Vollmond über Vernazza.

50.000.000 €. Das ist die Summe der Schäden, die in Vernazza entstanden sind. Sehr viel für eine Stadt, die 1.000 Einwohner hat. Kann eine Stadt das stemmen? Sicherlich nicht ohne Hilfe. Es besteht die Gefahr, dass einer der schönsten Orte Italiens (Behaupte ich jetzt einfach mal. Einige habe ich auf meiner “Italienischen Reise” auf den Spuren Goethes gesehen.) den Bach runtergeht. Das wäre schade. Insbesondere auch für mich, weil ich Vernazza liebe. Liebe.

Meinen 40. Geburtstag habe ich dort gefeiert. Ela und ich hatten uns bei Gianni Frantzen eingemietet. Ein kleines Zimmer mit Balkon oben am Berg Richtung Turm. Blick auf das Meer. Wir waren oft da, haben bei Gianni unter den bunten Sonnenschirmen unten am Platz am Hafen lecker gegessen. Von Levanto bin ich in jedem Urlaub mit dem Fahrrad nach Vernazza gefahren. 500 Höhenmeter in Serpentinen bis zum Kloster hoch, dann die kleine Küstenstraße entlang und die Serpentinen nach Levanto runter. An einer Stelle dann: Von oben der Blick auf Vernazza, auf den Hafen. Wer das mal gesehen hat, ist verloren. Die bunten Häuser, das Grün der Natur, das blaue Meer.

Dann mit Highspeed runter, Fahrrad unten in der Bahnhofsunterführung (die ist jetzt voller Schlamm) abgestellt. Die Hauptstraße herab und bei Gianni rein, einen Cappu an der Theke bestellt und dann hinten an einen kleinen Holztisch gesetzt, um in die Küche schauen zu können. Alle arbeiten, alle probieren, schmecken ab. Überall brodelt es, zieht es. Die Kellner kommen rein, schauen in die Töpfe, nehmen sich ein kleines Tellerchen, kosten, gehen. Trinken einen Espresso. Gianni wirkt wie eine große Familie, als würden alle dort wohnen. Es ist Mittagszeit, es wird gerade nicht gegessen. Weder draußen auf dem Platz noch drinnen im Gewölbe. Es laufen die Vorbereitungen für den Abend. Ich könnte hier stundenlang sitzen, wenn ich nicht fliehen müsste, weil mein Drang, die Küche zu stürmen und mitzukochen zu groß wird.

Meine Badehose habe ich in der Tasche. Sonst habe ich außer Geld nichts dabei. Gehe vorne im Hafen an den Bootsanleger, ziehe blank und schlüpfe in meine Boardshorts. Mit Anlauf in die Tiefen, wo sonst die Ausflugsboote liegen. Tauche tief im klaren Wasser, schwimme rüber zum hohen Felsen, von dem gerne die jungen knackigen Amis runter springen. Wir hatten am Tag des Feuerwerks über dem Hafen (Hach, so ein Feuerwerk. Standen oben neben der Kirche und waren nur 100 m weg von der Abschussrampe. Fast mittendrin im Sternenfunkeln, Freudentaumeln) zwei Californian Dreamboys getroffen. Dieses smarte Lächeln, dieses freundliche Englisch, diese braunen Körper und weißen Zähne. Bestimmt zwei Wellenreiter, weil die dieses Schwimmerkreuz hatten.Schmale Hüften, breites Kreuz. Einer war mir anderhalbfachem Salto rückwärts vom Fels gejumpt. Die Kinder waren tief beeindruckt. Einer war Fotograf auf Europatour und kam gerade aus Madrid.

Ich schwamm also auch zu diesem Mörderfelsen, zog mich aus den Wellen heraus auf den Stein, kletterte ihn hoch, sprang. Vernazza. So viele Erinnerungen. Das Foto oben habe ich im letzten Urlaub von Monterosso aus geschossen. Wir waren von Levanto herüber gewandert. Abends fast ganz allein den Küstenweg entlang. Die Sonne ging unter, der Mond ging auf. Direkt über Vernazza. Sehnsucht. Wie dieser Mond seine schützenden Strahlen über die Bucht legte, wie in Vernazza die Licher angingen, bei Gianni gegessen wurde. So, so schön. Und nun sind die Lichter aus. Kein Strom. Zerstört. Voller Steine und Erde die Stadt. Die Menschen evakuiert. Was soll werden? Ich will zurück nach Vernazza, ich will bei Gianni sitzen, ich will von der Hafenmauer springen, auf den Fels klettern, mit dem Farrad dort hin fahren.

