Kein Ort wie Ruhrort

Endstation

„Das Schönste, was einem im Leben geschehen kann, ist neben Liebe der wichtigen Menschen der Zugang zum künstlerischen Schaffen der Welt.“

Glück, pur.

Das Leben leben. Diesem Normalen auf der Spur. Märklin-Format. Der Pflicht ergeben, den Rahmenbedingungen, den Anforderungen. Dem Geld. Ihr kennt das: Am Monatsanfang kommen die Abbuchungen. Die Versicherungen, die versichern, dass alles sicher ist. Es kostet viel Zeit und Engagement, sicher zu sein. Das Auto versichert, die Haftung, das Haus, den Hund, den Hausstand, das Leben. Am Ende des Jahres ein Strich drunter und ins Schwitzen geraten. Ein lukratives Business.

Fernab dieser bürgerlichen Realität die Kunst. Auch ich in Arkadien. Das Dionysische. Tantra of the Mind. Das Erfüllende. Die Freiheit fernab des Zwangs.

Letztes Wochenende haben Viveka und ich Barbara und Norbert getroffen. Barbara Schachtner vom Ensemble unterwegs und Norbert van Ackeren vom Labor Ebertplatz. Barbara hatte ein Konzert im Kolumba gegeben, in den Ausgrabungen. Barbara singt. Sie ist Opernsängerin. Ihre Stimme inmitten dieses gigantischen Raumes. Ein Steg aus Holz als Tribüne für das Publikum. Darunter die Steine der Vergangenheit. Tiefen, darüber die neuen Wände, Höhen. Dazwischen der Klang. Ich stand dort mit geschlossenen Augen und offenen Ohren. Und offenem Mund.

Anschließend im Funkhaus. Gespräche, Künstler. Eine Verabredung für gestern Abend. LOKAL HARMONIE, Duisburg Ruhrort. Nicht weit von Essen. Um die Ecke. Eine Foto-Ausstellung, ein Film: Buy, buy, St. Pauli. www.buybuy-stpauli.de.

Wir hätten bei Norbert im Atelier in Ruhrort übernachtet. Leider ist er krank geworden. Zwei Jobs, ein Wochenende, ein Flug nach Paris, eine Absage. Wir sind trotzdem gefahren, um dort zu sein in Ruhrort. Seit zwei Jahren planen Norbert und ich einen Besuch seines Ateliers. Die Bilder sehen, die ich noch nicht kenne. Dieses unglaubliche Gesamtwerk, das den Weg in die Museen bislang nicht geschafft hat. Normal, könnte man fast meinen. Das geschieht. Um in ein Museum zu kommen, muss viel geschehen. Es ist Glück, es ist Schicksal, es ist Zufall, es ist der rechte Ort zur rechten Zeit.

Wir sind losgefahren. Ruhrort. Duisburg. Fragezeichen. Man hört dauernd von Duisburg. Duisburg ist ein Klischeegenerator. Die Kanzlerin war da. Schimanski. Bitte, ah.

Tatsächlich ist diese Stadt einfach nur spannend. Was Berlin nach der Wende war, dieser Ort der Möglichkeiten. Was ich dachte, was Dresden sei, bis die Spießer kamen… Herrgott. In Mephistos zur Revolution, im Kampf um Thermomix-Kopien bei Aldi, in der Angst, ein Stück Vorgarten abgeben zu müssen.

Duisburg ist riesig. Geteilt durch den Rhein, die sozialen Faktoren. Hier, dort. Zugegeben: Ich dachte, Ruhrort wäre eher so abgefuckt. Kreuzberg damals. Bröckelnde Fassaden, dunkle Ecken. Und dann: Immer wenn Vorurteile nicht bestätigt werden, geschieht es. FLASH. Bing, Bang. Ups. Respekt, meine Damen und Herren.

Man fährt über die Brücke und sieht den größten Binnenhafen Europas dort liegen. Containerberge. Am liebsten wäre ich sofort abgebogen, um zu fotografieren.

Dann in das Viertel. Links abbiegen. Ruhrort ist wunderschön. Alte, kleine, nicht weg bombadierte Häuser. Harmonisch. Restauriert. Pittoresk, fast. Unglaublich schön. Und doch noch das Schwarze unter den Fingernägeln. Der fette, getunte Benz an der Ecke in der Nacht mit röhrendem Motor. Die Absturzkneipe am Platz. ENDSTATION. Oben ohne Bedienung an Halloween ab 22 Uhr. Falls ihr noch nichts vorhabt…

Und dann: Das LOKAL HARMONIE. Wir treffen Norberts Bruder Wolfgang. An der Wand hängt ein riesiges Bild von Norbert aus der Ausstellung SCHICKSAL. Habe ich Vollidiot verpasst. Einfach durchgegangen.

