Von der Entdeckung einer Schatzkiste

Schatzkisten sind nun wirklich etwas Schönes. All das Gold, die Juwelen, Diamanten, Diademe und die wunderbaren großen Taler. Hineingreifen und dieses frische Gefühl von Reichtum spüren. Kühler Glanz, Erhabenheit, Herrschaft. Ich fantasiere. Was Johnny Depp mit der wunderschönen Penelope Cruz demnächst auf der Leinwand auslebt, durfte ich bereits am Wochenende erfahren. Ich habe eine Entdeckung gemacht!

Nicht im Wald mit Hacke und Schaufel. Auf unserem verwunschenen Speicher. Da wir in einer möglichst leeren Wohnung leben, in dem es kaum Schränke, keine Sessel, keine Couch und ganz wenig Stauraum gibt, wandert die Vergangenheit regelmäßig auf den Speicher. Seit Jahren nun hatte ich eine Kiste vermisst, die ich an einem Ort ganz tief hinten drin in der Ecke nach Norden vermutete. Sie war 2006, als wir hausintern die Etagen zwischen Wohnen und Arbeiten gewechselt hatten, dort oben gelandet.

Nun kam am Freitag Zoe aus der Schule nach Hause und erzählte begeistert vom Zweistromland und Babylon. Ihre Augen leuchteten und es sprudelte aus ihr heraus. Die alte Zeit, die Geschichte, vermischt mit den Wahrheiten der Bibel. Der Turmbau, die Verworrenheit, die vielen Sprachen, die Kulturen. Sie vergaß, zu essen. Ich erzählte ihr vom Pergamonmuseum in Berlin. Dass dort ein babylonisches Stadttor aufgebaut ist und es einen Bereich babylonischer Denkmäler gibt. „Wann fahren wir? Papa! Ich will das sehen.“

Der Einstieg ins Wochenende war also Babylon. Mein Problem ist, wenn solche Dinge im Hirn angetickt sind, gibt es kein Halten mehr. Das verselbständigt sich. Da oben hat jemand anderes das Sagen. Also lief der Pergamon-Babylon-Film. Am Samstag war ich dann glücklicherweise im Wald und habe eine große, kranke Fichte gefällt und eine bereits am Boden liegende, vom Sturm erlegte Fichte mit meiner Stihl MS23 zerteilt. Alles auf den Hänger meines Traktors und ab nach Hause. Kopf frei. Nur noch Bäume drin. Hohe, große, schwere Bäume.

Samstagabend dann waren wir in Köln im Schauspiel und haben uns mit Freunden „Die Wellen“ nach einem Roman von Virginia Woolf angesehen. Ich habe seit rund fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder ein großes Theater betreten. Ein Haus der öffentlichen Hand. Nachdem Karin Beier in Köln eine neue Theaterkultur geschaffen hat, war die Neugierde dann doch größer als das Gefühl der Ablehnung. Es war ein faszinierender Abend. Ganz anders. Die Schauspiele/rinnen lasen den Text und setzten sie gleichzeitig per Video um. Tolle Bilder auf der Leinwand, als wären sie aus einem berühmten Kinofilm, dabei entstanden sie gerade auf der Bühne. Eindrucksvolle Aufnahmen und Stimmen. Links und rechts der Bühne hohe Regale voller Requisiten, um die kleinen Szenen auf einem langen Tisch immer wieder neu aufzubauen. Ich war: überwältigt.

