Kaffeetrinken in Cabutima mit Wolfgang Cziesla

Cabutima

In letzter Zeit habe ich es nicht so mit Büchern. Keine Zeit, keine Ruhe, keine Muße. Andere Dinge stehen im Vordergrund.

Nun ist mir aber ein Buch auf eine Art und Weise begegnet, die mir so am besten gefällt. Es ist mir vor de Füße gefallen, es ist in meinem Leben aufgetaucht. Um es vorweg zu nehmen: Es ist ein gutes Buch. Eines, das eine Geschichte mit feinen Worten stringent erzählt. Ein unentdecktes Buch, das bereits 2005 geschrieben worden ist. Von Wolfgang Cziesla aus Essen.

Zusammen mit Viveka bin ich ihm begegnet. Wir haben ihm ein wenig geholfen, die Wohnung seiner Mutter auf Vordermann zu bringen. Viveka hatte sich in den letzten Jahren um sie gekümmert. Beim Kistenräumen, beim Transport von Bücherkisten in verschiedene Etagen und Abstellräume sind wir ins Gespräch gekommen. Wolfgang Cziesla hat mir Kaffeetrinken in Cabutima geschenkt und ich habe gesagt, dass ich wahrscheinlich darüber bloggen werde. Ob das O.K. sei? Ja. War es. Ist es. Also los.

Zunächst einmal: Wo liegt Cabutima? Ich habe gegoogelt und habe das Wort nur in Kombination mit dem Autor gefunden. Also gehe ich davon aus, dass es eine Fantasiestadt ist. In Süd-Amerika, wie ein Blick auf den Cziesla-Wikipedia-Eintrag verrät. Irgendwo in Chile. Wikipedia: “Ein Jahr später wurde dort auch der Roman „Kaffeetrinken in Cabutima“ veröffentlicht, der in einer anonymisierten Form Czieslas Chile-Erfahrungen unmittelbar nach der Pinochet-Diktatur verarbeitet. Cziesla reiste durch Afrika, Asien, Polynesien, Nord-, Mittel- und Südamerika. Zurzeit lebt er im Ruhrgebiet.”

Hauptfigur des Romas ist Alfonso Serna, der mit guten Absichten in diesen Staat nach der Diktatur reist. Er verkauft Espressomaschinen für eine italienische Firma, fährt einen zickigen Chevrolet Impala aus den Sechzigern, wird in die Wirren des Übergangs von der Militärdiktatur zur Mehr-oder-weniger-Demokratie verstrickt und verliebt sich in Noshima, eine junge Frau, die auf dem Weg ist, investigative Journalistin zu werden. Es ist viel los im Buch, es passiert viel auf den 330 Seiten.

Wolfgang Cziesla erzählt ruhig, nimmt einen auf eine sehr angenehme Weise mit. Cabutima entsteht als Welt, Alfonso als eigener, facettenreicher Charakter. Ich habe mir das Buch aufgehoben, habe es langsam gelesen, obwohl die Geschichte zum Durchrauschen einlädt. Irrungen, Wirrungen, Verstrickungen. Politischer Widerstand, die Suche nach Verschwundenen, die weiterhin präsenten und allmächtigen Militärs. Demonstrationen, rollende Panzer, Verhöre, ein Kreis intellektueller Widerständler. Zwischen all dem Liebe, Sex, Alkohol, Café und ein Chevrolet Impala, der mal fährt und mal nicht – das vor allem in Augenblicken, in denen es drauf ankommt.

Während die Menschen um ihn herum versuchen, diese neue Demokratie zu stützen, ist es Alfonsos Ziel, der neuen Gesellschaftsordnung guten Café mit auf den Weg zu geben, was ihm mehr oder weniger gut gelingt. Irgendwie ist er zur falschen Zeit am falschen Ort, wodurch er letztlich in die Hände eines Staatsanwaltes gerät, der ihn die Macht des alten Systems spüren lässt.