Wir haben Buy buy St. Pauli gesehen. Ein Dokumentarfilm. Sehr ermutigend, herzergreifend und in erster Linie 100% authentisch. Der klassische Innenstadt- und Stadtteilkampf gegen Investoren. Wer gewinnt am Ende und streicht die Rendite ein? Ratet mal. Au Mann, ey.

Das Schöne an diesem Film: Solidarität. Der ekelhaft überlegene fette Investor aus Bayern, der einfach abwartet, um seine x Millionen einzustreichen. Die Leute rausekelt. Plötzlich werden Gerüste mit Tüchern vor die Fassade gestellt. Monatelang, ohne, dass irgendetwas geschieht. Dann müssen Balkone mit Balken abgestützt werden und plötzlich wackelt das Haus, angeblich, weil die Band MADSEN im Molotov-Club im Hauskeller gespielt hat. Evakuierung in der Nacht. Übersiedlung ins Hotel. Natürlich nur zum Wohle aller. Gedeckt von der Politik. Sachzwänge. Ganz linke Dinger. Das Haus sei so marode, dass es schon bei Musik wackle. Komischerweise war bis zum Kauf durch den Investor alles in Ordnung und dann war plötzlich alles marode. Abriss. Die Politik spielt mit.

Und dann: Werden die Leute zur Weihnachtsfeier durch Investor und Politik geladen und der Bezirksamtsleiter macht Geschenke: Jeder dürfe sich von den Nivea-Shampoos und den Tempo-Taschentüchern vom Gabentisch nehmen. Woooarrrr! Ey.

Das Happyend mit Schatten. Der Protest stärkt die Leute, alle kommen gut unter und plötzlich darf die Bevölkerung bei der Planung mitreden. Weil der Bebauungsplan neu gefasst werden muss. Dem Investor werden ein wenig die Flügel gestutzt, auch wenn er gewinnt und letztlich die Menschlichkeit mit Füßen getreten hat. Es ist zum Kotzen. Es tut weh, das zu sehen. Es ist schön, dass Menschen das nicht durchgehen lassen. Der Film lässt es nicht durchgehen. Auch das ist Demokratie. Die arrogante Geldgeilheit des Investors ist in Bilder gefasst. Das bleibt, für immer. Das ist, ich gebe es zu, am Ende Genugtuung.

Ein beeindruckender Abend. Zurück über die Brücke am Hafen vorbei nach Essen. Dieses Ruhrgebiet ist mit Sicherheit eines der lebendigsten und spannendsten Kulturgebiete Deutschlands und Europas. Ich freue mich, so nah dran zu sein. Und ich freue mich darauf, irgendwann das Norbert van Ackeren Atelier zu stürmen… Ruhrort. Eine neuer Ort in meinem Herzen. Eine Liebe auf den ersten Blick.

Lokal Harmonie

Links zum Beitrag, die ich gerne empfehle:

http://www.kolumba.de
http://ensemble-unterwegs.de
http://www.lokal-harmonie.de

buy buy st. pauli

Interstellar – wollen wir die Erde wirklich verlassen?

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Nun, man kann diesen Film anschauen und interpretieren. Man kann ihn zurecht als ein Meisterwerk unserer Zeit betrachten und ihn beklatschen. Hollywood liefert ganz großes Kino. Im beachtenswerten IMDb-Ranking erreicht der Film bereits eine bemerkenswerte 8,9 von 10. Das katapultiert ihn in der alltime-hall-of-fame auf den 12. Rang. Excellent, Christopher Jonathan James Nolan.

Egal. Vergessen wir einmal den Film. All das Faszinierende um Raum und Zeit, schwarze Löcher und unendliche Unendlichkeit. Das Abenteuer auf der Suche nach einer Überlebenswelt im All. Der Plan B der Menschheit. Ein Blockbuster. Es geht um Katastrophe und Rettung. Ami-Style.

Was mich interessiert: Wieso jetzt?

Kunst und Kultur sind wie die Mode. Sie nehmen Dinge vorweg und kreieren Trends. Deshalb investieren Städte in Kunst, weil sie dadurch vorweg gehen und den Status ANGESAGT erhalten. Kultur ist ein starker Faktor.

