14:59

Tulpen_red

Manchmal ist das Leben ein schmerzliches Unterfangen. Man muss zum Zahnarzt, die Steuererklärung abgeben, Abschiede hinnehmen. Es läuft nicht immer so, wie man es sich wünscht. Die Menschen in Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan können ein Lied davon singen. In diesem Augenblick scheint die Sonne, dann WUFF. Vorbei. Die Liebsten getroffen.

Donnerstag wollte Viveka kommen. Um 17 Uhr. Als sie um 18.30 Uhr noch nicht da war, habe ich angerufen. Niemand wusste, wo sie war. „Ihre Tasche steht hier, die Handtasche.“ Ich wusste nicht. Ruhig bleiben. Dann kam sie zur Tür rein, nahm den Hörer. Ihre Mutter. Ein Herzinfarkt. Anruf des Vaters. Notarzt, Krankenhaus, Intensivstation. Das ganze Programm. Reanimation, Kampf.

Ich komme, sofort. Eigentlich wäre sie gekommen, aber sie konnte nicht. Mit Ela konnte ich nicht sprechen, sie war im Yogaunterricht. Zoe und Jim meinten: Fahr, wir kommen klar. Wie viele dieser Anrufe treffen uns in einem Leben?

Meinen ersten Anruf erhielt ich 1978. Da war ich dreizehn und Klassensprecher der Klasse 7A der staatlichen Realschule Cochem. „Beatrix ist gestern Abend gestorben. Ein Verkehrsunfall, wir besuchen ihre Mutter, kommst du mit?“ Klar. Klassensprecher, Verantwortung. Ich war klein, blond, knuffig. Ihre Mutter hat mich nicht mehr losgelassen. Später sind wir in die Kirche zum Sarg. Ich wusste nicht, dass der Sarg offen sein würde. Das Bild habe ich nicht vergessen. Es war die Zeit, als mein Vater nach seinem Schlaganfall gerade aus der Reha zurückgekommen war. Nach zwei Jahren, halbseitig gelähmt. Manchmal ist das Leben Krieg.

Gestern, um 14:59 Uhr starb Vivekas Mama. Ich saß im Wartezimmer der Intensivstation, als Viveka heraus kam. Das Zickzack der grünen Linie hatte aufgehört. Von 107 auf 0. Eine letzte Bewegung. Unfassbar. Was sagt man angesichts des Schmerzes? Wie Trost spenden?

Von der einen auf die andere Sekunde. Ohne Vorwarnung, ohne Rücksicht, ohne eine Hand, die führt, trägt. Parallel Telefonate mit meiner Mutter, die auch im Krankenhaus liegt, weil das Herz Sachen macht. Normalerweise wäre ich zu ihr gefahren, hätte sie besucht. Es geht ihr gut, es scheint, als liefe alles auf einen Herzschrittmacher hinaus. Sie lebt. Vivekas Mutter ist gestorben und ihr Schmerz tut weh. Mir.

Ich konnte Viveka ein wenig tragen, ablenken, behilflich sein, da sein. Das, was sich machen, tun lässt. Wenig. Man kann es nicht von den Schultern nehmen, den Weg durch das Tal nicht mitgehen. Dieser Tod ist eine verfluchte Scheiße. Kein Wort ist in der Lage, dem gerecht zu werden.

Die Zeit kommt, wenn die Zeit gekommen ist. Zu früh, viel zu früh. Völlig inakzeptabel. Es hilft nichts. Keine Beschwerde nirgendwo. Die Woche beginnt, der Montag kommt. Busse fahren, Geschäfte öffnen, Zeitungen melden. Das ganze Programm. Beerdigungsinstitut, Versicherungen, Ämter. Beschäftigungstherapie, Ablenkung. Machen, tun. Verzweifeln, weinen, Mut fassen, den Blick nach vorne richten. Beschwichtigen, das Gute sehen. Dankbar sein für das Vergangene. Der Tod ist der grausamste Teil des Lebens. Er kommt öfter, je älter man wird.

Die Bilder bewahren, die Spuren im Ich, den Klang der Worte, die lebendigen Erinnerungen, die Eindrücke aller Sinne. Das Küssen auf die Wange, das Leuchten der Augen, der Klang der Stimme, diese Art und Weise, Dinge zu tun. Je mehr wir geliebt werden, desto größer der Schmerz. An diesem Wochenende durfte ich erfahren, wie sehr ein Mensch geliebt werden kann. Es waren mindestens 10 Jahre zu wenig. Niemand kann erklären, wo sie geblieben sind. Der Wecker klingelt und es bleibt nichts, als es zu akzeptieren. Das ist Leben in seiner ganzen Konsequenz.

