Das Zimmer war groß, hatte für ein Mädchenzimmer luxuriöse Ausmaße. Cat hatte es in einer Mischung aus modern und alten Möbeln eingerichtet. Ihre Mutter hatte sie unterstützt. Von der Tür aus fiel der Blick geradeaus durch die Fenster des Erkers in den Garten, unter den beiden Sprossenfenstern rechts des Erkers stand Cats Bett, ein japanisches Bett ohne Rahmen. Der Futon auf einem flachen Tatami, einer Matte aus Reisstroh. Rechts an der Wand, neben dem Bett, stand ihr Klavier, ein altes deutsches Modell mit Rennermechanik und tiefem Klang. Ein Erbstück, eine kleine Kostbarkeit, ein Bechstein. In die Mitte der Wand links hatte sie ihr Jugendstilsofa, auch ein Erbstück. gestellt. Kitschig elegant verschnörkelt mit neuem Samtbezug. Auf dem Boden rund ums Zimmer waren, an die Wand gelehnt, Cats Schätze, ihre Bücher, aufgereiht. In der Mehrzahl Bildbände, Kunstbände. Viele Renaissance-Klassiker und noch viel mehr Contemporary Art, moderne Architektur und modernes Design. Über dem Jugendstilsofa hing eine Original Andy Warhol Lithografie. Joseph Beuys, Cats Kunstidol, mit Hut und festem Blick, in nummerierter Auflage. Ihre Mutter hatte die Lithografie über Umwege und einen befreundeten Galeristen besorgt. Es war Cats Konfirmationsgeschenk, ihr Stolz, die Seele ihres Zimmers. Ganze Nachmittage verbrachte Cat damit, in ihren Kunstbänden zu lesen. Selbst traute sie sich nicht, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, oder einen Stift, eine Bleistift, einen Marker. Im Atelier war alles vorhanden. Ihre Mutter hatte es ihr oft angeboten. „Wenn du malen willst, zeichnen, Ideen hast, dann steht dir mein Atelier jederzeit offen. Geh runter, geh rein, nimm was du brauchst. Papier ist im Schrank, Stifte und Maluntensilien in den Schubladen. Ich würde mich freuen, einmal etwas von dir zu sehen. Dein Kopf muss voller Bilder sein. Lass sie raus, Catherine.“ Cat reagierte nicht auf das Angebot ihrer Mutter, sie ignorierte es. Sie. Nach außen. In ihr tobte längst ein Kampf. Gerne hätte sie es ausprobiert. Aber sie hatte einen besonderen Ehrgeiz entwickelt, eine Vorstellung von Perfektion. Sie wollte nicht kopieren, nicht einfach an Themen anschließen, sie aufnehmen, variieren. Sie wollte ihre eigene Kunst.
Susanne hatte einige der Bücher durchgesehen. Sie dachte, wenn sie die Bücher verstehen würde, wüsste sie ein wenig mehr. Mehr über Cat. Kunst war ihr gleichzeitig eine so nahe und so fremde Welt. In Berlin war ihr überall Kunst begegnet. Alle machten Kunst, fast alle. Sue nicht, sie war davon umgeben, begab sich aber nicht in diese Welt. Zao war Künstler. Sue hatte Zao vor ihrer Abreise, ihrem Wegziehen aus den Augen verloren. Lief er ihr sonst einfach über den Weg, war er nun wie vom Erdboden verschwunden. Sie hatte, vor allem als der Umzugstermin näher kam, rumgefragt. War in die Galerien gegangen, in denen Bilder oder Skulpturen von Zao ausgestellt waren. Niemand wusste, wo er war. Niemand war beunruhigt, denn es war scheinbar normal, dass er auftauchte und abtauchte. Allgemeiner Tenor war, er wäre irgendwo in einem Atelier hängen geblieben. Zao hatte keine feste Adresse, keinen Wohnsitz, keinen Festnetzanschluss oder ein Handy. Er war unerreichbar. Das hatte Sue so an ihm fasziniert. Zao war ein wenig älter, etwas über Zwanzig vielleicht. Genau konnte Sue das nicht einschätzen und sie hat ihn auch nicht gefragt. Das hätte keinen Sinn gehabt, weil er ausweichend geantwortet hätte. „Weiß nich“ oder „Hab ich vergessen“ oder „Interessiert nich“. Was sie von ihm wusste, war, dass er Sohn vietnamesischer Einwanderer war. Das hatte sie während einer Vernissage in einer Galerie am Prenzlauer Berg auf einem Zettel gelesen. Die Galerie hatte drei Arbeiten Zaos ausgestellt. Großformatige Ölbilder. Niemand wusste, wie die Galerie es geschafft hatte, drei Bilder zusammen zu bekommen. Zaos Bilder entstanden spontan. Zumindest in der Umsetzung. Er tauchte irgendwo in der Stadt im Atelier eines Künstlers auf und fragte, ob er malen könne. Seine Pinselmappe hatte er dann dabei und alles Zubehör für den Zusammenbau eines großen Rahmens. Anfangs hatten die Künstler ihn aus Mitleid bei sich malen lassen, hatten ihn für einen Spinner gehalten. Als Zaos Bilder dann größer wurden, eine eigene Sprache, Welt, entwickelten, wurde die Szene aufmerksam. Erste Galerien versuchten, sich Zaos zu sichern. Das war nicht einfach, weil Zao kein festes Atelier hatte. Seine Werke waren verstreut. Manchmal hatte er sie einfach zurückgelassen. Als Bezahlung, als Ateliermiete. Einfach so. Wortlos. Er hätte die Bilder sowieso nirgends aufbewahren können, er hatte keine feste Bleibe, keinen dauerhaften Unterschlupf. Mit dieser Art zu leben passte er zu der Stadt, die das Ungewöhnliche liebte, das Schräge. Einer, der Kunst macht, sich aber nicht um sie schert.
Zaos Bilder bekamen einen Wert. Einige Sammler hatten angefangen, zu recherchieren und aufzukaufen. Die Preise waren noch nicht hoch, weil die Unsicherheit zu groß war. Zao war nicht fassbar, nicht stringent vermarktbar. Wie hätte man Interviewtermine vereinbaren sollen? Andererseits machte das Geheimnis, das ihn umgab, spannend. Er entzog sich. Als Sue ihn zum Abschied suchte, war er wie vom Erdboden verschwunden.
Blätterte sie in Cats Bildbänden, musste sie an Zao denken. Sie hatte sich in ihn verliebt, in den merkwürdigen Vietnamesen, der mit so wenigen Menschen sprach. Wenn er sie sah, hatte er sie angelächelt. Mit leichten Grübchen. Ein kleines Lächeln, das für ihn schon eine große Geste war. Sie waren teils so etwas wie ein Paar gewesen. Gerade so eng aneinander gebunden, wie Zaos Art, die Dinge, das Leben zu sehen und leben, es zuließ. Jetzt, wo er weg war, wo sie weg war, wusste sie, dass sie ihn liebt. Er fehlte ihr so. Die Sehnsucht, das Gefühl im Bauch, die Verzweiflung, hier in dieser fremden Stadt gefangen zu sein. Ihn womöglich nie wiederzusehen. Hatte er sie verlassen oder hatte sie ihn verlassen? Manchmal wurde ihr übel vor Angst. In Cats Zimmer war sie Zao nah. Wegen der ihr unbegreiflichen Kunst, wegen Cat.