Essen, Fußgängerzone. 800 Quadratmeter ehemaliger erotischer Geilheit. Onanierende Männer auf mehreren Etagen. Draußen läuft die Konsumflut. Dekoartikel für das Fensterbrett, die Anrichte. Neue Schuhe, Gardinen, Heißluftfön, Jeans – alles, was man tragen kann.
Weihnachtsgeschäft in einer der größten Städte Deutschlands. Vergessen im Ruhrgebiet. Im Westen nichts Neues. Der Kampf um Regeneration tobt, der Wandel, die Perspektiven, die Hoffnung, die erwacht und zuletzt stirbt. Wir befinden uns im Jahr 2014, RWE, der Geldgeber der Stadt, hat verkackt. eON hat gerade öffentlich erklärt: Reitet ohne uns weiter. Wir haben auf Atomkraft und Kohle gesetzt und wundern uns nun, dass wir verloren haben. Guten Morgen, liebe Energiekonzerne, wie wars im Dornröschenschlaf? Wie ist es, wenn man von Prinzessin Angela in der neuen Zeit wachgeküsst wird? Kohle futsch. Adieu, mon amour. Erlaubt mir, euch keine Träne nachzuweinen.
Kunst. Ein viel schöneres Thema. Nobler, sensitiver, eleganter, wacher. Menschen, die hinschauen. Nicht in fetten Limos von Vorstandsfressen zu Vorstandsfressen fahren. Belächelt, Könner. Innen. In diesem Fall.
Die Stadt Essen ist bewegt worden. Von Menschen, die Kunst betreiben. Es hat Besetzungen von Gebäuden gegeben in den Vierteln im Norden. WIR BRAUCHEN RAUM. Ateliers. Hey, hat geklappt. Leute, manchmal überrascht das Leben mit Zeichen und Wundern. Selbstverständlich im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Kein Schäferidyll, aber Mieten ab 3,50 € den Quadratmeter. Wirkt. Funzt.
Beim ART WALK 2014 durften die Menschen der Stadt sehen, was gewachsen ist. Eine Menge. Viveka und ich haben uns einer Führung angeschlossen. Zwei Stunden von Atelier zu Atelier, von Projekt zu Projekt. Es ist pure Wolllust. Eintauchen in Bildwelten. Fantasie, Kraft, Schönheit, Gedankenspreizung. Fernab der Fußgängerzone. Der Autobahnen konventionell bürgerlichen Denkens. Oh ja, wie gerne ich dieses alte Klischee des Verteufelns des Bürgerlichen aufgreife.
Pearls of Delphi. Mein Projekt für diesen Tag. Künstlerinnen in einem alten Pornoschuppen. Beine breit mitten in der asphaltierten Fußgängerzone, das Eingangsbild zwei Schenkel rechts und links der Eingangstür. Es war eine Reinwaschung. Die Showtreppe im Foyer. Hinauf in den abgerissenen Club vergangener Zeiten. Hier liefen die Filme, gab es das Zeugs, die Kabinen, die Lust, all die unschöne, schmierige Männlichkeit. Und nun: Künstlerinnen, die mit ihren Arbeiten das alles wegschieben. Die mit breiter Schulter Weiblichkeit zelebrieren.
Ich könnte hier nun das ganze Projekt präsentieren. Alle Künstlerinnen, die sich zusammengetan haben, um den Raum zu bespielen. Letztlich habe ich mich für zwei entschieden, die mich am meisten bewegt haben. Snezana Dimitrijevic und Linda Wirth. “Holy Life” und “procession”. Malerei und eine Installation.
In zwei Räumen nebeneinander. Abrissatmosphäre. Wie damals die Abrissekstase.
Viveka und ich haben uns vorgearbeitet. Staunenden Auges. Wohin schauen? Was heranlassen? Wo Anknüpfungspunkte schaffen. procession. Da war es so weit. Ein dunkler Raum, in dem Filmmaterial von der Decke hing und düstere Musik Distanz erzeugte. Kunst zeigt sich, wenn sie berührt. Keine Erklärung, keine Erläuterung. Direkt in die Blutbahn, das Nervenzentrum. Nicht als Welle, Tsunami, überbordend, plättend. Aber als ein Eindruck, der einer ist. Wenn Fragen entstehen, sich der Geist bewegt, Fragen entstehen, Neugierde. Wenn man bleiben möchte. Länger als ein kurzes Verharren. Wenn man wissen möchte, wirklich, was das zu bedeuten hat.
procession hat mich gefesselt. Ein dunkler Raum ohne Fenster in einem ehemaligen Erotikcenter. Drei Fotos von Frauen an weißen Wänden in einer heller Ecke. Um dort hin zu gelangen, musste man sich durch Filmbänder durcharbeiten. Linda sagt: Alte Videotapes. Familienfilme. Kriegsfilme. Kampf. Sinnbildlich: Die Katze auf dem heißen Blechdach. Apokalypse now.
Bedrückend, die Szenerie. Die Dunkelheit, die Filmbänder, durch die man sich den Weg bahnen muss. Die Musik, die Fotos. Und gleichzeitig faszinierend, intensiv, gut. Ein gelungener Ort. Wahrheit im Sinne von Authentizität. Geschlechterkampf an diesem Ort, Widerstand, Empfinden, Qual und Ästhetik. Unter die Haut. Empfindsam und grob, eine Mischung, die hält und erzählt, ohne ein Wort zu sprechen.
Ein Raum weiter. Die Nachbarin. Ikonen an der Wand. Ikonen? Ich trau meinen Augen nicht. Zunächst einmal dieser wundersame Raum. Das Foto oben. Die Tapete, der Heizkörper, die Tür in der Ecke, der Blick auf Betonbauten. Wahnsinn. Der Raum von Snezana Dimitrijevic. Irgendwo habe ich gelesen, dass sie in Belgrad Kunst studiert hat. Der Raum it abgewrackt, die Decke demontiert, die Tapete teils abgerissen. Hier hängen ihre Bilder. Ikonen im klassischen Stil. Die Heiligenthemen. Ich muss zugeben, ich war irritiert. Bin von Bild zu Bild und habe mich gefragt: Ikonen? Erotikcenter. Ikonen. Jahr: 2014. Wie meint sie das? Heiliges Leben.
Es war eine spezielle Situation. Ich ging von Bild zu Bild und Snezana Dimitrijevic schaute zu, wie ich mich vorabeitete. Der Blick auf die Ikonen, durch das Objektiv der Nikon. Sie hat mir zugeschaut, wie ich ihre Bilder angeschaut habe. Und dann: Darth Vader. In der Ecke. Neben der Tür, aus der ich gekommen war. PENG! Hey. Mein Bild. Stundenlang rumgelaufen, alles gesehen. Kunst. Vorher hatte ich einen Favoriten. Ein Gemälde, das Nervenzellen darstellt. Sehr fein gemalt. Beeindruckend. Aber dann. Darth. Feingold. Auf Holz. Wenn Kulturen gesprengt werden. Wenn Russland Amerika trifft. Wenn die Teilung in das west- und oströmische Reich in einem Bild aufgehoben wird. Wenn sich Geschichte banal neutralisiert. Wenn Profanes zur Message wird. Wenn ein Darth der Vater des Friedens wird. Ein Bild, das ich kaufen würde, wenn ich Kunst kaufen würde. Es wäre dabei. Auf jeden Fall. Du bist mein VATER. Yepp. Ein Heiliger, so wahr mir Gott helfe. Abflug.