Wasser, Kraniche und vorbeiziehende Flugzeuge

Steg Baldeney_red

Immer am Wasser entlang. Den Blick auf die seichten Wogen. Das Spiegeln des Lichts. Frühlingssonne, die streichelt, liebkost, verwöhnt, küsst.

Der Steg. Im Sommer mit Anlauf. Bombe.

Sträucher_Baldeney

Im Wasser, die Zweige, werfen Schatten. Wo Schatten ist, da ist auch. Warm geworden, plötzlich. Die ersten Tage sind immer unfassbar. Sie fallen vom Himmel. Am Ende des Winters hat die Seele den Glauben verloren, nach Monaten in Grau ist die Überzeugung da, dass es nichts anderes gibt. Herrje, als müsste ich es nicht besser wissen. So viele Winter sind vorbeigezogen.

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Zur Bestätigung, als wolle jemand sagen, ja, du kannst es glauben, als würde die Dramaturgie des Lebens den Beweis brauchen, zogen die Kraniche ins Bild. Von Links nach Rechts, von Süden nach Norden. Im V, in der Linie, schnatternd. Dieses Geräusch ist amazing, manchmal höre ich es im Büro, wir haben das Glück, unter einer Flugroute zu wohnen. Sie kommen, sie gehen, sie fliegen, sie schnattern, sie sind unglaublich schön.

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Als sie weg waren, kam ein Flieger. Richtung Düsseldorf, nur wenige Minuten vor der Landung. Die untergehende Sonne färbte seinen runden, prallen Bauch silbrig und gelb-gold-orange. Ein schönes Bild. Ich hatte leider, ach was, wieso leider, es ist gut, wie es ist, das falsche Objektiv dabei. Jens Tasche steht in meinem Zimmer, voll mit fetten Objektiven. „Probier mal aus!“ Ich trau mich nicht, sie mitzunehmen. Die sind so teuer und empfindlich und ich bin ein Fotobanause, der einfach nur gute Bilder will und nicht drauf achtet, was mit den Objektiven geschieht. Ratsch. Klick! Peng. Also ist der Flieger kleiner und ihr müsst ihn euch vorstellen:)

Crazy Graham Foster bei Sebastian Linnerz

Graham Foster

Who the fuck is Graham Foster? What the fuck is his art?

However…

Es ist schwierig, ihm auf die Schliche zu kommen. Er ist verschlossen, außerordentlich. Seine Kunst ist eine Chiffre, die sich nicht dechiffrieren lässt, weil der Code in seinem Kopf steckt. Engländer. Insel. Weit weg, nah dran. 1950 geboren, England, Australien, England, Deutschland. Als wäre das nicht Geheimnis genug…

„Graham Foster is a rare original, a virtually indefinable force. His strange constructions can be seen as both sculpture or wall-based pictures, meditations on morality and virile fertility figures, works of rebellious desperation and self mocking send-ups.“, heißt es auf seiner Internetseite.

Graham Foster lächelt. Verschlossen süffisant, würde ich sagen. Er hat etwas Jungenhaftes, Verschmitztes. Inmitten dieser Vernissage stand er und schwieg. Schaut euch um, seht, aber fragt nicht. Keine Silbe wird über meine Lippen kommen.

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2 Dinge: Zeichnungen und Wandinszenierungen, Skulpturen im britischen Kontext. Derek Jarman kam mir in den Sinn. Edward II., 1991. Dieses Britannien erschließt sich mir nicht. 91 habe ich mit britischen Opernsängern zusammengearbeitet. Sie Rassepferde, thoroughbreds nach eigener Aussage. Barocksänger, Händel, Flieger, Konzerte am Wochenende in Europa, dazwischen ich, als Nichts, Niemand, auf dem Weg. So weit weg. Sie haben ihre Witze erzählt, stundenlang.

Graham schweigt, lächelt. Wie ein Junge. Irgendwann habe ich ihn mir geschnappt und genötigt, zwei Fotos auszuhalten. Direkt ins Gesicht. Er hat Schleusen um sich, Mauern. Er möchte nichts verraten. Seht selbst, schaut hin, entdeckt, lasst euch mitnehmen. In seinem Katalog, den ich mir gekauft habe, steht etwas von Assoziation. Er plant nicht, lässt geschehen. In den Tuschezeichnungen, in den Skulpturen. Wüst. Wild. Die Zeichnungen wie perfektionierte Telefonbilder. Zwischendurch das Leben vorbeiziehen lassen und in feine Striche fassen.

