“Jetzt kommt die Oma aus dem Altenheim”

Manchmal macht dich dein Leben so klein mit Hut. Comming back. Samstagmittag wieder auf die Autobahn in Richtung alte Heimat. Eine der alten Heimaten, die wohl die wichtigste der alten Heimaten ist. Eifel. Kaisersesch. 1974 im Alter von neun Jahren hingezogen in ein Haus in der Gartenstraße. Später in Cochem an der Mosel zur Schule gegangen. Jeden Morgen runter aus der Eifel an die Mosel und dann den Burgberg rauf in die Schule. Mittags mit Speed zum Bus. Durch Touristenmassen drängeln. Bei Schnee in der Eifel: frei. Bei Hochwasser an der Mosel: frei.

Ich war Turner, spielte Trompete in der Blaskapelle meines Dorfes, die heute Stadt ist. Mein Vater war durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt, meine Mutter routete ihre drei Jungs durch das Leben. Manches lief schief, es gab Unfälle, manchmal war kein Geld da, aber wir waren eine Familie und meine Mutter immer gut gekleidet und eine Frau, die ihren Weg ging.

Sie hat ein Haus umgebaut, stand mit uns in der Metro bei den Bohrmaschinen, hatte zwei Turngruppen, gab als Floristin Blumensteckkurse und verkaufte für die Hamburg Mannheimer in der Eifel Versicherungen. Irgendwann so erfolgreich, dass sie ständig belohnt wurde. Reisen, Goldbarren, Silberbarren. Frau Schönlau war immer eine Kämpferin, eine Schönheit, eine Macherin und Institution.

In meiner Kindheit war ich oft mit ihr im Wald unterwegs und wir haben Dinge gesammelt für ihre Blumensteckkurse. Wir haben über das Leben geredet und über den Horizont unserer kleinen Welt hinausgesehen. Als ich später am Theater war, als Hospitant in Aachen, später im Osten, dann in Heidelberg und Mannheim, waren meine Eltern bei jeder Premiere. Sie haben mich gehen und fliegen lassen.

Ich war weg. Weit weg und weiter.

2012 ist mein Vater gestorben, 2018 ist meine Mutter an Leukämie erkrankt. Fast wäre sie gestorben. Ist sie nicht. Nun lebt sie in Cochem in einem “Altenheim”, wie sie sagt. War ein langer Weg dorthin. Mein Bruder ist vor Ort, kümmert sich. Seit Dezember reagieren wir auf alle Entwicklungen, sprechen uns ab, meine Liebste und ich fahren in die Eifel und helfen, wo wir können. Dier erste Zeit habe ich jeden Tag eine Stunde mit meiner Mutter telefoniert, jetzt hört sie nicht mehr. Die Medikamente, die Psyche. “Wenn man nicht hört, ist man sehr einsam.”

Ich kehre zurück in die Eifel. Die letzten Monate waren intensiv und bei aller Herausforderung schön. Familie. Heimat. Meinen Bruder treffen, der vor zwei Wochen geheiratet hat. Seine Frau Schönlau. Die beiden sind herzzerreißend. Junggesellen*innenabschied, Hochzeit in der Eifel. Bis früh in den Morgen. Menschen aus meiner Vergangenheit treffen. Bist du es? Ja. Ich bin es. Wo warst du? Weg. Ich war weg. Weit weg.

Jetzt bin ich zurückgekehrt. Mental.

Heute waren wir mit meiner Mutter in Bad Bertrich. Ein Kurort unweit der Mosel. Ein sehr besonderer Ort. Am Tag, bevor mein Vater starb, war meine Mutter mit ihm dort. Sie saßen in dem Cafe, in dem wir heute waren, und mein Vater aß Lachs mit Reibekuchen. “An dem Tisch dort.” Sie hatten sich Zeit genommen, einen Nachmittag bis in den frühen Abend in dem Cafe verbracht. Viele Jahre zuvor, als meine Eltern noch in Westfalen, im Lipperland lebten, waren sie nach Bad Bertrich und an die Mosel gekommen. Und mein Vater hatte gesagt: “Hier möchte ich alt werden.”

Wenn Eltern alt werden oder sogar sterben, bekommen mehr Dinge eine Bedeutung. Es macht einen dünnhäutig bis demütig.