Kaffeetrinken in Cabutima von Wolfgang Cziesla ist ein spannendes, lesenswertes Buch, das im Firwitz Verlag erschienen ist. Möchtet ihr es lesen, könnt ihr es über den Buchhandel eures Vertrauens oder direkt über den Verlag bestellen.

P.S. – Übrigens hat Wolfgang Cziesla noch mehr geschrieben und arbeitet wohl auch an einem neuen Roman.

Vier Beaufort – Wind hebt Staub und loses Papier…

Weiden

Unter dem Weihnachtsbaum lag für mich ein Buch. Die Sprache des Windes – Francis Beaufort und seine Definitionen einer Naturgewalt von Scott Huler. Erschienen im mare Verlag.

Es ist ein verrücktes Buch. Nicht, weil die Geschichte wirr, wahnsinnig oder abstrus ist, nein, weil sich ein Autor auf den Weg gemacht hat, der Beaufortschen Windstärkeskala auf den Grund zu gehen. Anfangs dachte ich: Hey, die ist doch bekannt, was will man darüber schreiben? Aber dann ist dieses Buch bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen, weil es mich gleich in mehrfacher Weise anspricht. Und überrascht. Zunächst der Beweggrund des Autors, dieses Buch zu schreiben. Er arbeitete in einem Verlag, als er der Skala begegnete. Er sollte einen Tag damit verbringen, über Computer zu schreiben, als er auf sie traf. Der Tag zog dahin, die Computertexte blieben ungeschrieben. Ich konnte beim Lesen so gut nachempfinden…

Ja, und dann das, was ihn so bewegt hat. Die Schönheit und Klarheit der Sprache, mit der die Skala den Wind beschreibt. Poetisch. Ein Beispiel? Fangen wir vorne an. Windstärke Null, die Beaufort als Stille definiert und unter Auswirkungen des Windes im Binnenland wie folgt skizziert: Windstille, Rauch steigt gerade empor. Punkt, möchte ich sagen. Mehr gibt es nicht zu sagen. Mit 110 Wörtern kommt die Skala aus, um letztlich 13 Windstärken inklusive der Null zu charakterisieren. Trefflich.

Es braucht nicht viel, um die Dramatik bis zum Orkan anwachsen zu lassen. Windstärke 2, leichte Brise, Wind am Gesicht fühlbar, Blätter säuseln, Windfahne bewegt sich. Das Wetter zu beobachten, ist schön. Neben meinem Bett hängt ein Barometer, das mir erzählt, was ich an Wetter vor meinem Fenster in etwa zu erwarten habe. Tiefdruck. Hochdruck. Langsame Veränderungen, plötzliche Veränderungen. Heute stand ich am Fenster in der Küche, als plötzlich Sturmböen Regen durch den Garten peitschten. Vielleicht kurzzeitig Windstärke 5, kleine Laubbäume beginnen zu schwanken, auf Seen bilden sich Schaumköpfe.

Das Lustige ist, eigentlich habe ich dieses Skala im Kopf. Als Windsurfer sucht man permanent nach den beschriebenen Zeichen und Erscheinungen. Stehe ich am Meer, schaue ich, ob es möglich wäre rauszurufen. Dazu muss man wissen, woher der Wind kommt und wie stark er weht, damit man mit dem richtigen Segel rausgeht. Zu groß kann fatal sein, zu klein langweilig. Fängt das Meer an, Schaumkronen zu werfen, die vom Wind kommen (es gibt auch andere, wenn die Wellen aus der Ferne heranrauschen…), dann wird es interessant. Da kann man anfangen, aufzuriggen. Du stehst am Strand, schaust nach Fahnen, nach Markisen, nach Ästen. Bewegen sie sich nur leicht im Wind? Flattern Sie? Oder du lässt Sand durch die Hand rieseln und schaust, wie weit er getragen wird.