Sobald ich ein vertrauensvolles Spendenkonto entdeckt habe, werde ich die Infos hier posten. Ich bitte euch zu entschuldigen, dass ich hier so viel über Vernazza schreibe. Aber in Liebesangelegenheiten gibt es einfach kein Halten. Eine Sache des Herzens. Was ich für Vernazza tun kann, möchte ich tun. Schreiben, berichten, informieren ist ein Weg.

Infos zur Katasprophe findet ihr im Beitrag: Vernazza, Monterosso zerstört oder was?

Gianni Franzi: http://www.facebook.com/photo.php?fbid=2269242568953&set=a.2269195647780.2113937.1185265382&type=3&theater

P.S. Es gibt nun einen Verein “Zukunft für Vernazza”, der Spenden für den Wiederaufbau sammelt. Ihr könnt auf der Seite einfach auf “Donazione” (spenden) klicken und dann im Formular oben als Land Deutschland auswählen, denn werdet ihr in Deutsch durch den Spendenprozess geführt. Bitte gebt! 2, 3, 4, 5, 100 Euro – egal. Zeigt einfach eure Anteilnahme, auch mit kleinen Beträgen. Würde mich freuen!

Hier der Link zur Spendenseite: http://vernazzafutura.blogspot.com/

Vernazza wird evakuiert!

Es geht also nicht anders, es ist zu viel Schlamm im Ort, die Schäden sind zu groß und am Wochenende werden neue schwere Regenfälle erwartet. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser. Die Bevölkerung muss gehen, nur das Militär bleibt. Diese Infos habe ich von einer amerikanischen Facebook- und Internetseite. Rick Steves, amerikanischer Reisejournalist, ist großer Vernazza-Fan. Er hat Freunde vor Ort und setzt sich für die Stadt ein. Rick Steves auf Facebook, seine Internetseite.

Das freut mich sehr, weil Vernazza nun dringend Hilfe braucht. Momentan weiß niemand, was wird. Es liegen 35.000 Kubikmeter Schlamm und Steine in der Hauptstraße und in den Erdgeschossen der angrenzenden Häuser. Ein großes Problem ist das Nadelöhr nach unten zum Meer hin. Kurz bevor man zu Giannis Restaurant kommt, vor dem Platz am Hafen, ist die Gasse sehr schmal. Da können keine schweren Bulldozer fahren, sondern nur kleines Räumgerät. Also wird es dauern, bis der ganze Schlamassel aufgeräumt ist. Zudem sollen einige Häuser beschädigt sein. Von der Feuchtigkeit, die jetzt überall in den Mauern steckt ganz zu schweigen.

Noch habe ich keine Spendenadresse gefunden. Auf der Facebook-Seite der Cinqueterre ist das Spendenkonto des italienischen Roten Kreuzes angegeben. Das ist aber ein allgemeines Spendenkonto. Rick Steves überlegt da wohl gerade, etwas einzurichten und wird dann auf seiner Seite berichten.

Möchtet ihr mir einen Gefallen tun? Denkt an Vernazza, betet für die Menschen in der Region. Möge alles ein gutes Ende nehmen und mögen Monterosso und Vernazza wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen. Die Cinqueterre sind zu schön, um sie zu verlieren. Sie gehören zum Weltkulturerbe und das kommt nicht von ungefähr. Vielleicht reist ihr einmal hin. Das ist der beste Weg der Unterstützung des Wiederaufbaus.

Links, Fotos, Videos zur Katastrophe hier im fiftyfiftyblog.

Umfassende Infos liefert der Cinqueterre-Blog.

Coldplay live in Köln – Para, Para, Paradise…

Reden wir nicht lange drum rum. “Hammergeil” und “das Beste, was ich je gesehen und gehört habe” ist nicht meine Sprache. Könnt ihr aber so verbuchen. Hier zwei Songs aus dem Konzert gestern. Von 1Live (Verbeugung, Verbeugung, Verbeugung, Demut) aufgezeichnet. Von der neuen Platte Mylo Xyloto: Violet Hill, Charlie Brown und Every Teardrop Is A Waterfall. Und hier noch das offizielle Video zum Titelsong dieses Blogbeitrags: Paradise.

