan. Ich weiß nicht, irgendwie war mir langweilig.         Nicht, daß mich etwas gequält hätte. Mitnichten nein. Es war einfach das trostlose Gefühl der Langeweile. Kennen Sie das?

Guy:            Sehr gut, aber jetzt geht es nach Europa. Up an away. Keine Langeweile.            Fun. Abenteuer. Kultur. Neapel. Verstehst du? Andere Völker. Leute, die die Dinge einfach anders sehen. In Neapel sitzen sie die halbe Nacht auf der Straße und quatschen. Über dies und jenes. Und die Alten gehen in die Kirche und beten.

Der Geist:    Das ist nett.

Guy:            Das ist Neapel.

Michel:         Ich sag dir, die Neapolitaner tun nur so, als würden sie beten.

Guy:            Er fängt schon wieder an.

Inga:            Was ist mit den Tickets?

Der Geist:    Gut. Ich werde zum Zahlmeister gehen und wir werden weitersehen. Ich    brauche einen Scheck oder eine Kreditkarte.

Michel:         Moment. Und woher wissen wir, daß du uns nicht linkst?

Der Geist:    Vertrauen ist der Anfang aller Überfahrt.

Michel:         Ich komme mit.

Der Geist:    Das ist gegen die Vorschriften. Sie haben weder ein Ticket, noch gehören           Sie zur Besatzung. Hören Sie, was ich hier tue, ist ein Gefallen. Freundlichkeit. Reine Freundlichkeit. Verstehen Sie? Ich muß nicht zum Zahlmeister gehen und versuchen, eine Überfahrt für Sie zu besorgen. Ich kann auch ganz einfach wieder auf das Schiff gehen, als   hätten wir uns niemals gesehen. Über das Meer und weg.

Inga:            Schon gut. Ich vertraue ihnen. Hier ist die Karte, bitte tun Sie alles, was in          Ihrer Macht steht.

Der Geist:    Madame. (Nimmt die Karte und verschwindet auf dem Schiff.)

Michel:         Ich traue ihm einfach nicht. Trickbetrüger sehen immer aus wie feine        Pinkel. Das ist ihr Trick. Sehen aus, als hätten Sie Kohle satt. Dollars in allen Taschen. Aber hinter der Fassade sieht es trüb aus. Man bescheißt nicht, wenn einer einem vertraut. Das ist der Anfang von …

Guy:            Red nicht, entspann dich. Sei locker.

Michel:         Cool. (Genervt.)

Guy:            Es gibt hier kein Problem. Er wird kommen und er wird die Tickets in der           Hand haben. Schlimmstenfalls müssen wir zu dritt in eine kleine Kabine. Hey Mann, ich fühl´ sowas. Bleib locker.

Michel:         Und wenn er nicht kommt, was machen wir dann?

Guy:            Dann war alles nur so ein Scheiß Schachzug des Schicksals. Ein Zeichen.          Wir sitzen schon zu lange in diesem Hafen und sehen nur zu. Das nennt man Passivität. Davon wird man alt. Senil. Zerbrechlich. Unausgeglichen. Faltig. Und obendrein fängt man an zu stinken.

Michel:         Ich stinke nicht.

Inga:            Doch, du stinkst.

Guy:            Sag ich doch.

Michel:         Moment.

Inga:            Für mich ist das kein Problem. Wirklich nicht. Schön, eine kleine Kabine wäre mir dann zu eng. Ich meine, wenn wir zu dritt in einer solchen Kabine fahren müßten. Aber auf See kann man sehr viel Zeit an Deck verbringen. Über das Meer schauen.

Michel:         Das hat mir noch niemand gesagt.

Inga:            Es fällt nur auf, wenn man näher kommt. Es ist in keinem Fall abstoßend            oder ekelerregend.

Guy:            Du trägst immer die gleichen Klamotten. Deinen Lieblingspullover, dein   Lieblingsjackett, deinen Mantel.