Einmal, in Holland am Ijsselmeer hatten wir Windstärke 7 und am nächsten Tag Windstärke 10 – da ist dann Feierabend. Da ist der Wind so stark, dass er dich umwirft. Windstärke 10, schwerer Sturm, Bäume werden entwurzelt, bedeutende Schäden an Häusern. Herrje.

Viele Surfer haben einen Windmesser, der ihnen genau sagt, mit wie viel Beaufort der Wind bläst. Ich habe keinen und mir über die Einheit nie Gedanken gemacht. Habe das einfach so hingenommen wie Volt, Watt, PS. Scott Huler hat das nicht getan. Nein, er hat ein wunderbares Buch geschrieben. Er hat sich auf den Weg gemacht, ist gereist, hat Orte besucht, an denen Beaufort war, hat in Bibliotheken geforscht, mit Wissenschaftlern gesprochen und seinen Weg der Erkenntnis skizziert.

Wie er so schreibt, spürt man seine Freude, sich Stück für Stück genähert zu haben. Wie er Licht in eine Ecke gezaubert hat, in die ich normalerweise nie geschaut hätte. In Zukunft werde ich den Wind mit anderen Augen sehen und sicherlich das eine oder andere Sprachbild auf den Lippen haben. Windstärke 6, starker Wind, starke Äste in Bewegung, Pfeifen von Drahtleitungen. Wenn die Drahtleitungen pfeifen, ist es auf dem Wasser am schönsten. Happy Hour. Dann singen nicht nur die Drahtleitungen, dann pfeift es auch am Mast und das hochspritzende Wasser wird vom Wind weggetragen.

Die Skala und die beschreibenden Sätze stammen übrigens nicht allein von Francis Beaufort, wie Huler schreibt. Es gab Vorgänger, die Vorarbeit geleistet haben und die Beschreibungen im Detail sind erst später, nach Beauforts Tod, entstanden. Aus welcher Feder sie stammen, ist noch nicht raus. So weit bin ich noch nicht. Dieses Buch lese ich mit der Geschwindigkeit der Windstärke 1: 0,3-1,5 m/s. Das passt übrigens zu einem Trend, von dem ich heute in anderem Zusammenhang gelesen habe. Stille Revolution. Die erstarkende Kraft des Leisen, Unaufdringlichen. Auch das hat mich bewegt. Stille Revolution. Windstärke 0, Windstille, Rauch steigt gerade empor. Wie friedlich angenehm. Das genaue Gegenteil der Windstärken ab 12, Orkan, schwere Verwüstungen. Der Wind, der Wind… Wem hat er was erzählt?

So werde ich noch einige Abende mit dem Wind verbringen. Ein schönes Vergnügen.

zwei bäume

Mit Maupassant auf See

Auf See

Ich segle gerade. An der französischen Mittelmeerküste entlang. Eben haben wir in St. Raffael abgelegt und sind auf dem Weg nach St. Tropez. Mein Kapitän ist kein Geringerer als Guy de Maupassant, der ständig was zu berichten hat. Mal sieht er ein Liebespaar im Mondenschein, dann macht er sich Gedanken darüber, wie sich Menschen verhalten, wenn sie in Massen auftreten. Er hasst das. Geht auf kein Volksfest, meidet alle Ansammlungen. Er glaubt, dann würde der Intellekt verloren gehen und Dumpfheit würde wie reifes Obst von Bäumen fallen. Der kluge Geist würde eingeschränkt und sich letztlich in Allgemeinplätzen ergehen.

So geht das den ganzen Tag mit diesem liebenswerten Snob, der auf die Berge, die Küste, die Pflanzen, die Architektur, die Menschen schaut. Immerzu. Neben ihm fühlt man sich schon ein wenig beobachtet. Guy, entspann doch mal. Mach ma ne Pause. Leg dich hin, lies ein Buch, check deine Mails. Mails, ach, herrje. Darf ich nicht sagen. Er nennt das Korrespondenz und hasst auch das. Weiß vorher schon, was drin steht. Begehrlichkeiten. Sie sind ihm auf den Fersen, die Freunde und lästigen Bekannten. Er möchte lieber alleine sein und gucken, segeln, in Gasthäusern speisen, wieder gucken, aufschreiben. Fertig ist der Tag.