Sonntag dann zurück zum Pergamonaltar. Wenn alles klappt, fahren Zoe und ich einen Tag mit der Bahn hin. Ab Hamm per ICE. Ich wusste, dass ich auf dem Speicher noch einen Ausstellungskatalog des Pergamonmuseums hatte. Den wollte ich Zoe zeigen. Gekramt, geschaufelt, geächzt, gestöhnt, in den Tiefen unseres Archivs entdeckt. Da war sie. Die Schatzkiste. Voller Bücher, voller CDs, die ich jahrelang vermisst hatte. Ich dachte, die wären einfach weg. Irgendwie abhanden gekommen. Juwelen, Diamanten, Diademe. Zoe und ich haben uns dann den Pergamonaltar angesehen, den Kampf der Götter mit den Giganten. Gigantisch, der Ausdruck in den Gesichtern, die Details der Körper. Michelangelo, Psychologie, Leiden, Mut, Auseinadersetzung. Menschsein. Weil wir auch meine Shakespeare-Gesamtausgabe gefunden haben, lasen wir dann als Gute-Nacht-Geschichte den Anfang von Romeo und Julia. Und zum Frühstück heute Morgen, als Ela die Kinder zum Bus brachte und vor mir ein Cappuccino in einer französischen Boule dampfte, hörte ich Once Upon A Summertime von Miles Davis (Leider gibt es nix auf Youtube. Auf dieser Seite ist der Song etwas schwierig zu finden – es ist der 56te von oben – ihr macht das schon). Ein Wochenende voller Schätze. Es ist alles da. Immer. Der Blick allein schweift manchmal in die falsche Richtung und wir sehen Dinge nur, deren Anlitz Schönheit zu negieren sucht.

Euch wünsche ich eine schöne Schatzsuchen-Woche – schaut mal nach, was da ist. In den Stübchen und Eckchen des Seins.

True Grit, The King’s Speech, Pina.

In diesem Jahr hat es Hollywood geschafft, mich ins Oscar-Fieber zu ziehen. Hallo Herr Schönlau, schön, dass sie sich auf den Walk of Fame gemacht haben, und ein paar Sterne vergeben wollen, die Menschen an den Himmel schießen. Gute Überleitung, Sterne, Western, US-Marshall Jeff Bridges und Texas-Ranger Matt Damon. Beide tragen einen, wie einst John Wayne, in dessen Fußstapfen sie mehr oder weniger treten. True Grit. Gestern Abend in Siegen. Skurriles Publikum, die Popcorntüten werden immer größer, für die Becher mit der schwarzen Geheimniskrämer-Limonade dürften 10.000 Xe vor dem L nicht mehr ausreichen. Wieso erinnert mich das – ich werde jetzt mal im Stile der Coen-Brüder böse und sarkastisch – an die Fütterung von diesen netten intelligenten Tieren, die im Kino manchmal Babe genannt werden? Neben mir zogen sich zwei Jungs auf ihrer Kuschelbank die Mega-Portion Tortilla-Chips mit Doppeldip rein. Das knackste und roch streng nach chemischen Gewürzen und Dip. Die Jungs waren zudem über ihre Kuschelbank überrascht – „Hey, wie assi is das denn? Deshalb hat die Alte so gegrinst.“ True Grit. Western, harte Burschen.

Ziemlich viele Oscars sollen die Coens, Bridges und Damons bekommen. Moment. Ein Name fehlt: Hailee Steinfeld. 14 Jahre alt, oscarnominiert. Sie spielt in diesem Remake des 70’er Klassikers mit John Wayne die Mattie, die den Rachefeldzug am Mord ihres Vaters in die eigenen Hände nimmt. Was sie da spielt, ist nicht nur für ihr Alter oscarverdächtig. Ganz in der Rolle, zweihundertprozentig überzeugend. Bridges spielt schon gut, aber Steinfeld ist grandios. Leider kackt Damon ab. Vielleicht auch nur durch die leicht veralbernde Synchronstimme, vielleicht wollten die Coens zu viel. Er wirkt als Texas-Rancher La Beef ein wenig turtelig überzeichnet. Schade, wo ich diesen Sexiest Man Alive (nicht meine Aussage) doch tatsächlich ziemlich gerne mag. Allerdings nicht, wenn er durch Szenen hampelt.