Nun dreht dieser Nolan einen außergewöhnlichen Film. Auf die animierten, übers Wasser fliegenden Paramount Pictures-Sterne folgen 169 spannende Minuten. Diese Minuten sind eine Odyssee. Matthew McConaughey (der im Film COOPER heißt!!!), der mit dem Oscar für seine Rolle im Dallas Buyers Club, betritt Neuland und durchfliegt Dimensionen.

Auf der Suche nach neuem Lebensraum.

Das ist der Punkt. Das hat mich berührt. Tatsächlich hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es hier nicht einfach um eine Story geht. Nicht einfach um einen Film, eine Geschichte, die Aneinanderreihung gelungener Bildsequenzen. Mich hat eine Botschaft getroffen. Die Menschen verlassen das sinkende Schiff. Klar, Gedankenspiele. Aber scheinbar rückt der Kosmos ins Zentrum des Interesses.

Hier unten ist es im Zusammenleben aller ein wenig krampfig geworden. Der Club of Rome hat die Horrorszenarien der Entwicklung schon vor langer Zeit an die Wand geschrieben. Nun zeichnet sich ab, das viele Dinge eintreten. Und es gelingt nicht, eine Sprache zu finden. Babel. Es klingt wie eine Kakophonie.

Während sich Wissenschaftler Strategien überlegen, wie die Erderwärmung zu minimieren ist. Wie sich CO2 kompensieren lässt, wie mit den Folgen des weiterhin austretenden radioaktiven Wassers von Fukushima umzugehen ist, halten die Ukraine und die Idioten vom Islamischen Staat die Welt in Atem. Halten wir fest: Im Jahr 2014 freuen wir uns, dass Amerika Islamisten bombardiert. Zeitgleich ist Krieg in der Ukraine und Russland widerfahren westliche Sanktionen. Äh, wie jetzt? Was ist passiert? Da war doch mal G8. Russland als Partner… Gehen wir jetzt rückwärts?

Es scheint ein attraktiver Gedanke zu sein, dort draußen hinter der ISS das gelobte Land zu suchen. Ein Paradies, in dem Milch und Honig fließen. Lieber Planet, wir müssen uns trennen und sagen Adieu. Sorry, wir habens verkackt und nun können wir hier nicht mehr leben. Wir lassen dir die Idioten (Nazis, IS & Co.) hier und entschwinden…

Wollen wir das? Klar, eine Frage zur Unzeit. Noch ist nicht aller Tage Abend. Noch ist die Apokalypse nicht now und Armageddon ist nur ein billiger Vorreiter von Interstellar. Alles Kino. Und dennoch vorstellbarer denn je. Wir setzen die falschen Akzente. Wir vergeuden unsere Energie dafür, den schwarzen al-Baghdadi in Schach zu halten. Jahre, die verpuffen. Kräfte, die sich in Allianzen aufreiben. Sinnlos. Braucht kein Schwein.

Ich bin noch keine 50 Jahre alt und kann mich an Zeiten erinnern, da sah es echt rosig aus. Russland und Amerika hatten sich entschlossen, Abrüstung zu betreiben. Ein Michail Gorbatschow hatte eine Zeitenwende eingeleitet. Ich dachte damals: Nun ist die Welt gerettet. Wie doof kann man sein. Hammerwerfer, Vollpfosten, Kurzsichtige sterben nie aus.

Und so werden Filme gedreht, die die Geschichte der Suche nach neuem Lebensraum im All erzählen. Atlantis. Nicht im Meer, hinter den Sternen… Genau jetzt. Heute im Jahr 2014. Und die Story macht Sinn. Ja, ist überlegenwert. Paff.

O.K. Genug gejammert. Immerhin durften wir Interstellar in der Luxus-Version erleben. Nobel geht die Welt zugrunde. Für eine liebe Freundin hatte ich Webtexte für ihre Hebammenseite geschrieben – sie hat sich mit Gutscheinen für das Residenz-Kino in Köln bedankt. So ein Edelkino mit Ledersitzen und Tischchen und Bedienung und Begrüßungs-Prosecco und Antipasti und Drinks… Himmlisch. Herzlichen Dank, Michaela. Ein außerordentlich schönes und beglückendes Geschenk!