Auch wenn er viel Umsinn redet, ist es schön, mit ihm unterwegs zu sein. Gestern hatte er seine pazifistischen Minuten. Was da abging. Gegen den Krieg gewettert, den Irrsinn, all das duselige Leid, die jungen Männer, die ihrem Unglück entgegen laufen. Irgendein General von Moltke hatte etwas von göttlichem Krieg gesagt. Pah. Guy ist schier ausgerastet. OMG. Oh-my-god. Hat Adele gestern bei der Golden Globe-Verleihung auch gesagt. Skyfall. So’ne 007-Nummer. Auch wenn sie musikalisch nicht vom Himmel fällt wie der Wind, der Guy und mich an der Küste entlangschippern lässt.

Zufällig bin ich die Strecke erst vor wenigen Jahren gefahren. Mit dem Auto in umgekehrter Richtung. Also nicht rückwärts oder so. Nein. Richtung Nizza. Also rauf. Gen Italien, was ja immer richtig ist. War schön. Im Frühjahr mit wandern und schlendern und Picknick und Märkten und kleinen Hotels und so. Wie Guy, nur heute und mit dem Auto. Nich mit dem Schiff.

Dieser Franzose ist natürlich auch ein kleiner Romantiker. Zu der Zeit war das noch IN und möglich. Wie schön. Monets Seerosenbilder. Durfte der. Den ganzen lieben langen Tag im eigenen Park mit Brücke. Naja. Und Guy zitiert an einer Stelle eine junge Frau, die ihm mal was verraten hat. Ging so: “… dass der Mondstich tausend mal gefährlicher ist als der Sonnenstich. Man bekommt ihn, wie sie sagte, ohne es zu merken, wenn man in schönen Nächten umherwandelt, und man wird nie davon geheilt; man wird davon verrückt, nicht rasend, zum Einsperren verrückt, sondern verrückt in einem besonderen, leisen und anhaltenden Wahnsinn; in nichts denkt man mehr wie die anderen Menschen.”

Schön. Der Mondstich. Ist mir auch mal passiert, als ich auf einem Felsen saß und aufs Meer schaute und der Mond vorbeizog eine halbe Nacht lang. Mister Gaga. Seither.

Tja, aber dann möchte ich euch auch noch schreiben, weshalb Guy die Mondgeschichte erzählte. Lassen wir ihn mal zu Worte und zu Potte kommen. Kurzer Einschub: Der Gute hatte ein Liebespaar gesehen. Mehrfach. Auf einem Spaziergang, im Restaurant, am Strand, später vom Boot aus durch ein Fenster. “Plötzlich wurde eines der Fenster des Gasthofes hell, in dem Licht sah ich die beiden Profile. Da übermannte mich meine Einsamkeit, und in der lauen Luft dieser Frühlingsnacht, beim leisen Schlag der Wellen auf dem Sand, unter der dünnen Mondsichel, die ins Meer sank, fühlte ich in meinem Herzen ein solches Verlangen zu lieben, dass ich vor Verzweiflung fast geschrien hätte. Dann schämte ich mich plötzlich dieser Schwäche, und da ich mir keinesfalls eingestehen wollte, dass ich ein Mensch wie die anderen war, gab ich dem Mondschein die Schuld, meinen Verstand getrübt zu haben.”

So. Der Mond. Ja, Guy. Gute Ausrede auch, muss man mal drauf kommen. So’n paar Worte hingeklekst und basta.