Michel:         So kann ich nicht nach Europa.

Guy:            Natürlich.

Michel:         Mir vergeht die Lust auf´s Reisen.

Guy:            Erst rumstinken und dann eingeschnappt sein.

Michel:         Bin ich nicht.

Guy:            Sondern?

Michel:         Ach. Und was ist eigentlich mit dir?

Guy:            Ob ich stinke? Mann, ich war Boxer.

Michel:         Du bist Boxer. Das bleibt man.

Guy:            Sportler sind sauber. Kennen ihren Körper. Wissen was Schweiß ist. Nur             Intelektuelle haben da ein Problem. Kennen ihren Körper eben nicht. Leben im Kopf und in Gedanken. Einfach ab von der Welt.

Michel:         Bin nicht intelektuell.

Guy:            Nein?

Michel:         Nein.

Guy:            Für mich schon. Kenn´ zwar nicht viele, also eigentlich nur dich, aber du bist intelektuell. Also positiv. Deshalb ist es mit dir auch nicht langweilig. Hast was in der Birne. Manchmal ziemlich vertrackte Sachen …

Michel:         Was für vertrackte Sachen, verdammt nochmal?

Guy:            Hei, hei, hei. Gleich tickt er aus. Laß´ gut sein. Is´ in Ordnung.

Inga:            Sehr interessant. Vieles scheint zwischen euch beiden existentiell            ungeklärt zu sein. Das kann ja heiter werden.

Michel:         Was für vertrackte Sachen, Guy?

Guy:            Dein Weltproblem. Diese politische Sache. Religionen, Herrschaft,          Unterdrückung. Islam und Judentum. Radikalismus und solche Geschichten.

Michel:         Du wirfst alles durcheinander.

Guy:            Sag ich doch, du bist intelektuell.

Michel:         Ich interessiere mich für die Welt. Na und?

Guy:            Tue ich auch, aber anders.

Inga:            Und wie?

Guy:            Zum Beispiel … Mir fällt nichts ein. Doch, zum Beispiel Neapel.

Michel:         No.

Guy:            In der Fantasie. Höre hier was, ein Matrose erzählt, die Ladung eines       Frachters wird gelöscht. Das sind Bausteine. So´n Puzzle. Daraus entsteht ´n Bild.

Michel:         Und deshalb stinkst du nicht?

Guy:            Ich komm´ aus ´ner ander´n Ecke. Sportler duschen. Lieben billiges         Duschgel. Cool and fresh. Deostick unter´n Arm und ab die Maus.

Michel:         Und ab die Maus.

Guy:            Yes, Sir.

Inga:            Radikalismus. Islam. Judentum.

Guy:            Wenn er am Abend in den Hafen kommt, hat er die New York Times        gelesen. Faszinierend. Er liest sie jeden Tag. Kennt sich aus.

Michel:         Und stinkt.

Guy:            Michel, man kann nicht alles haben. So läuft das.

Michel:         Michel, man kann nicht alles haben. So läuft das.

Guy:            Wäre auch beleidigt. Verständlich.

Michel:         Danke für das großzügige Mitgefühl.

Inga:            An Bord gibt es Duschen. Wir kaufen ein paar Sachen zum Anziehen.      Zahnbürsten. Rasierzeug.

Michel:         Deostick. Cool and fresh.

Inga:            Meinetwegen. Was hat das mit dem Islam, dem Judentum und dem        Radikalismus auf sich?

Michel:         Ich suche nach Lösungen. Mehr nicht. Gedankenmodelle. In New York     City sitzen die Vereinten Nationen. Ich sehe die Schiffe kommen und gehen und mit den Jahren wechseln die Flaggen dieser Schiffe ihre Bedeutung. Alles wandelt sich. Erst gab es Ost – West, dann Nord – Süd und mittlerweile spielt jeder gegen jeden. Die Weltformel kriegt immer mehr Parameter. Aus Konstanten werden Variablen. Das Schlimmste ist, es blickt keiner mehr durch. Da sind Spezialisten am Werk, die Nobelpreise für ´ne Lösung auf ihrem Spezialgebiet kriegen, aber keiner weiß, was die anderen so machen. Wo man sich zusammentun könnte, um was zu erreichen. Stattdessen sind alle Komkurrenten, weil es um Märkte geht. Ob Rinderwahn oder AIDS, jeder will seine eigene vermarktbare    Lösung. Es geht um Sahnehäubchen. Schokoladencroissants.

