Projekt Elaine 12

In der Schule wurde es für Susanne und Cat schwieriger. Während Cat früher, vor Susannes Auftauchen, einfach mehr oder weniger unbehelligt in ihrer Bank saß und ihr Außenseitertum stoisch pflegte, wurde die Bank der beiden nun zu einer Provokation. Cat schwieg weiterhin, hielt ihren Status, Susanne positionierte sich als kritische Stimme. Sie ging keinen Millimeter auf irgendwen zu. Im Gegenteil. Sie ging allen aus dem Weg, hielt sich an Cat. Wirkte fast arrogant. Im Unterricht war sie nicht bereit, irgendetwas hinzunehmen und ging keiner Diskussion aus dem Weg. Ihr Mantra war das Hinterfragen von Aussagen. Wo sie ein Klischee witterte, eine allgemein, akzeptierte Meinung, ein dahin gesagtes Argument, intervenierte sie. Vor allem bei Beiträgen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. „Woher weißt du das? Das ist doch jetzt einfach nur so gesagt, weil alle das so sagen. Hast du vorher mal nachgedacht?“

Oft wurde sie gemaßregelt, sie möchte ihren Ton mäßigen und in der Diskussion konstruktiv bleiben. Das fiel ihr schwer. Gleichwohl hob sie den Unterricht auf ein neues Niveau. Wer etwas sagen wollte, antizipierte automatisch Susannes Kritik. Es kam zu Meinungsschlachten, die ihr gleichzeitig Respekt und Feindschaften einbrachten. Nach wenigen Wochen hatte sie es geschafft, sich ebenfalls als Außenseiterin zu etablieren. Selbst diejenigen in der Klasse, die inhaltlich auf ihrer Seite standen, die ihre Argumente und Meinungen unterschrieben hätten, selbst denen stieß sie vor den Kopf. Es wäre ihr wie ein Verrat an ihrem bisherigen Leben vorgekommen, sich hier zu etablieren. Weitere Freundschaften zu knüpfen, die über die zu Cat hinausgingen. Sie wollte auf keine Partys eingeladen werden, sich nicht nachmittags verabreden oder sich abends in Kneipen treffen. Sie lehnte jegliche Kontaktaufnahme strikt ab. Susanne sehnte sich nach ihrem Berlin, nach der Schnodderigkeit, nach den Ideen, nach dem Ungewöhnlichen, dass hinter jeder Ecke wartete. Sie wollte hier nicht ankommen. Ihr fiel die Decke auf den Kopf, fühlte sich, als wäre sie in die Falle gegangen, hatte nur Cat und ihre Mutter. Die anderen aus der Klasse begannen, von der Hexenbank zu sprechen. Von den beiden verrückten Lesben, die es in der Villa am Stadtrand miteinander trieben. Einmal stand in dicken schwarzen Edding-Lettern LESBEN quer über die Bank geschrieben. Sue hatte die Lehrerin gerufen und hatte laut gesagt „Hier steht Lesben. Scheinbar gibt es in dieser Klasse feige Menschen, die ein Problem mit Homosexualität haben. Wenn mir jemand was zu sagen hat, dann kann er das jetzt und hier tun oder er soll einfach die Fresse halten.“ Es war eine Sozialkundestunde bei Frau Saalbach, die Sue eindringlich ermahnte. „Susanne, ich kann deinen Ärger verstehen, auch ich heiße es nicht gut, was hier geschehen ist. Dennoch möchte ich dich bitten, deinen Ton zu zügeln und deine Ausdrucksweise zu korrigieren. Bitte setz dich.“ Die weitere Stunde wurde aus dem aktuellen Anlass heraus genutzt, gleichgeschlechtliche Liebe zu thematisieren. Doch niemand traute sich, eine der Homosexualität gegenüber ablehnende Position einzunehmen. Letztlich wurde es eine Geschichtsstunde, in der geschichtliche Fakten von der Verfolgung im dritten Reich über die Abschaffung der Strafverfolgung bis zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften zusammengetragen wurden. Cat und Sue ließen die schwarzen Lettern stehen. Für sie war es kein Affront, es war ein Symbol ihrer Freundschaft. Manchmal nun begrüßte Sue Cat am Morgen mit einem fröhlichen „Hi Lesbe.“ Susanne wusste, wer die sechs Buchstaben auf ihre Bank geschrieben hatte, aber es war ihr schlicht egal. Während sie gesagt hatte, „der soll einfach die Fresse halten.“, hatte sie ihm direkt ins Gesicht gesehen, so dass jeder in der Klasse Bescheid wusste. Die folgende Stunde war für denjenigen ein einziges Spießrutenlaufen gewesen. Zu weiteren öffentlichen Affronts kam es in der Folge nicht. Ab und an wurden Susanne auf dem Gang kleinere Beleidigungen zugezischt oder es gab den einen oder anderen Rempler ganz aus Versehen, aber letztlich waren die Karten verteilt. Susanne war es recht, Cat auch.