Werde jetzt mal weitersegeln und euch mit eurem Tag alleine lassen. Macht was draus, schockt eure Kinder, lest ein Buch. Warum nicht mal einen Klassiker? Die sind echt nett und freundlich und haben lustige Ideen im Kopf. So wie mein Freund Guy de Maupassant. Mit dem kann mans schon aushalten. Für’n paar Tage. Auf einem Schiff. Im Mittelmeer. Auf See. AHOI.

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Der Tag, als der Krieg begann

“Die ersten Limousinen hielten neben kahlen Bäumen und einem Wald aus Fahnenmasten in Flushing Meadow am Stadtrand von New York und entließen ihre Fahrgäste in ein graues Gebäude, das einmal eine Eisenbahn beherbergt hatte. Draußen hatte sich trotz der kühlen Luft eine Menschenmenge versammelt. Im Innern war ein Saal mit Zuschauern und Delegierten gefüllt. Es war der 29. November 1947, ein Samstagnachmittag.
Das körnige Filmmaterial, das an jenem Tag aufgenommen wurde, zeigt Männer in Anzügen, die in Reihen vor einem erhöhten Podium sitzen, und auf demselben drei Funktionäre mit einem gigantischen Gemälde des Globus im Rücken. Helfer eilen mit Papierbündeln zwischen den Sitzreihen und dem Podium hin und her, und ihr Gesichtsausdruck entspricht dem gewichtigen Anlass: Die Abgeordneten dieser neuen Weltorganisation, der Vereinten Nationen, sind im Begriff, durch eine schlichte Abstimmung den Lauf der Geschichte zu verändern.” (Matti Friedmann, Der Aleppo Codex – Eine Bibel, der Mossad und das Staatsgeheimnis Israels, Seite 22, erschienen im Herder Verlag.)

Und einen fortwährenden Krieg zu starten. Es ist der Tag, als die Weichen für einen Staat Israel gestellt werden. Die Weichen für das, was immernoch geschieht. Raketen und Gegenraketen. Gerade habe ich das Buch gelesen, aus dem das obige Zitat stammt. Es beschreibt den Weg des Aleppo Codex, der ältesten, genauesten Überlieferung und Deutung der hebräischen Bibel. Ein Blattwerk von äußerster Exaktheit, das die Überlieferungen detailliert kommentiert. Wenn es euch interessiert, lest einmal das Buch von Matti Friedmann. Oder schaut auf die Seite des Ben-Zwi-Istitutes in Jerusalem, das allerdings eine zwielichtige Rolle rund um das Thema Aleppo Codex spielt. Hier sind Teile der Handschrift verschwunden. Weg. Das hat Matti Friedmann aufwändig recherchiert. In den Wirren der Staatsgründung und Kriege des Staates Israel untergegangen. Entwendet. Unwiederbringbar verlorengegangen. Egal? Nein. Wo sind unsere christlichen Wurzeln? Was steht im Alten Testatement? Wer war König David? Wer war Jesus? Das sind gemeinsame Wurzeln. Für uns begann alles in Bethlehem. Und Bethlehem fußt auf der Geschichte des jüdischen Volkes. Wir werden immer gemeinsame Wurzeln haben.

Wusstet ihr, dass es vor diesem Tag im Jahr 1947 überall in der arabischen Welt jüdische Viertel gab? In Aleppo, in Syrien zum Beispiel und auch in Kairo. Nach der Abstimmung begann die Gewalt. Synagogen gingen in Flammen auf, jüdische Nachbarn wurden gejagt und verprügelt. Mit den Siegen der israelischen Armee nahmen die Repressalien zu.