Guy:            So geht das tagelang. Klar versteh´ ich, was er meint. Nicht total aber     irgendwie. Was soll´s, ich höre total gern zu. Klingt gut, wenn er in Fahrt ist sogar bombastisch. Absolut überzeugend.

Michel:         Du kannst mich am Arsch lecken.

Guy:            Du mich auch.

Inga:            Dann seid ihr euch ja einig.

Guy:            Ja.

Michel:         Ist es richtig unangenehm? (Riecht an sich.)

Inga:            Nein.

Michel:         Gut.

Inga:            Hast du eine Lösung?

Michel:         (Grinst.) Love, Peace and harmony.

Guy:            Sex and drugs an Rock´n Roll.

Inga:            Im Ernst.

Michel:         Manchmal denke ich, es braucht einfach seine Zeit. Die Sache mit der     Aufklärung, dem Vernunftwesen und so weiter ist mal gerade zweihundert fünfzig Jahre alt. Also wenn wir es schaffen, bis zum kompletten Durchsickern der Theorie am Leben zu bleiben, dann gibt es sowas wie ´ne echte Chance. Dann könnte es sogar paradiesisch werden. Weil es plötzlich sowas wie ´nen Freundlichkeitsgen geben würde.             Freundlich sein wäre dann rein evolutionstechnisch ´nen echter Sprung,  weil gleichzeitig jede Menge Streß abgebaut würde.

 

Inga:            Das ist doch Unsinn.

Michel:         Alles ist Unsinn. Du fängst an zu denken und schon bist du die erste      Runde im Kreis gefahren. Natürlich ist Freundlichkeit kein Argument.   Stell´dir Ghandi in Bosnien vor.

Inga:            Also gibt es keine Lösung.

Michel:         Keine denkbare.

Inga:            Die Welt wird eines Tages untergehen.

Michel:         Oder sie wird zum Paradies.

Inga:            Mit neuen Schlangen.

Michel:         Du kannst es sehen wie du willst. Ja. Nein. Vielleicht. Nunja, das mit dem Paradies kann man wohl vergessen, aber es könnte sein, daß das Fernsehprogramm besser wird.

Inga:            Im Ernst, mich interessiert ob eine Lösung denkbar werden könnte.

Michel:         Alles hängt ab vom Individuum und den katastrophalen Auswirkungen     von unberechenbaren Biorhythmen. Gesundheitszuständen. Nervensituationen. Die wiederum stehen im Zusammenhang mit  gesellschaftlichen Tendenzen. Mit Kohle zum Beispiel, wieviel Geld hat der Einzelne für sein kleines Glück.

Inga:            Es dreht sich alles um materielle Einheiten.

Guy:            Geht das so den ganzen Sommer in Europa?

Michel:         Guy.

Guy:            Schon gut. Kein Problem.

Michel:         Die finanzielle Absicherung ist ein Gefühlseffekt. Sie gibt Sicherheit und             Wohlbehagen. Menschen mit Geldsorgen leiden unter Dauerstreß.  Zumindest in unserer Welt, in der man als Obdachloser irgendwo vor die Hunde geht. Du mußt Miete zahlen und so weiter. Mann. Dazu kommt  der Faktor der individuellen Wertigkeit. Gleichberechtigung. Liberté,  Egalité, Fraternité. Wenn die Dinge parallel ein gewisses Niveau erreichen,  dann könnte es echt lebenswert werden. Natürlich abzüglich der            Arschlöcher und Idioten, die einfach immer und überall rumlaufen.

