Ich kam vom Sport, setzte mich ins Ofenzimmer und ließ den Tag ausklingen. Ela putzte sich die Zähne, küsste mich zur Nacht und ging schlafen. Da saß ich allein mit den Gedanken und der Welt. Versöhnt, in Frieden. Dort hätte ich sitzen können, an alles mögliche denken, tat ich aber nicht.
In der Post des Tages war das magazin der kulturstiftung des bundes herbst/winter 2011 (könnt ihr hier kostenlos bestellen: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek/magazin/bestellen/index.jsp). Vom Format und vom Papier her eine Zeitung. Der Bund hat also eine Stiftung, die Kultur fördert. Das ist ja äußerst positiv. Noch positiver ist, dass sich diese Stiftung tatsächlich engagiert kümmert. Gedanken macht. Das ist aktuell ein großer Luxus und wichtiger denn je.
Weshalb? Ich muss ausschweifen. Bis 1991 studierte ich an der RWTH Aachen unter anderem Internationale und Technische und Wirtschaftliche Zusammenarbeit (ITWZ). In diesem Fach ging es um Entwicklungspolitik. Wir beschäftigten uns intensiv mit den Fragen der Zukunft und wie wir auf diesem Planeten zukünftig leben wollen. Das wurde für mich irgendwann sehr frustrierend, weil die einzige Antwort auf die drängenden Fragen war: Mehr Wachstum. Ein Hase- und Igelrennen. Schaffen wir es, durch technologischen Fortschritt die zentralen Probleme in den Griff zu bekommen. Schneller zu sein als die Veränderungen, die den Planeten belasten? Das war schon vor 20 Jahren nicht absehbar. Die Probleme haben eher exponential zugenommen.
Mittlerweile wissen wir, dass unser Denken in eine Sackgasse geführt hat. Wir haben es bislang nicht geschafft, zentrale Probleme auch nur im Ansatz zu lösen: Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung. Als ich 1965 geboren wurde, lebten 3,5 Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es 7 Milliarden, 2050 werden es 9 Milliarden sein.
9 Milliarden Menschen, die essen, trinken, lernen, heizen, autofahren und fliegen möchten. Wir werden diese 9 Milliarden Menschen über unser Wachstumskonzept nicht ausreichend versorgen können. Nicht mit unserem heutigen Konzept der internationalen Konkurrenz und des bislang scheinbar unverzichtbaren wirtschaftlichen Wachstums. Ein Beispiel, das Tim Jackson im Artikel mythen des wirtschaftswachstums im besagten Magazin des Bundes anführt: Die Kohlendioxidreduzierung bis 2050. Um die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten, verlangt das International Protocol of Climate Change (IPCC) eine Reduzierung der weltweiten Emissionen um 80 % bis 2050. Gibt es nun bis 2050 wirtschaftliches Wachstum, das versucht, dann 9 Milliarden Menschen in einem westlichen Lebensstil zu nähren, wie bitteschön soll dann dieses Ziel erreicht werden? Tim Jackson: “Durch dieses einfache Gedankenexperiment wird deutlich, dass die Dekarbonisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten eine riesige Aufgabe darstellt. Man beötigt eine 130-fache Reduktion der Kohlenstoffintensität innerhalb der nächsten 40 Jahre.” 130-fach. Wer Lust hat, kann mal schauen, was aktuell weltweit an Einsparung erzielt wird… Steht bestimmt im Netz.
Nach mir die Sintflut, dann werde ich bald tot sein. Also: Shit happens, who care? Leider lässt mich das nicht los. Und leider reicht es im Rahmen dieses Themas nicht, auf ein paar Flüge zu verzichten. Der Kohlendioxiddruck nimmt mit wachsender Weltbevölkerung und der rasanten Industrialisierung weiterer Volkswirtschaften extrem zu. Hinzu kommen: Müllprobleme, Wasserknappheit, Verwüstungstendenzen. Wer die entsprechende Literatur liest, bekommt eher schlechte Laune. 2005 durfte ich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung fünf Forscher des Projektes GLOWA – Globaler Wandel des Wasserkreislaufes interviewen, um diese Broschüre texten zu können. Ich kann nur sagen: Probleme über Probleme…
Was ist nun am Ende des Tages die Lösung? Wachstum ist es nicht. Die treibt uns in Konkurrenz und Wettbewerb und Wettkampf. Und kämpfende Menschen sind erbarmungslos und greifen zu fast jeder Waffe, weil sie sich ständig angegriffen fühlen. Globalisierungsdruck. Angst vor den Chinesen. Angst vor den “hereinflutenden” Afrikanern. Angst essen Seele auf, Angst ist ein schlechter Berater.