“Während er unauffällig gegenüber der großen modernen Synagoge des Viertels am unteren Ende der Straße stand, beobachtete Isaak, wie Polizisten Randalierer durch die Fenster in das Gotteshaus hoben. Einige hatten Kanister mit Kerosin bei sich. Der angesehenste Weise der Gemeinde, Moises Mizrahi, ein gebeugter Mann in einem roten Fez, von dem jeder glaubte, er sein ein Jahrhundert alt, hielt sich noch im Innern auf. Isaak sah, wie dieselben Polizisten ihn hinausführten. Auf der Straße vor der Synagoge schichteten die Aufrührer einen gewaltigen Stoß aus Gebetbüchern, Torarollen und Talmudtraktaten auf und steckten ihn in Brand.” (Seite 38)

Die Vertreibung begann, die Feuer brennen heute noch. In Form von Raketen. Von links nach rechts, von rechts nach links. Viele Juden flüchteten. Nach New York, Südamerika und nach Israel, um für den neuen Staat und das eigene Land zu kämpfen. Der Kampf geht weiter. Mit unverminderter Härte. Sechzig Jahre später, immernoch. Unfassbar.

Nun haben wir nach 2008 den Israel-Gazastreifen-Krieg 2012. Wieder sterben Menschen, wieder brennt es. Häuser im Gazastreifen, getroffen von israelischen Kampfbombern. Auf der anderen Seite, im Grenzgebiet und bis nach Tel Aviv heulen die Sirenen, die Raketen der Hamas ankündigen. Wer will so leben? Kein Frieden in Sicht, kein Schalom, kein Salām. Ein Krieg der Religionen. Irland hat es geschafft, Katholiken und Protestanten zu befrieden. Vielleicht… Leider ist am Horizont nichts zu sehen und jeder Krieg bringt neues Leiden und frischen Hass. Rache.

Hier wären die Vereinten Nationen gefragt. Ein Verhandlungstisch. Ein starkes Friedensmandat. Es kann doch nicht sein, dass 2012 Raketen die einzige Antwort auf alle offenen Fragen sind… Klar, ist so. Ende, aus, Mickey Maus. 2008 starben 1.000 palästinensische Zivilisten. Aktuell sind es bereits 90. Drei Menschen starben bislang auf israelischer Seite, was sich gegenrechnen lässt, aber zu keinem Ergebnis führt. Beide Seiten haben ihre Gründe. Ich möchte auf keiner Seite stehen, weil die Schlussfolgerung aus allen Argumenten letztlich dumm ist. Wenn nicht eine Seite anfängt, aufzuhören, hört niemand auf. Ja, ja. Klar? “Wenn du beschossen würdest? Wenn deine Kinder in Gefahr wären?”, “Wenn deine Familie bei Bombenangriffen umgekommen wäre?”. Hilft nix. So kommen wir nicht weiter. Die Welt behält ihren Stellvertreterkrieg zwischen zwei Welten – beide Seiten supported. Mit Waffen, mentaler Unterstützung. Fight for your right. Wer legt den ersten Stein zur Seite?

Jüdische Viertel in arabischen Städten. Zusammen leben. Hat mal funktioniert. Hier steht dann noch einmal deutlich stärker die Frage im Raum: “Wie wollen wir leben?”

Übrigens war es sehr spannend, Matti Friedmanns “Der Aleppo Codex” zu lesen. Vor allem, weil es Einblicke in die jüdische Geschichte nach 1947 gibt. Der Skandal, den er beschreibt, das Verschwinden von Teilen des Buches und die Vertuschung in Israel ist für uns nicht ganz so aufregend. Hier hatte ich das Gefühl: Es gibt größere Probleme. Dennoch ist das Buch äußerst aufschlussreich und gut zu lesen. Eine Empfehlung meinerseits.

P.S. Das Buch wurde mir vom Herder Verlag über Blogg dein Buch zur Verfügung gestellt.

Die Frau im Mond von Milena Agus

Manchmal kommen die guten Nachrichten per Post. Ganz konventionell. Da ist eine Freundin, die schreibt. Wenn sie etwas zu sagen hat, kommt ein Brief. Kein Facebook, keine Mail.