Inga:            Und was hat das alles mit dem Islam, dem Judentum und dem    Radikalismus zu tun?

Guy:            Du schaust dem Gegner tief in die Augen. Schlägst ihm einfach voll in die          Fresse. Super Wirkung. Bis er wieder aufsteht und dir tief in die Augen         schaut.

Inga:            Ich bewundere Menschen mit Religion, weil sie Prinzipien haben. Fest an etwas glauben. Aufrichtig. Denen ist nicht alles egal. Gleichzeitig finde ich Religion abstoßend. Sie ist brutal und anmaßend.

Guy:            Laß´ gut sein Ella. Du bist wichtig. Die anderen müssen mit sich selbst   klarkommen.

Inga:            Nein, Guy. So einfach ist es nicht.

Guy:            Moment. Du kommst hierher, redest von Europa, davon sich aufzuraffen,           den Arsch hochzukriegen. Alles ganz easy. Und jetzt sagst du, so einfach ist es nicht?

Inga:            Gehen ist eine Seite, verändern eine andere.

Guy:            Inga, Mann, ich bin nicht mehr der von gestern Abend. Ich …

Inga:            Ich …

Michel:         Oh Gott. Wir reden über die Welt und kommen kaum mit uns selbst klar.

Inga:            Doch.

Guy:            Na klar. Was kann schon passieren. Wird mir doch keiner den Platz hier wegnehmen. Wer will schon nachs im Müll sitzen und auf Schiffe schauen. Kann einfach zurückkommen und hier weitermachen. Interessiert doch  niemanden, wo der alte Guy de Maupassant abgeblieben ist.

Inga:            Deine Kinder.

Guy:            Werde Postkarten schicken. Schöne, bunte Postkarten. Verstehst du.

Inga:            Und deine Frau

Guy:            Weiß nicht.

Inga:            (Zu Michel.) Und deine?

Michel:         Bin grad solo. War schon immer solo. Weißt du, ich stinke.

Guy:            Na, jetzt ist es raus.

Michel:         Endlich. Dann können wir ja jetzt fahren.

Guy:            (Sieht den Geist vom Schiff kommen.) Frühstücken.

Der Geist:    Sie haben Glück. Ein Schlaganfall und ein Verkehrsunfall auf dem Weg   hierher. Allerdings sind es nur zwei Einzelkabinen.

Guy:            No.

Inga:            Das bedeutet?

Der Geist:    Einer von Ihnen bleibt hier.

 

Inga:            Das kommt nicht in Frage. Verstehen Sie, wir müssen zu dritt und zwar    ausschließlich zu dritt über den Atlantik.

Der Geist:    Wir leben in einer modernen Zeit. Sie könnten, zum Beispiel, fliegen        Madame.

Michel:         Guy und ich teilen eine Kabine.

Der Geist:    Oh. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich um Dritte    Klasse Kabinen handelt. Nicht sehr geräumig. Fast spartanisch.

Guy:            Wir kommen schon klar.

Der Geist:    Selbstverständlich ist es auf einem Schiff wie der Queen Elisabeth 2 nicht          üblich, auf diese Weise zu verfahren.

Inga:            Sie werden durch uns keinerlei Unannehmlichkeiten erfahren.

Der Geist:    Gut, angesichts der Situation werden wir eine Ausnahme machen. Können. Für die Passage, Service und Verpflegung müssen Sie selbstverständlich einen entsprechenden Betrag entrichten. Bequem wird die Kabine unter diesen Umständen nicht sein, aber das ist Ihre Sache. Die notwendigen Formalitäten werde ich beim Zahlmeister für Sie erledigen. Dazu brauche  ich Ihre Pässe.

Michel:         O.K.

Guy:            Gut.

(Alle drei kramen ihre Ausweise hervor. Michel hat seinen Ausweis im Portemonnaie in der Hosentasche. Inga in der Innentasche ihres Ozelotmantels und Guy in einem Brustbeutel unter seinem Pullover. Inga sammelt die Dokumente ein und gibt sie dem Geist.)