Was nun also ist zu tun? Im ersten Schritt: Denken, nachdenken. Die Wissenschaft hat hier einige interessante Denkansätze, wie es mir scheint. Bestellt euch das besagte Magazin und lest nach. Plötzlich spielen dort Gesellschaftswissenschaften und sogar Kunst wieder eine Rolle, weil wir aktuell spüren, dass uns die Beherrschung durch die Betriebswirtschaftslehre, das Primat des finanziellen Denkens, ins Chaos führt. Das Denken der BWL greift nicht weit genug, findet nur auf der Ebene des Wirtschaftens und nicht des Zusammenlebens statt.
Wir haben eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die durch die Vereinten Nationen 1948 verabschiedet wurden. Wir haben in Deutschland einen ersten Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie werden wir die Würde des Menschen im Jahr 2050 schützen? Ernst nehmen?
Das geht nur durch Wandel. Durch Umbau. Letztlich werden wir uns neu aufstellen müssen. Wachstum kann nicht mehr das Kriterium Nummer eins sein, dem alles untergeordnet ist. Wir brauchen Fortschritt: Im Denken und technologisch. Es haut nicht hin, dass wir immer mehr haben möchten. Unsere Kleiderschränke sind voll, an Geburtstagen hoffen wir, nicht zu viel geschenkt zu bekommen, weil wir eh alles haben. Mehr als das. Sperrmüll wäre mal wieder gut. Was uns fehlt, ist soziales Miteinander. Bereitschaft, zu teilen. Davon haben wir zu wenig. Ein echter Mangel. Bruttosozialglück statt Bruttoszialprodukt. Es geht um das Modewort Nachhaltigkeit. Auf gesellschaftlicher Ebene – ein Begriff der siebziger und achtziger Jahre. Wir müssen Gesellschaft neu erfinden. Wir müssen neu denken. Wir müssen andere Prioritäten setzen. Wir brauchen Visionen, Utopien. Diskussionen. Alle wissen: So kann es nicht weiter gehen. Also ist es Zeit zu schauen, wie es weitergehen kann. Das besagte Magazin führt in diese Diskussion ein, zeigt, dass es längst Menschen gibt, die weiterdenken, die Lösungsansätze entwickeln, die an der Zukunft arbeiten. Nun liegt es an uns, ein neues Denken in unsere Köpfen fernab der Klischees zu implementieren. Und dieses Denken in die Welt zu tragen.
Nach den frölichen Beiträgen der letzten Tage nun wieder Ernsthaftiglkeit. Sorry. Ich kann nur über das schreiben, was mir begegnet. Gestern Abend war es dieses spannende Magazin mit seinen ungewohnt langen Artikeln, die wirklich lesenswert sind. Bitte bestellt es, lest es, seid offen. Danke. Und jetzt schnell absenden, weil das RWE uns gleich den Strom für drei Stunden abstellt. Off. fiftyfiftyblog im Wartungsmodus. Kann ich noch ein wenig weiterlesen:) Ciao…
P.S. Ein im oben beschriebenen Sinne interessantes Interview: Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Thomas Pogge im Interview mit Christian Schlüter: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek/magazin/magazin15/pogge/
Zitat aus diesem Interview: “Die lebensgefährliche Armut, die heute rund 40 Prozent der Weltbevölkerung bedrückt, stellt in fast allen Fällen eine Verletzung ihrer Menschenrechte dar, eben weil sie vorhersehbarerweise von Regeln produziert wird, die von anderen Menschen formuliert und durchgesetzt werden. Durch solche Regeln werden jährlich 18 Millionen Menschen umgebracht, und Milliarden der Zugang zu hinreichendem Trinkwasser, gesunder Nahrung, Obdach, Kleidung, medizinischer Versorgung und Bildung verwehrt. Die Armen in dieser Welt leben nicht nur in menschenunwürdigen, sondern auch in menschenrechtswidrigen Verhältnissen.”