Im folgenden Winter gab es kaum einen Nachmittag, den sie nicht in Cats Zimmer verbrachten. Ein Antlantiktief nach dem anderen ließ Regen und Wind durch die Stadt und um das Haus peitschen. Die kahlen dunklen Äste der Bäume vor dem Fenster ließen das Draußen unfreundlich, fast gruselig erscheinen. Drinnen sorgte ein großer Stahlheizkörper für wohlige Wärme, es gab keinen Grund, das Haus öfter als nötig zu verlassen. Cats Mutter genoss es, die beiden im Haus zu haben, auch wenn sie im Zimmer nicht geduldet war. Brachte sie Tee mit Keksen oder Kakao mit Kuchen hinauf, kam meist nie mehr als ein knappes Gespräch zustande, weil Cat die Konversation mit einem „Mama, wir müssen jetzt lernen!“ abbrach. So, als wolle sie ihre Freundin nicht teilen. Cats Mutter war froh, dass ihre Tochter Sue hatte. Denn Cat veränderte sich. Wurde normaler, altersgerechter. Sue schleifte sie regelmäßig ins Kino, um sich mit ihr Hollywood-Blockbuster anzusehen. Anfangs fand Cat die Storys platt und das Ende immer so vorhersehbar. Aber von Film zu Film war sie mehr bereit, sich einfach fangen zu lassen. Sue hatte ihr den Trick verraten. „Du darfst das nicht ernst nehmen und du darfst nicht, niemals nach dem Sinn oder der Botschaft fragen. Die ist genauso genommen fast immer Kacke. Schön ist einfach nur das Gefühl und das, was die Clooneys, Jolies, Depps, Pitts, Bridges & Co. auf die Leinwand zaubern. Das ist schön. Einfach gucken, keine Gedanken machen. Unterhaltung.“ Das fiel Cat zunächst schwer. Mit ihren Eltern hatte sie viele Avantgarde-Klassiker gesehen. Europäisches Arthouse-Kino, die amerikanischen Wilden.