Der Geist:    Merci. Ich werde Sie rufen, wenn alles erledigt ist. Bis später. (Geht.)

 

Inga:            Geschafft.

Guy:            Bin überwältigt. Ein großer Tag.

Michel:         Ich trau dem Kerl nicht.

Inga:            Michel. Sei fröhlich. Wir werden den Atlantik überqueren.

Guy:            Einen kurzen, langen Sommer … (Tänzelt vor Freude. In Boxermanier.)

Inga:            (Zu Guy.) Darf ich bitten. (Faßt ihn an die Hände. Summt den Kaiserwalzer und führt Guy im Walzerschritt. Ruft in den Morgen.) Europa, wir kommen. Wir kommen. (Dreht immer schneller. Läßt los und fällt Michel in die Arme. Faßt ihn mit beiden Händen am Kragen.) Hab’ Vertrauen. Wir werden ehrlich sein. Spaß haben.

Michel:         Inga.

Inga:            Michel.

Michel:         Und die Geschichte macht doch Sprünge. Wäscht ihre Kinder. Ich bin     glücklich. (Lauter.) Ich bin glücklich. (Schreit.) Ich bin glücklich.

Guy:            Hey, Mann.

Inga:            Es ist …

Guy:            Unbeschreiblich. Einfach unbeschreiblich.

(Der Geist taucht oben an der Reeling auf und ruft hinunter.)

Der Geist:    Ihr Abenteuer kann beginnen. Kommen Sie. Die Formalitäten sind erledigt. Ich begrüße Sie an Bord der Queen Elisabeth 2. (Lächelt.)

Guy:            Jesus.

Michel:         Allons enfant …

Inga:            (Schnappt sich Michel, hakt ein und geht auf das Schiff.) Komm, Guy.

Guy:            Moment. (Geht in seine Ecke. Faßt alles nochmal an und verabschiedet sich.) Einen kurzen, langen Sommer … (Geht in Richtung Schiff und schreit seinen Schrei.)

(Während Inga, Michel und Guy auf das Schiff gehen, steht der Geist an der Reeling und lächelt hoffnungsvoll.)

-Vorhang-

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. Die Rechte der Aufführung liegen bis auf weiteres beim Autor. Dieser Text gilt bis zum Tage der Uraufführung als nicht veröffentlicht im Sinne des Urheberrechtsgesetzes.

 

 

 

2 Antworten auf „ESTONIA“

  1. Hallo Jens,

    wow, ich bin so was von begeistert. Es war so spannend. Bis kurz vor Schluß habe ich wirklich gedacht, der Geist nimmt Kreditkarte und Pässe und verschwindet auf ewig. Toll gemacht!!!!!!! Ich verneige mich ein weiteres Mal, noch etwas tiefer, und applaudiere.
    Ich glaube, Theater wäre schon Dein Ding gewesen, aber mit Familie, eigener Familie, nicht Theaterfamilie, so intensiv, Fifty-fifty-auf dem Land, wäre wahrscheinlich ein Unding. So ist das Leben: Man muß sich immer wieder entscheiden.

    Begeisterte Grüße

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      vielen Dank. Ich freue mich, dass du es ganz gelesen hast. Und dass es dir gefallen hat. Theater ist auch heute noch mein Ding, aber ich glaube, ich passe nicht in die Welt des Theaters. Dort zu leben ist nicht mein Ding. Da ist alles Theater, immer Theater, nur Theater. Du siehst Themater, machst Theater, sprichst über Theater und hast irgendwann nur noch wenig Bezug zur Realität. Das muss man können. Für mich war das nix. Freue mich, meine Familie zu haben. Meine Wahl habe ich aus voller Überzeugung getroffen, auch wenn ich manchmal daran denke, wie intensiv das Leben im Theater war.

      Liebe Grüße

      Jens

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