Die Sonnenfinsternis oben, das Foto, ist übrigens eine der Deckenleuchten des Kinos. So. Dann hoffen wir, dass die Wissenschaft schnell einen Weg durch die Wurmlöcher des Alls zu den sieben Bergen findet, wo es sich schön und entspannt leben lässt. Vielleicht gibt es ja für jede Religion einen Planeten, dann wären wir hoffentlich das Problem schon mal los…

Oscar für Matthew McConaughey und Jared Leto

Der transsexuelle Rayon (Jared Leto) und Ron Woodroof (Matthew McConaughey) haben zunächst nur eines gemeinsam: Beide sind HIV-positiv  © 2014 Ascot Elite Filmverleih GmbH
Der transsexuelle Rayon (Jared Leto) und Ron Woodroof (Matthew McConaughey) haben zunächst nur eines gemeinsam: Beide sind HIV-positiv
© 2014 Ascot Elite Filmverleih GmbH

Da hat er also gewonnen, der Dallas Buyers Club. Zwar nicht auf ganzer Linie, nicht als der Film, aber doch in drei Kategorien – darunter Bester Hauptdarsteller, Matthew McConaughey, und bester Nebendarsteller, Jared Leto.

Das hat mich sehr gefreut, insbesondere, dass sie beide einen Preis bekommen haben. Und: Den haben Sie auch verdient. Obwohl es in diesem Jahr eng war. Die American Hustle-Crew war auch nicht schlecht und Scorseses The Wolf of Wallstreet knüpfte mit seinem Ensemble an gute alte Kinozeiten an. 12 years a slave habe ich mir nicht angeschaut – den Gewinnerfilm des Abends. Die Vorschau war mir zu brutal.

Mein Favorit war American Hustle. Nun gut. Auf jeden Fall freue ich mich, dass Hollywood wieder besseres Kino macht und man scheinbar auch wieder mit Anspruch fernab von Animation Zuschauer begeistern kann. Geschichten aus dem fast wahren Leben. Schräge Typen, Schicksale, durchgeknallte Biographien, Kriminalität, Drogen, Sex – beste Zutaten.

In diesem Jahr habe ich mir im Vorfeld einiges angesehen und es hat mir gefallen, was da über den Teich gekommen ist. Geschichten mit Menschen. Ist da ein neuer Realismus ausgebrochen? Amiland punktet, während good old Russland auf der Krim ins Hintertreffen gerät. Alles immer in Bewegung, alles ein großer Film mit wechselnden Besetzungen – und Besatzungen.

Ich Liste euch mal hier meine Rangfolge auf mit den entsprechenden Links zu den Trailern:

American Hustle
Dallas Buyers Club
The Wolf of Wallstreet

Großes Kino: Dallas Buyers Club

Ron Woodroof (Matthew McConaughey) ist nicht gewillt, nach der Pfeife der US-Behörden zu tanzen.  © 2014 Ascot Elite Filmverleih GmbH
Ron Woodroof (Matthew McConaughey) ist nicht gewillt, nach der Pfeife der US-Behörden zu tanzen.
© 2014 Ascot Elite Filmverleih GmbH

Wisst Ihr mit dem Namen Matthew McConaughey was anzufangen? Vielleicht, wenn Ihr Filme wie Der Hochzeitsplaner(2001), Wie werde ich ihn los – in zehn Tagen? (2003), Zum Ausziehen verführt (2006) oder Der Womanizer – Die Nacht der Ex-Freundinnen (2009) gesehen habt. Ich habe, wie das Leben so spielt, obwohl das nicht meine Favoriten sind. McConaughey kam mir in diesen Filmen immer recht oberflächlich vor. Ich meine, er spielte Oberflächlichkeit, klar. Tja. Aber ich habe von den Rollen auf den Menschen und Schauspieler geschlossen. Das war ein Irrtum. Da habe ich mich doch jetzt glatt beim wilden Schubladendenken erwischt. Sorry, Matthew.

Ich meine, er hat getan, was Schauspieler tun: Rollen gespielt. Und ich habe ihm mal eben das Etikett Leichte Muse ans Revier geheftet. Shit happens. Im letzten Jahr irgendwann sah ich dann auf Spiegel online ein Foto von ihm. Das war kurz nach den Dreharbeiten zu Dallas Buyers Club. Er war total abgemagert und ich dachte auf den ersten Blick: Hey, Shit, den hat es erwischt. Krebs, Drogen, Absturz. Nicht wiederzukennen.