Das ist ist nicht modern, aber sehr schön. Die Freude, den Briefkasten zu öffnen und dort etwas vorzufinden, die ist enorm. Herz hüpft. Aufregung. Das haptische Vergnügen, ein Couvert aus Papier zu öffnen. Letzte Woche kam ein dickerer Umschlag. Eine Büchersendung. Darin “Die Frau im Mond” von Milena Agus. Ein Bestseller, wie der Aufkleber vorne drauf verspricht. Von einer Autorin aus Italien. Sardinien, Cagliari. Preisgekrönt, mehrfach ausgezeichnet.

Die beiden letzten Abende habe ich den analogen Ball aufgenommen und habe mich zurückgezogen aus der digitalen Welt. Die habe ich gerade ein wenig über. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Im Bett zu liegen, neben sich eine Kanne Tee, angelehnt mit einem Kissen im Rücken, ein Buch, einen Liebesroman in den Händen, das ist schon schön. Fühlt sich gut an. Das Konventionelle also trägt weiter, wird immer tragen. Und ja, es ist entscheidend, dass das Buch aus Papier ist und nicht elektronisch. Ihr seht, ich lebe im Widerspruch. Hin- und hergerissen zwischen dem Alten und dem Neuen.

Die Sätze fließen aus dem Leben der Autorin. Sardinien ist überall. Prall. Früchte, Sonne, Meer, Schmerz. Sie schreibt über die Großmutter. Die Verrückte, die von einem Ort auf dem Mond zu kommen scheint, die an der Welt leidet, die sich ritzt, die wunderschöne Sachen baut, malt, entwirft, um sie zu zerstören. Eine herzzerreißende Geschichte. Liebevoll erzählt. Im Zentrum: Die Suche nach der Liebe. Es einmal spüren, das intensive Gefühl. Nach vielen Enttäuschungen. All die Verlobten, die die Großmutter haben sitzen lassen. Die Verrückte, die gar nicht verrückt ist. Nur anders. Von einem anderen Stern.

Sie trifft ihn. Den Einzigen. Vom selben Stern. Den Reduce. Den Heimgekehrten aus dem Krieg, dem ein Bein fehlt. Der verheiratet ist, der sie nimmt, wie sie ist. Der sie nur einmal trifft, ihr einmal schreibt, ihr einmal die Liebe zeigt. Was für Augenblicke im Buch, die in Rückblenden beschrieben werden.

Sätze wie vom Himmel. Aus der anderen Welt. Von diesem Stern, auf dem nur wenige wohnen. Diese unglücklichen Romantiker, die da draußen weggeschubst werden von den Bulldozern der vermeintlichen Realität.

“Mit seinen lachenden Lippen liebkoste er ihre Brüste. “Wollen wir unser Lächeln küssen?”, fragte Großmutter, dann gaben sie sich einen innigen, endlosen Kuss. Der Reduce sagte, dass Dante im fünften Gesang der “Hölle” in seiner Göttlichen Komödie genau die gleiche Idee gehabt habe – der Liebenden, die sich das Lachen vom Mund küssen. In diesem Gesang verewigte der Dichter die Liebenden Paolo und Francesca, die für immer in der Hölle gefangen sind, dazu verdammt, sich aneinander zu verzehren, ohne sich jemals zu erreichen.”

Der Reduce. Der Verwundete. Der, der ihr Gedichte vorliest. Sie kehrt zurück. Zu ihrem Mann, dem Großvater, der sie liebt, schützt, aber nicht zu verstehen vermag. Dreieck.

Ein sehr berührendes Buch. Und: Italien. Das Enge, das Weite. Die Konvention und das Gefühl. Die ewige Suche nach der Liebe und die äußeren und inneren Hindernisse. Wenn ihr euch mal mit einem guten Buch zurückziehen möchtet, für zwei, drei Stunden, dann ist “Die Frau im Mond” gut dazu geeignet. Poetisch, intensiv, schön und klar geschrieben. Kurz und prägnant. Und mutig. Da sind Stellen drin…