Diese Band ist einfach unglaublich. Die produzieren einen Hit nach dem anderen, eine Nummer 1 nach der anderen. Gewonnen haben sie schon alles, was es zu gewinnen gibt. Und mit dem gerade erst erschienenen Album stehen sie in Deutschland schon wieder ganz oben.

Ganz oben war auch das Konzert. Chris Martin, der Frontsänger war krank, wie ich später im 1Live-Vorinterview erfahren habe. 21 Uhr, die Jungs kamen raus, legten los. 75 Minuten Vollgas. Alte Songs, neue Songs. Ich konnte es nicht fassen. “The Scientist” von der “A RUSH OF BLOOD TO THE HEAD” und natürlich die Hymne “VIVA LA VIDA” vom gleichnamigen Album. Ich dachte die ganze Zeit, ich bin im Film. Im Radio. Ich kannte die Songs fast alle, die sind gespeichert. Es war einfach überwältigend groß.

Vor allem im Hinblick darauf, dass Coldplay vor nur 1.500 Menschen im E-Werk gespielt haben. Die nächsten Gigs in Deutschland finden in der Lanxess Arena in Köln, der Festhalle Frankfurt und der O2 World Arena in Berlin statt. Ganz andere Nummern. Das hier war schon intim. Ich war um 19 Uhr zum Einlass da, kam über den EMI-Counter als Pressevertreter des fiftyfiftyblogs rein (Dank an Jobin von EMI – ein sehr netter Kontakt per Mail. Leider haben wir uns vor Ort nicht gesehen) und stand ziemlich weit vorne. Vielleicht 10 Meter von den Jungs entfernt. Habe zwei Stunden in der Menge gewartet. Dann kamen “der Imhoff und der Briesch” als Anheizer auf die Bühne und bald darauf Coldplay.

Ich kann gar nicht sagen, was das mit mir gemacht hat. Fast war es zu intensiv. Danach bin ich rausgetorkelt und war froh, dass mir niemand eine Kamera oder ein Mikro vor die Nase gehalten hat. Ich saß im Auto, bin die 60 Kilometer über die Autobahn durch die Nacht nach Hause gefahren und spürte, wie mein Gehirn versuchte, für das Erlebte einen Platz zu finden. Heute Morgen weiß ich, das ist keine kleine Ecke, das ist ein Raum, ein Tresor. Ich spüre die Musik, höre die Songs. Heute Morgen zum Cappuccino erst einmal “Viva la Vida” volles Programm.

Chris Martin. Was für eine Stimme. Was für ein Typ. Keine Drogen. Hat Griechisch und Latein zu Ende studiert. Macht jeden Morgen eine Stunde Yoga. Hat Kinder, eine Familie. Keine Skandale. Und eine Bühnenpräsenz, die seine Stimme direkt in die Gefühlszentren trägt. Tanzt und springt über die Bühne, ist mitten in der Musik. Sitzt am Klavier, haut in die Tasten, schnappt sich die Gitarre. Was die Band in 75 Minuten, begleitet durch einen pompösen Laser und geniale Lichtwelten, auf die Bühne gezaubert hat, war grandios. Vollblutmusiker. Jonny Buckland, Guy Berryman, Will Champion. Jetzt bin ich doch bei den plumpen Superlativen, die keine Steigerung mehr erlauben. Es geht nicht anders. Über das Konzert geht für mich so schnell nichts drüber.

Ihr könnt euch selbst ein Bild machen – visuell und akustisch. Das Konzert wird nächste Woche Montag live im WDR-Fernsehen übertragen. Rockpalast, ab 23:15 Uhr. Hier jetzt noch zum Schluss der Link zu den Konzertfotos von Thomas von der Heiden. Meine Fotos sind leider mehr als bescheiden, weil ich nur Zoes kleine Kamera dabei hatte. Die Nikon ist in Holland und hätte auch nicht ins Konzert gepasst. Außerdem wollte ich eh lieber die Musik hören. Aufsaugen, in mir anreichern, abspeichern. Das Gehirn ist das dann doch das beste Mitschnittgerät der Welt.

Danke EMI, danke 1Live. Danke Coldplay. Mylo Xyloto ist bestellt. Klar.