Und nun das. Ich habe meinen Augen und Sinnen nicht getraut. Ist das tatsächlich Matthew McConaughey? Mann, was der da spielt, das bewegt, nimmt mit im doppelten Sinne. Haut um. Dallas, Texas 1985. Ron Woodroof ist Elektriker, arbeitet auf den Ölfeldern und schlägt sich darüber hinaus mit Dealen, Bullenreiten und windigen Rodeowetten durch. Er hasst Schwule, liebt harte Drinks aus der Flasche und Sex.

Die Diagnose HIV-positiv inklusive AIDS-Ausbruch mit verbleibenden 30 Tagen kann er nur belächeln. Fickt euch, Ihr Wichser. Das ist im Film häufig zu hören, hilft Ron aber nicht, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er die vermeintliche Schwulenkrankheit in sich trägt.

Eine wahre Begebenheit. Der Kampf beginnt. Die 30 Tage laufen ab, Ron lebt weiter. Sitzt in Bibliotheken, liest, kämpft. Er bekommt die Adresse eines Arztes in Mexiko, der AIDS-Patienten hilft. Während die Pharma-Lobby auf Gewinne mit einem zweifelhaften Medikament setzt, das die Kranken eher tötet als heilt, entwickelt dieser Arzt einen Cocktail, der das Immunsystem stärkt und hilft, etwas gegen die zahllosen Symptome zu tun sowie das Leben zu verlängern.

Im Film rückt man Stück für Stück an Rons Seite. Ist man anfangs meilenweit von ihm entfernt, kommt man ihm Szene für Szene näher. Stellt sich an seine Seite, kämpft mit ihm. Das Schöne: Ron ist kein Heiliger. Keine Mutter Theresa, beileibe nicht. Aber: Er ist ehrlich und hat, natürlich, letztlich doch das Herz am rechten Fleck. Im Krankenhaus lernt er einen Schwulen kennen. Wunderbar gespielt von Jared Leto. Sie werden Freunde, auch wenn die Distanz als Fassade bleibt. Die beiden gründen den Dallas Buyers Club, im dem HIV-Infiszierte Medikamente bekommen können. Solche, die nicht zugelassen sind, aber helfen. Klar, dass das nicht gutgeht und die offizielle Seite alles tut, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Und selbstverständlich ist da die Pharmalobby mit anderen Interessen im Hintergrund.

Dennoch lässt sich Ron nicht unterkriegen. Er fliegt durch die Welt auf der Suche nach neuen, besseren Mitteln. Er sucht Auswege, Gesetzeslücken. Was er an Gesundheit verliert, gewinnt er an Haltung. Er verkauft seinen Cadillac, um aidskranken Schwulen zu helfen.

Sehr bewegend. Die Handlung, die wahre Begebenheit, die Erinnerung an die Zeit, als AIDS aufkam, an die ersten Bilder der abgemagerten Infizierten. Ich erinnere mich an die Schock-Werbe-Kampagne von Benetton, die u.a. das Foto eines sterbenden AIDS-Kranken in den Städten zeigte.

Ein sehr dichter Film, ein sehr glaubwürdiger Film, ein sehr guter Film, der unter die Haut geht. Vor allem, weil Matthew McConaughey unglaublich ist. Wie verwandelt. Komplett abgemagert, das Gesicht eingefallen, null Sunnyboy mehr. Klar, er spielt zunächst einen egoistischen, texanisch verblendeten, fluchenden, saufenden, rumvögelnden, sexistischen Kotzbrocken. Kompromisslos. 100%. Und klar, es kommt der Wandel. Die Veränderung. Es gelingt ihm, die so fein und in kleinen Schritten zu spielen, dass es einen umhaut. Der Mann kann was. Er könnte einen Oscar für seinen Ron Woodroof bekommen. Meine Stimme hat er.

Nicht zuletzt auch, weil er gute Dinge zu sagen hat und – wie der Spiegel schreibt – neben Tagebuch Gedichte schreibt. Ich glaube, das ist einer, der uns allen noch viele gute cineastische Momente bescheren wird. Einer mit Potenzial. Das wird einer, würden meine Jungs in der Fußballkabine sagen, wäre Matthew McConaughey ein Fußballer. Ich sage mal: Das ist einer. Großes Kino, ein Film, der nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird. Fünf Sterne und einen auf dem Sunset Boulevard.

Infos zum Film samt Trailer: hier. Das lesenswerte Spiegel Online Interview: hier.