Wir haben sie in ihrem Zimmer abgeholt. Sehr schön mit großer Terrasse und Blick auf die Reichsburg Cochem. Ich könnte heulen wegen all dieser Kreise, die sich schließen. Dieses Schicksalhafte ist größer. Als wir kamen, trafen wir sie im Speisesaal. Es gab Rinderbraten mit Rosenkohl und einem sehr leckeren Eis zum Dessert. Der Koch, ein Freund meines Bruders, der zu dessen Hochzeit das Buffet geliefert hat, bringt jedem Einzelnen das Essen. Alles ist liebevoll und schön. Voller Respekt. Als ich meine Mutter am Abend der Hochzeit meines Bruders spät brachte, öffnete eine Schwester und empfing meine Mutter mit einem Lächeln und “Schön, dass Sie da sind. Wie war die Hochzeit?”. Das hat mir gefallen.

Als wir in den Speisesaal kamen, saß sie neben Luzie. Luzie gehörte zu einer ihrer beiden Turngruppen. Hausfrauen-Turnen am Mittwochabend. Luzie hatte zu meiner ersten Lesung in Aachen kommen wollen, ihr Mann hatte das nicht gewollt. Sie begrüßte mich mit einem freudigen Blick und erzählte, wie ihr meine Mutter im Blumensteckkurs die drei Blumen, die sie arrangieren sollte, wieder aus der Vase gezogen hatte. Sie umarmte mich.

Mama, was machen wir heute? Möchtest du nach Bad Bertrich? Ja, sie wollte. Wir verließen ihr Zimmer. Sie lächelte und sagte: “Jetzt kommt die Oma aus dem Altenheim”.

Sie war immer eine moderne, selbstbewusste, eigenständige Frau. Jetzt ist sie sehr müde, schläft viel, hört wenig und lebt in einem “Altenheim”. Es ist schwer für sie. Es ist schwer für uns. Es ist schwer, am Ende des Tages zu gehen. Vieles verliert an Bedeutung, wenn man seine Mama so sieht. Meine Kinder gehen gerade in die Welt. Max ist eben quasi ausgezogen. Nach Köln in eine WG. Er studiert jetzt und lebt dort. Pella ist in Australien. Die Welt ist weit, das Leben intensiv.

Bleibt das Schönste, dass alles von Liebe getragen ist. Familie ist Heimat, ist Köln, Australien, Cochem, die Eifel. Und sie ist hier auf dem Land im Oberbergischen in diesem kleinen 30-Seelen-Dorf Mühlhausen.

P.S. – die Burg Eltz kenne ich gut – die Klassenfahrten meiner Kindheit.

Mit Barbara Schachtner durch das Deutzer Zentralwerk der schönen Künste

Für Sebastian

Letzte Woche erreichte mich eine Mail mit der Frage, was mit dem fiftyfiftyblog los sei. Alles in Ordnung? Yep. Alles im grünen Bereich.

Nur: Die Dinge ändern sich. Viel ist derzeit von Transformation die Rede. Auf dem Weg zur Arbeit kürzlich hörte ich im Deutschlandfunk einen Bericht über ein Soziologentreffen in Jena. Transformation, Veränderung, Neudenken von Gesellschaft. Es ist viel los im Staate Dänemark und es gibt viel zu tun, um all die Fragezeichen in den Köpfen der Menschen durch grüne Häkchen zu ersetzen.

Transformation. Ein Ort, der Transformation lebt. Anja Kolacek, Marc Leßle, raum 13 und mittlerweile eine Heerschar Helfender und Unterstützender. Menschen, die anpacken, mitdenken, mitgestalten. Nur kurz: Es geht um einige verbliebene Hektar Land in Köln. Irgendwo zwischen Deutz und Mülheim. Hier wurde der Otto-Motor erfunden, von hier startete die Ära des Automobils und der Individualmobilität. Im Jahr 2019 durchaus ein Thema, das beschäftigt.

Ein Ort mit Kraft und Vergangenheit, der zwischen Bewahren und Verkaufen an Immobilieninvestoren schwebt. Platt machen oder überführen? Bagger oder Denker? Sprengen oder transformieren? Wohnen oder leben? Alles zum Thema findet ihr auf der Seite von raum13.

Gestern Abend hatte raum13 eingeladen, die Erfinderstätte mit der Sängerin und Performerin Barbara Schachtner klanglich zu entdecken. Die Einladung war per Mail gekommen und ich wusste, dass ich das auf gar keinen Fall verpassen wollte. Never ever, wie meine Liebste gerne sagt.

Klanglich erleben. Mit den Ohren sehen, mit den Augen hören, mit den Gedanken spüren. Wir trafen uns im Foyer der alten Fabrik, um uns auf eine Reise durch Räume, Vergangenheit und uns selbst zu begeben. Da sind zunächst die starken visuellen Eindrücke. Die Räume, in denen das Leben dieser Fabrik, dieses historischen Ortes stattgefunden hat. Die Räume des Betriebsrates, der Personalabteilung, der Geschäftsführung. Die Hallen, in denen die Motoren montiert wurden, die Duschräume im Keller, der Hof, der von Betriebsamkeit erzählt.