Ja, Papa Papandreou

Gestern war Feiertag, dennoch habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Geschrieben. Und mir ein wenig mehr Zeit als üblich für Blog, Tumblr und Twitter genommen. Das nennt man wohl einen Easy-Going-Arbeitstag. Am Abend bin ich dann kurz auf Spiegel Online, um die Lage zu checken. Ich traute meinen Augen nicht. Papandreou will Volksentscheid! Ich dachte: No! Jetzt geht der ganze Zirkus wieder von vorne los. Volksentscheid im Januar. Eiertanz über Monate. Bitte nicht!

Doch dann dachte ich: Ganz schön pfiffig, der Papa Papandreou, der Landesvater der Griechen, der Zeus, der mit den Füßen im Hades steht, der den Kampf gegen die Titanen führt. Pergamon. Richtig, ne, da war doch was? Die Wiege der Demokratie. Das Land der Philosophen. Die großen Diskurse und Diskussionsrunden der antiken Antike, des Prototyps der Antike, des Originals. Rom war schon Retro. Europa aufgewärmt. Amerika verblasst.

Was macht er? Nun, er sorgt dafür, dass die Griechen über das Schicksal Griechenlands entscheiden. Dass aus einem Finanzdebakel mit technisch geprägten Finanzgesprächen auf Europa- und Weltebene wieder ein Politikgespräch wird. Griechenland steht mit dem Rücken an der Wand. Die Menschen spüren das, gehen teilweise auf die Straße. Die Krise ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Opposition. Ich stelle mir vor, was sich Frau Merkel hier in Deutschland anhören könnte, würden Bezüge gekürzt, Steuern drastisch erhöht, Wachstum wegbrechen, Investoren ausbleiben, Schulden einen Multiplikator per Zinsschraube erhalten. Das wäre nicht lustig. Für niemanden.

Und so scheint es, dass dieser Volksentscheid eine Zerreißprobe wird. Der Dax ist mal wieder abgeschmiert, den Profibankern wird es zu heiß. In deren Haut möchte ich auch nicht stecken. Rauf, runter, runter, rauf. Ich hoffe, die treiben Sport und essen gesund, sonst gibt es irgendwann die Finanzkrisen-Invaliden. Veteranen des tobenden Finanzkrieges, in dem sich die Völker Europas gegenüber stehen. In Form von Bankern und Investoren in der ersten Reihe. Das ist battlefield mit Staatsanleihen. Da gibt es Hebel statt der dicken Berta.

Die Griechinnen und Griechen dürfen also abstimmen. Dürfen über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sehr mutig. Sagen sie nein, wird es trotzdem weitergehen. Natürlich ganz anders. Dann jedoch wird Europa über Nacht ein anderes sein. Dann wird sich gezeigt haben, was fehlt. Dann wird man sich Gedanken machen müssen, woran die europäische Idee krankt. Solidarität. Denn: Griechenland hat nie in den Euroraum gepasst. Es hat nie die wirtschaftliche Stärke gehabt, um mit den großen Volkswirtschaften mithalten zu können. Deutschland, Frankreich, Italien – das sind voll industrialisierte Staaten irgendwo an der Spitze der Weltökonomie mit enormen Einnahmen. Die stehen für den Wert des Euros, den hohen Preis. Für die Griechinnen und Griechen ist der teure Euro eine Fessel, ein Knebel, ein Hindernis. Es funktioniert nicht, wenn es keine Solidarität gibt. Es reicht nicht zu sagen: Ihr macht alles falsch. Wer A sagt, muss B sagen. Wer Europa will, muss Europa leben. Wer Griechenland in den Euroraum holt, muss Griechenland unter die Arme greifen. Nicht erst dann, wenn das Kind in der Mitte des großen Flusses abtreibt.

Nun kommt also das Referendum, vor dem die Welt zittert. “Ein Geniestreich”, wie Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung auf Spiegel Online meint. Griechenland ist zurück auf der politischen Bühne, hat das Schicksal in die eigene Hand und Verantwortung genommen und sich damit ein wenig von den Demütigungen der letzten Monate erholt. Wir wissen aus der eigenen Vergangenheit was mit gedemütigten Völkern geschieht. Deutschland nach dem ersten Weltkrieg. Kein Atmen mehr, keine Selbstbestimmung, kein Selbstwertgefühl. Das treibt unheilsame Kräfte an die Oberfläche.