Mit den Coen-Brüdern und Thomas Schütte in Essen

Museum

Großes Kino!

Eigentlich. Genau, da weiß man schon. Das Gegenteil von dem, was am Anfang steht: In diesem Fall von ich wollte ein ganz ruhiges, entspanntes Wochenende in Essen verbringen. So mit lange schlafen, gemütlich frühstücken und chillen all day long, wie meine Kinder sagen würden. Aber erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt. Mir war vor der Abfahrt die CHOICE in die Hände gefallen – so ein Stadt-Kultur-Magazin aus Köln. Vorne drauf eine Szene aus dem neuen Jim Jarmusch-Film. Jim Jarmusch. Night on earth. Lange her. Wynona Rider, Armin Mueller-Stahl, Roberto Benigni und die Leute von Aki Kaurismäki.

Das hat wohl mein persönliches Kulturzentrum ins Schwingen gebracht. Plötzlich war der Wunsch da, Kinoluft zu schnuppern und das Wochenende doch ein wenig anders zu nutzen. Ich hab Viveka gefragt, sie ist eingestiegen in den Plan B. Allerdings wurde es nicht Jim Jarmusch, sondern Inside Lllewyn Davies von den Coen-Brüdern im Essener Kunstfilm-Kino Astra. Schön alt, der alte Saal. Richtige Kinositze von früher, ein sechsziger Jahre Kronleuchter, eine Bühne mit Vorhang – und das alles in einem runden Raum (war er wirklich rund, oder denk‘ ich das jetzt nur?) mit tragenden Säulen. Und entsprechendem linksliberalem Publikum mit Klamotten, die nur an solchen Orten getragen werden. Also genau die richtige Kulisse für einen Coen-Film mit schrägen Typen, die dieses Mal nicht ganz so schräg waren.

Aber auch hier kann es sein, dass ich einer persönlichen Fatamorgana aufgesessen bin. Vielleicht ist es ja nur eine Vorstellung, dass die früheren Coen-Charaktere deutlich schräger waren. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Oder lag es am Genre? Musikfilm. Der Hauptdarsteller Oscar Isaac als singender Bob Dylan-Vorreiter. Folksongs im Amerika des Winters 1960/61. Der Versuch, den Durchbruch zu schaffen. Klappt nicht, weil es eben ein Coen-Film ist. Und die sehen den amerikanischen Traum bekanntlich aus anderer Perspektive. Weniger frohlockend. Dieses Mal hat es mich ein wenig an Kaurismäki erinnert. Was der Typ, dieser Davies, auch in die Hand nimmt, es wird zu Dreck. Nichts klappt. Als hätte sich die Welt gegen Llewyn Davies verschworen. Man kann jetzt nicht sagen, dass der Film Spaß gemacht hat. Also rundweg gut gemacht, aber so richtig ist der Funke nicht übergesprungen. Wahrscheinlich einfach, weil es keine Freude bereitet, dem Verlieren tatenlos zuzuschauen.

Am nächsten Tag dann Thomas Schütte. So gar kein Verlierer, ganz im Gegenteil. Zumindest, was seinen künstlerischen Erfolg angeht. Ich hatte schon länger vor, ins Essener Folkwang Museum einzukehren. Dieses Wochenende nun sollte es sein. Ich bemühte die amerikanische Firma G mit zwei OO und gle um informative Aufklärung. Was geht? Also eigentlich wollte ich nur nach den Öffnungszeiten schauen, um den Tag planen zu können. Aber was sahen meine Augen? Erstens: Kostenfreier Eintritt an den Adventswochenenden – den übernimmt die Essener Nationalbank, die scheinbar genügend Kohle hat. Bankerstadt Essen, ist ja fast wie in London, wo die Deutsche Bank gerne die großen Museen sponsert. Also Eintritt ohne money. Auf jeden Fall einen herzlichen Dank an die Nationalbanker an dieser Stelle.

Zweitens, als Extra obendrauf: Eine aktuelle Thomas Schütte-Ausstellung. Jetzt könnte ich schreiben: Thomas Schütte, der Thomas Schütte, den ich schon immer sehen wollte… Nee. Ganz ehrlich? Kannte ich nicht. Who the fuck is Thomas Schütte? Hab ich mich gefragt, um vor Ort eines Besseren belehrt zu werden. Im Ausstellungsflyer stand was von einem der berühmtesten Bildhauer der Welt. Puh. Das ist ja mal Superlative. Mehr als Champions-League. Das ist Weltmeisterschaft! Und lässt mich als Ahungslosen mal ziemlich klein erscheinen. Egal. Mut zur Lücke, schließlich habe ich nicht vor, ein Kunstlexikon zu werden.