Bislang habe ich all diese Räume und Orte bei meinen Besuchen fast ausschließlich mit den Augen gesehen. Visuell wahrgenommen. Gehört habe ich die klangvollen Konzerte (irre intensiv – die Musikkollektive rund um Hans-Joachim Irmler), die Diskussionen um Zukunft, die Vorträge zum Thema Zukunftskunst, all die Stimmen der Besucher*innen…

Aber den Ort habe ich bislang nicht gehört. Barbara hat ihn uns gezeigt. Transformation im Kleinen und Großen. Dinge zulassen, die da sind, aber nicht gesehen, gehört werden. Vom echobeladenen Flur in den gedämpften Besprechungsraum der Chefetage. Erst einmal Klappe halten. Hören, wahrnehmen. Sich Raum und Zeit nehmen, dort zu sein. Mit allen Sinnen.

Sensibilität, Zartheit des Augenblicks. Seele. An einer Wand das Zitat: “Wir erleben die größte seelische Veränderung seit der industriellen Revolution.” Das Wort Seele hat mit gut getan. Meine habe ich kurz durchflackern sehen, hören. Man muss die gewohnten Pfade verlassen, um wahrzunehmen, was ist, um zu denken, was sein kann. Darum geht es an diesem wunderbaren Ort, der seit Jahren aufgeladen wird durch Menschen, die bereit sind.

Querdenken, wird das lapidar genannt. Aber, verdammt nochmal, wie macht man das? Mal eben quer denken? Nicht mehr geradeaus stringent, nach Norden, Süden, rechts, links? Quer. Dann mal viel Spaß beim Machen. Hinsetzen und quer denken. Klappt doch nicht. Was bitte schön, soll das Quer denn auslösen, wenn man auf geradem Weg unterwegs ist?

Theatrale Werkstatt. Zukunftskunst. Anstöße. Korrektive.

Das ist ein Prinzip. Die Antwort nicht schon kennen, bevor die Frage gestellt ist. Innovation in seiner schönen, nicht ausgelatschten Bedeutung. Die Innovation des Denkens und Fühlens. Sich einlassen, bereit sein, offen.

Hören.

“Hört ihr den Raum?” Au Mann, und wie! Das war der helle Wahnsinn. Du stehst in einem Raum, von dem du glaubst, dass du ihn kennst. Du hast ihn ja schon öfter gesehen. Und dann hörst du ihn. Und dann passiert etwas. Du veränderst dich. Veränderst deine Haltung. Und eben nicht nur zu dem Raum. In deinem Kopf geschieht etwas. Hören, Sehen, Gedanken fließen ineinander und geben ein kompletteres, komplexeres Bild. Das hat sich gut, richtig, schön, seelenvoll angefühlt. Inspirierend.

Wir waren in vielen Räumen, es war eine lange Reise, die nicht hätte aufhören müssen. In den verlassenen Räumen der Chefs haben wir die Räume klingen lassen. “Nehmt euch einen Raum. Lasst ihn klingen.” Einzelne verschwanden, andere hörten vom Flur aus zu. Es entstand ein Klangteppich aus Gegenwart und Zukunft, aus den Stimmen des Jetzt und den Geräuschen der Vergangenheit. Lachen, Schreien, Trommeln traf auf das Klappern der Schreibmaschinen. Hören, was im Raum ist. Fernab des Rationalen. Spüren, wozu unser Geist in der Lage ist. Transformation, verändern, Sinn und Verstand neu justieren.

Das war ein außerordentlich intensiver, erhellender, schöner, wertiger Abend. Es lohnt sich immer wieder, raum13 zu besuchen. Dort geschieht Fantastisches. Hier lebt die Hoffnung, dass sich die Dinge zum Guten wenden lassen. Nicht einfach an Investoren verkaufen, einreißen, Geschichte entfernen, sondern gestalten, entwerfen, quer denken, innovativ sein. Quer denken: Wie wollen wir morgen leben? Den guten Köpfen, den Menschen in Köln Raum geben.

Einmal nicht zubetonieren.

Die Chance besteht. Wie wertvoll dieser Raum, dieser Freiraum, dieses Projekt ist, zeigt sich mehr und mehr. Es sich nicht mehr erlauben, auf die Impulse zu verzichten, die Querdenken, neues, frische Denken, ermöglichen.

Herzlichen Dank, Anja, Barbara, Marc für den Abend und alles.