Denn, wie fühlt es sich heute an, Griechenland zu sein? Kein schönes Gefühl, wenn alle mit dem Finger auf einen zeigen und Worte wie “Betrüger” und “Steuerhinterzieher” fallen. Wenn man mit dem Rücken an der Wand steht und herumgeschubst wird. Im Januar werden wir definitiv deutlich mehr Klarheit haben. Ein Volk wird sich entschieden haben. Nicht die Finanzmärkte entscheiden. Diesen Prozess nennt man Demokratie. In diesem Fall ein Drahtseilakt, Hochseilakt, bei dem alle zuschauen und Angst vor der Panik in der Menge haben. Wir werden sehen.

Schwimmen mit dem Enkel des Monsieur Hulot

Ich gebe ihm einmal den Namen Bruno. En francais c’est: Brünoo. Der Enkel des Jaques Tati, des Monsieur Hulot, der sich 1953 filmisch in den Ferien tummelte. Ich bin ihm begegnet. Nicht Jaques, nein, bewahre, Bruno. In den Ferien, wie hätte es anders sein können. Das Leben verläuft in Parallelen, um zu sagen “Seht her, ich bin wunderbar und voller fantastischer Zufälle.”

Es hat mich, der Ferien und der Kinder wegen, die bewegt werden wollten, in dieses öffentliche Hallenbad getrieben. In dieses Aquarium voller badebeanzugter Menschen mit ihren so unterschiedlichen Körpern und Stilen.

Erinnerung, Traum, Wirklichkeit, Schrei. Im Hintergrund donnert Musik. Der dicke Bademeister hat das Gemeindekonzept zur Steigerung der Besuchszahlen mit fetten Bassboxen umgesetzt. Rihanna knallt durch die Becken. Die Kleinsten müssen aufpassen, vom Beat der Boxen nicht vom 3-Meter-Brett gefegt zu werden.

Ich versuche, mich hineinzubegeben in diese Welt der Freude. Lasse meine ungelenken Knie grooven, so wie alles es machen. Stelle mich mit den Kindern in die lange Reihe der Wartenden, die alle rutschen wollen. Mit einem dicken Gummireifen unter dem Arm die enge Wendeltreppe hoch. Bumm, bumm. Vor mir ein junger Mann. Unheimlich dick. Mit Boardshorts und darunter befindlicher Unterhose. Feinripp. In Augenhöhe das tiefe Tal zwischen den Arschbacken, die Ritze. So eng die Wendeltreppe, wohin blicken. Weil alle nass sind, tropft es. Von oben. Das Wasser die Körper herab zu den Füßen und von dort im Takt tropf, tropf über die Zehen auf die Stufen und von dort herab auf meinen Kopf, meinen Körper. Ich versuche nicht an den Weg zu denken, den das Wasser gegangen ist. Ritze.

Einmal. Der Kinder wegen. Dann ist gut. Dann gehe ich duschen. Abseifen. Desinfizieren. Die Kids sagen: Rückwärts! Ich habe nichts zu verlieren, denke ich fälschlicherweise und mache mich zum Papadeppen. Rückwärts die Rutsche runter! 40 Meter durch die Dunkelheit schlage ich atemlos unten im Auffangbecken ein. Adrenalin. Vollidiot, was denkst du dir? Überlebt, das ist die Hauptsache.

Die Musik wummert die Charts runter. Da muss noch jemand schnell die Welt retten und vorher seine Mails checken. Bumm. Ich ziehe mich zurück, so wie man sich inmitten eines Menschentsunamis zurückziehen kann. Ergattere einen Liegestuhl neben den Sprungbrettern. Im Sekundentakt Anlauf, Schrei, Platsch. Raus aus dem Aquarium, Modenschau an mir vorbei. Dicke Bäuche, kurze Beine, lange Arme, dicht behaart, krumm gewachsen. Alle lächeln, mehr oder weniger. Gezwungen und echt.

Ich lese Freiheit von Jonathan Frantzen. Das ist sie also. Die Freiheit. Bumm, bumm. Lese das Buch, sehe die Sprünge, entdecke Bruno. Nein. Der sieht ja aus wie der kleine Tati. Hühnerbrust, lange Spargelbeine, runder Rücken, Kurzhaarfrisur mit abstehenden Ohren und spitzer Nase. Die großen Füße des Bernhardiner Welpen schlappen an mir vorbei. Die Badehose stimmt. Schwarz, knielang. Wo kann man eine solche Hose kaufen? 1953, Bretagne. Es muss ein Erbstück sein. Der Dreier öffnet, the show must go on, die Musik schmeißt die Künstler mit ungeahnter Kraft aus der Höhe herab. Todesmutige Drehungen, die selten die 360 Grad schaffen. 330, 390, 410, 270. Zahlen, die für Schmerzen stehen, ungelenkes Eintauchen, Aufplatschen. Try and error. Wieder hoch. Egal. Ein Indianer kennt nur den weg nach vorne.