Cat

Graham Foster hat sich treiben lassen. 1998 hat ihn seine Frau auf einer Ausstellung in Köln Deutz kennengelernt. Er ist geblieben, hat ein Atelier in Köln, zeichnet und schafft die Bilder an der Wand. Skurril. Britische Motive. Teils archaisch, teils Punk, teils witzig, augenzwinkernd. Wo man auch ansetzt, er entwischt. Hieroglyphen, Verschlüsselungen (wie auf seinem Katalog – die Buchstaben rechts und links des Royal Airforce Logos), Fetische, Leder, Schnallen, Penisse. Teils dachte ich, gay. Das Leder, die Waffen, die Anmutung von Züchtigung, als wären es Peitschen, Instrumente. Dem Lächeln wohnt eine Qual inne, eine Folter. Es ist gleichzeitig hart und weich, männlich dominant und humoresk. Ihm ist nicht beizukommen, diesem verrückten Engländer. Das macht ihn spannend und gut.

Schaut ihn euch an. Seine Zeichnungen, Teile seiner Skulpturen. Köln, Schillingstraße 14, bei Sebastian Linnerz bis zum 2. Mai. Lohnt sich, der Versuch, Graham Foster zu entschlüsseln…

Katalog

Drei Farben: Blau – Krzysztof Kieślowskis Blick auf die Freiheit

drei farben blau

1993. Das ist 22 Jahre her. Wer schaut heute noch „Drei Farben: Blau“ von Kieślowski? Binoche-Fans? Film-Studierende?

Dieses Wochenende habe ich überwiegend im Bett gelegen. Grippe. Uns hat es hier auf dem Land hart erwischt. An der Kasse der Tanke bittet die Kassiererin, Abstand zu halten. Die Wartezimmer der beiden Ärzte zum Bersten gefüllt – Warten auf den gelben Schein mit 39,5. Habe mich einfach ins Bett gelegt, dieselben Globuli wie die Kinder genommen und gehe morgen wieder arbeiten. So weit wieder fit. Viveka ist gekommen, mich zu retten. Hat sich nicht aufhalten lassen. Sie ist stark.

Wir haben uns zwei Teile der Trilogie angesehen. Erst Rot, die Brüderlichkeit. Gestern. Heute Blau, die Freiheit. Beide Teile bestes europäisches Kino. Sub-, Sub-, Sub-, Sub-, Subtext. Die Geschichte locker gehalten, das Wesentliche unausgesprochen. Was für eine Kamera.

Von Blau hatte ich die Schwimmbadszene im Kopf, sonst war fast alles weg. 1993. Da hat sich für mich die Welt anders gedreht. Mein zweites Jahr am Nationaltheater Mannheim, mein drittes Jahr mit Ela. Die Welt lag mir zu Füßen – ich muss wenig verstanden haben, anders ist die einzige Erinnerung nicht zu verstehen. Was für ein Film. Was für Zeiten. Vergangenheit.

Freiheit. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Sartre. Ein Geschenk, eine Gabe, ein Glück, ein Schicksal. Das Handeln in den Händen, das eigene Leben. Die Freiheit, selbst zu bestimmen. Kieślowskis Blick auf die Freiheit tut verdammt weh. Es ist kein american dream, es ist ein polnischer Blick. Sehr fein, sehr ästhetisch, sehr realistisch. Nicht von ungefähr wendet er sich mit „Drei Farben“ Frankreich zu. Es geht auch um das realistische Kino, die Weitererzählung der wahren Geschichten, der Schicksale. Das gute alte Kino in den Farben Schwarz und Weiß. Große Namen, große Zeiten.

Die Realität verwöhnt, betört, verführt, schmerzt. In jedem Augenblick ist alles enthalten, in jeder Sekunde steckt das gesamte Spektrum. Eine tropfende Bremsleitung, ein Knall, ein neues Leben. Das führe ich auch, seit bald 3 Jahren. Es ist die Freiheit, zu leben, wie man will. Das Schwierigste, ist das. Die Freiheit in den Griff zu bekommen, ihr gerecht zu werden, sie anzunehmen, sie überhaupt wahrzunehmen. So schnell gesagt, das Wort. Wenn man sie hat, kann sie einen zerreißen, wenn nicht, dann auch. Sie hat eine große Kraft, macht überglücklich und tieftraurig.

Kieślowski hat mich gestern und heute auf dem linken Fuß erwischt. Mir ist ein wenig schummerig. Nicht wegen der Viren, wegen der Bilder und Botschaften. Wie brutal Kino sein kann, wie wissend und dicht. 1994 kam „Drei Farben: Rot“ raus, 1996 ist Kieślowski gestorben. An einem Herzinfarkt während einer Herzoperation. Das Herz, die Gefühle, sie haben das Zeug, uns in Himmel und Hölle zu bringen. Seine nächste Trilogie konnte er nicht fertigstellen, das haben andere Regisseure für ihn getan. Keine Ahnung, was daraus geworden ist. Weshalb muss einer wie Kieślowski mit 54 sterben? Ich freu mich, dass noch ein Teil übrig ist für mich: Weiß. Heb ich mir auf. Erst einmal Blau und Rot verdauen.