Auf jeden Fall, nach der Flyer-Ankündigung, da konnte man dann natürlich ein wenig was erwarten. Ich meine, da muss man dem Anspruch schon gerecht werden. Und so war es dann auch. Ich habe Bauklötze gestaunt. FRAUEN. 18 an der Zahl. Aus Aluminium, Stahl, Bronze – auf fette Stahltische drapiert. Körper – mal mehr, mal weniger. Thomas Schütte hat sie in der Zeit zwischen 1999 und 2006 geschaffen. Angeblich, so habe ich irgendwo im Web aufgeschnappt, um sich selbst welche zu fertigen, weil es mit den echten nicht so klappt. Glück im Spiel, Pech in der Liebe. Dann baue ich mir eben eine selbst. Beziehungsweise 18. Da konnte er sich wohl nicht entscheiden. Da er nur bis 2006 formte, nehme ich an, dass er nun eine gefunden hat, die nicht aus Metall ist.

Nun aber genug Respektlosigkeit, schließlich ist der Mann tatsächlich gut. Die Frauen sind ziemlich stark. Mal aus silber glänzendem Aluminium, mal aus grün angelaufener Bronze, mal aus rostigem Stahl, mal mit Metallic-Oberfläche. Mal unkenntlich flach auf den Tisch gezwängt, mal mit Gesicht, mal ohne. Ganz unterschiedlich, ohne Muster. Überraschend. Neu, jede Frau, jeder Tisch ein Leben. Ein wenig wie in der Pathologie. 18 Geschichten, 18 Schicksale, 18 Möglichkeiten. Man schaut sie sehr gerne an, diese Frauen, kommt ihnen nah, versucht, sie zu ergründen, ihre Wesen, ihr Leben nachzuvollziehen. Wer sind sie? Aspekte? Komplette Wesen? Zitate? Sie haben Anziehungskraft, sie sind einem nicht egal, man möchte sie sehen, verstehen, ergründen.

Thomas Schütte ist verspielt. Das verraten seine flankierenden Zeichnungen an den Wänden. Auf Papier. Manche, die nebeneinander hängen, an einem Tag entstanden. Wusch, weggezeichnet, hingehangen. Oft mit Wörtern, Sätzen, Wortspielen drauf. Da sitzt schon irgendwo ein Schalk. Den braucht man wahrscheinlich, um im Hype nicht unterzugehen. Thomas Schütte ist der Ausstellungsstar der Saison. Schütte überall. Ein Schüler Richters, er kommt also aus gutem Hause und hat seine Kunst gelernt. Sie ist schön, figürlich, vom bekannten ins Ungewisse auslaufend – also mit dem schönen Restgeheimnis, das die Kopfkinos des Publikums einschaltet.

Ich war auf seiner Seite, um mehr zu erfahren. Habe weitere Figuren gesehen. Und ein Objekt, das mir auch sehr gut gefallen hat. Ein Ferienhaus. Ein echtes Haus in Österreich, dem eine seiner vielen Frauen gut stehen würde. Aber vielleicht ist da ja mittlerweile gar kein Platz mehr. Hat Thomas Schütte eine Frau? Eine profane Frage, die mich irgendwie am Ende der Betrachtung nicht losgelassen hat. Schließlich ist auch einer der bekanntesten Bildhauer der Welt ein Mensch. Und Mann. Ist er dank seines Erfolges glücklicher als Llewyn Davies? Wer ist oben? Wer ist unten?

P.S. Gerne hätte ich euch hier einige Fotos der Frauen des Thomas Schütte gezeigt, aber wie das Gesetz es will, ist das zu aufwendig. Im Rahmen der aktuellen Berichterstattung dürfte ich meine schönen Fotos der Schütte-Frauen zeigen, müsste sie nach Ende der Ausstellung aber löschen. Sonst würde mich die VG Bild-Kunst anschreiben, um einige hundert Euro zu fordern. Ihr müsst euch also selbst aufmachen, sie zu sehen. Live ist eh besser. Und: Im Advent zahlt die Nationalbank – Friede, Freude, Eierkuchen:) Was können Banken doch nett sein.

Schütte