Keiner ist dabei so einzigartig wie Bruno. Er zelebriert den Sprung. Frantzen, wer schon ist Frantzen? Was hat der gegen diese Show zu bieten? Bitte. Bruno geht vorne ans Brett. Ich erwarte eine mehrmaliges Anhüpfen und kunstvolles Abfliegen. Mais non. Er schaut, nimmt den Raum auf, sieht in die Ferne. Dreht ab. Wird er gegen die Schlange die Leiter herab steigen? Bruno geht bis ans Ende. Schlappt. Die Bärentatzen am Boden, der krumme Rücken, die durchatmende Hühnerbrust. Don Quichotte de la Mancha kommt mir in den Sinn. Das Springen von 3-Meter-Brettern ist das Anrennen gegen Windmühlen.

Bruno erreicht das Ende des Brettes, dreht sich, beugt sich vor – ganz klar ein Tati – atmet tief und rennt, rennt, rennt und springt und fliegt und rudert und zerschellt in den Tiefen des azurblauen Plastikmeeres im Bumm, bumm des Chlorbeckens. Ein Held. Er paddelt zum Beckenrand, erklimmt die Leiter. Erst sehe ich den durchwirbelten Haarschopf, dann die spitze Nase, die winkenden Ohren, die sich wölbende Brust und ein breites, siegvolles Grinsen. Der Sprung seines Lebens. Zehn mal die innere Zehn für Wagemut, Haltung, Eintauchphase. Elegance. Spratz.

Adieu, Frantzen. Du hast mir an diesem Tag wirklich nichts mehr zu bieten. Wechsle die Fronten und werde zum Kampfrichter im Haifischbecken der Eitelkeiten. Salti, missglückte Schrauben, Freuden- und Schmerzensschreie. Egal. Der Mann vom Einer. Den Anderthalbfachen mit Highspeed in die Waagerechte gesprungen und mit gespreizten Beinen gelandet. Irgendwie zum Schluss ein Rad geschlagen. Hätte ich doch eine Zeitlupe. Wie soll ich da gerecht bewerten? Aua. Kleiner Bauchansatz, Haarverlust, die Eierkneifer-Badehose höher gezogen als nötig. Ästhetisch unannehmbar. Er ist stolz auf sich. Was für ein Sprung. Ich spüre die Schmerzen, er den Erfolg. Klettert wie ein Klippen herunter springender Südamerikaner aus dem Becken und stellt sich wieder an. Gleich hinter die kleinen Mädchen und Jungs, denen die Taschen und Schildchen aus den schief gerutschten Bademoden hängen. Hier ist nix gerade. Alles schief, verbogen, krumm. Bumm, bumm.

Direkt hinter ihm Bruno. Teambuilding. Die Weitspringer. In direkter Reihenfolge. Der waagerechte Anderthalbfache ist einstudiert. Ich glaub es nicht. Der zweite Sprung identisch, der Schmerz hat Methode. Wieder mit gespreizten Beinen eingeschlagen. Bruno wieder nach vorne, nach hinten, vorgebeugt, Anlauf mit Vollgas und Bob Beaman acht Meter Neunzig. Mindestens. Einschlag. Der prügelt Glücksgefühle aus dem Körper in die Blutbahn, anders ist das Lächeln nicht zu erklären.

Drei Stunden. Familientarif. Ich sammle die Kinder ein, beziehungsweise schaue, was von ihnen übriggeblieben ist. Bumm, bumm. Alle unter die Dusche. Bruno. Unfassbar. Selbst das Duschwasser schwingt im Takt. Der dicke Bademeister hat zum Abschied noch einmal an den Reglern gedreht. Da geht was. Hoffentlich baut sich im Becken keine soundgetriebene Monsterwelle auf. Es wäre schade um den kleinen Tati und all die anderen Helden des Alltags. Herabgespült von den Höhen des Triumphbogens. Au revoir. Es wäre wirklich schade.