Etwas war Cat an Sue aufgefallen. Es gab ein Tabuthema. Sues Mutter. Manchmal hatte Cat gefragt, ob sie am Nachmittag nicht auch einmal zu Sue nach Hause gehen sollten. Sue hatte immer gleich geantwortet: „Nein.“ Dieses „Nein“ hatte Cat akzeptiert. Sie hatte einfach angenommen, dass Sue ihre Gründe hätte. Doch mit der zeit bekam sie Sues Mutter gegenüber ein schlechtes Gewissen. Auch, weil Sue nun öfter bei ihr schlief und dann auch abends nicht Zuhause war. Sie wollte nicht, dass da ein komisches Verhältnis entsteht, dass Sues Mutter das Gefühl entwickelte, ihre Tochter würde ihr weggenommen, vorenthalten. Cat hatte angefangen, nach Sues Mutter zu fragen. „Ich würde sie gerne kennen lernen.“, sagte sie an einem dieser Nachmittage, an denen sie in Cats Zimmer lernten, Sues Musik hörten und über den vergangenen Tag in der Schule redeten. Es war wie ein zweiter Unterricht, in den sich Cat am Nachmittag einschaltete. Oft hatte sie am Morgen in der Schule die Diskussion verfolgt und sich eine eigene Meinung gebildet. Hier, in ihrem Zimmer, Sue gegenüber, vertrat sie die Meinung dann. Fasste sie in Worte. Sue hatte gegenüber Cat nicht das Verlangen, sie in Grund und Boden zu argumentieren und an die Wand zu drücken. In Sues Augen hatte Cat schräge Ansichten. Überhaupt kein Mainstream, eine ganz eigene Sicht der Dinge. Für sie waren es oft Meinungen wie aus einem Paralleluniversum. Mit einem komplett anderen Fundament. Auf diese Gespräche ließ sie sich gern ein, auch weil sie sie an Zaos Andersartigkeit erinnerten. Auf ein Gespräch über ihre Mutter dagegen, ließ sie sich nicht ein. Anfangs hatte Cat das akzeptiert, nun wollte sie wissen, was los ist. Es kam ihr merkwürdig vor. Sie wollte nicht, dass sich Sue wegen ihrer Mutter oder wegen einer kleineren Wohnung oder wegen was auch immer schämte. Sie spürte hier eine ungewöhnliche Distanz. Einen Graben, ein Tabu, das sie nicht verstand, dass sie aber zunehmend störte. An einem Nachmittag fasste sie sich ein Herz. „Sue, ich weiß, du willst darüber nicht sprechen. Aber ich will. Weshalb darf ich deine Mutter nicht kennen lernen? Weshalb versteckst du sie?“ Sue lag auf dem Jugendstilsofa, schloss die Augen. Sie spürte, dass es Cat ernst war, sie nicht ausweichen konnte. „Weshalb kannst du nicht einfach alles so lassen, wie es ist?“ „Weil du auch nie irgendetwas so lässt, wie es ist? Wer ist denn hier die, die immer nachfragt? Die keinen Stein auf dem anderen lässt? Die jedem predigt, er solle mal genauer hinsehen und nachdenken?“ Vor ein paar Monaten noch, da war das Mädchen, das dort auf ihrem Bett lag, eine Betonwand gewesen, dachte Sue. Anfangs war ihr selbst ein Gespräch über das Wetter zu intim. Und nun versuchte Cat, in sie einzudringen. Sue wollte ihr nicht länger ausweichen, auch wenn sie Angst hatte vor dem, was sie Cat sagen würde. Trotzdm entschied sie sich, es zu tun. „O.K., Cat. Hör zu, ich kann es dir nicht genau sagen. Wahrscheinlich ist es so, dass dich meine Mutter sofort mögen würde. Und dann würde sie sich hier vielleicht noch wohler fühlen. Das will ich nicht. Ich will zurück. Unbedingt. Ich will hier nichts vermischen, was sich dann nicht mehr auflösen lässt.“ Cat schluckte, sah auf ihren Warhol, in das Gesicht von Josph Beuys und sagte: „Kannst du jetzt bitte gehen. Ich möchte allein sein.“

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine 11

4 Antworten auf „Projekt Elaine 12“

  1. Hallo Jens,

    wow, die Geschichte wird immer interessanter, intensiver. Hey, Jens, für Deine Leser brauchst Du jetzt aber nicht auch noch samstags und sonntags schreiben. Das ist doch Familienzeit. Oder?

    Viele Grüße

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      schön. Das soll sie auch. Es gab da gestern und vorgestern in der Familienzeit Lücken, die ich genutzt habe. Manchmal wollen Texte einfach geschrieben werden. ich saß mit Laptop im Hängesitz mittendrin. Das ist auch Familienleben.

      Liebe Grüße

      Jens

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