Was passiert im Film? Einiges Skurriles. In Sepiafarben gemalt, werden die rauen Zeiten inszeniert. Schmutzige Unterwäsche, Whiskeyflaschen, da hängt jemand hoch an einem Baum, wird abgeschnitten, fällt herunter, von einem vorbeiziehenden Indianer mitgenommen, um an einen weißen Medizinmann verkauft zu werden, der ihn weiterverkaufen will, nachdem er ihm die Zähne gezogen hat. True Grit. Wahrer Mut. Klar, den haben die Coens. Die machen einfach. Deshalb kommt Bridges so gut, weil er sich fett – im wahrsten Sinne des Wortes – auf den breiten Rücken der Rolle setzen kann. „Ich wollte mal auf einem Pferd sitzen“, sagte er in etwa so. Den alten Stinkstiefel kann er wie kein zweiter. Oscars? Ja. Auf alle Fälle für Hailee. O.K., Jeff würde ich auch einen geben. Für den Film? Muss nicht unbedingt. Total umgehauen hat er zwar viele Cowboys, die mit klaffenden Wunden von Pferden fielen oder an die Wand geknallt wurden, mich aber nicht. Emotional hat er nicht gepackt. Frech ist er, verspielt. Den Kick hat er nicht.

Vielleicht The King’s Speech? Hab ich letzte Woche gesehen. Auch in Siegen. Kaum Publikum. Eindeutiges Oscar-Votum? Langsam. Auch hier schreibt die Presse und die Werbetrommel rührt. Bombastische Superlative der Kategorie über allem sind da zu vernehmen. Welche Kraft die Maschinerie entwickelt. Welchen Sog. Wie von Sinnen tippte ich mein Ja unter die Online-Reservierung und ließ mich wie ein Schaf vom Hirten in den Kinosessel locken. Dieses Mal von den werten Engländern, die in Hollywood gerne groß auftrumpfen würden.

Komischerweise wieder Sepiafarbtöne. Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Alles braun, schwarz, grau, blass. Pastellig. Wie in True Grit. Zeiterscheinung. Eine Ästhetik, die wunderbare Kameraeinstellungen in den Londoner Nebel zaubert. Schön anzusehen. Die Kamera, ihr würde ich den Prinzen in Gold an das Objektiv hängen. Hier, nimm, mein wachsames Auge. Und dann ist da Co-Co-Colin Fi-Fi-Firth, der bereits für den Oscar nominiert ist. Der stottert sich ganz schön was zurecht. Ohne Unterstützung, wie er gesagt hat. Es gibt viele Leute, die einem helfen, mit dem Stottern aufzuhören, eine Einweisung in prachtvolles Stottern ist am Markt der Coaches und Trainer nicht abrufbar. Meint er. Firth hat sich eingefühlt, hat sich das bei Könnern abgeschaut. Und er hat seine Sache britisch stocksteif gut gemacht. Die Gespräche mit seinem Logopäden, der innere und äußere Kampf sind sehenswert. Firth oder Bridges? Es wird ein Kopf- an Kopfrennen. Zumindest aus meiner Perspektive. Wie die Jury drüben in den States denkt und tickt, keine Ahnung. Die haben ein anderes Verhältnis zu Sternen und Sternchen.

Ja, ich habe etwas vergessen. Den Oscar für den besten Film. Hier bringe ich ganz deutsch alternativ ein drittes Pferd auf die Rennbahn. Pina von Wim Wenders. Ich antizipiere, nehme vorweg, weil ich den Film noch nicht gesehen habe. Nur den Trailer. Weshalb dann meine Favoritenbelegung? Ich meine, fernab der Oscars. So weit ich weiß, ist Pina nicht nominiert. Oder? Hab gegoogelt und so schnell nichts gefunden. Egal. Ich werde ihn mir ansehen, wenn das hier in der Gegend möglich ist. Ob Filme über Tanztheater auf dem Land gezeigt werden? Passt nicht zu den XXXXXL-Fressorgien, die hier abgehalten werden. Ich denke, Pina schafft es nicht aufs Land. Egal. Also ein Doppelegal. Zweimal. Was mir der Trailer gezeigt hat, die Poesie, die Bilder, die Ästhetik, die Tänzer/innen, der Ausdruck – das ist mir nicht egal. Sehr vielversprechend. Scheinbar eine authentische Hommage an die Größte des Tanzes: Pina Bausch. Gestorben 2009. Auferstanden 2011?

Macht euch selbst ein Bild, was euch gefällt und wie es euch gefällt. Hier die Trailer-Links (bitte jeweils ein wenig warten, die Trailer beginnen dann automatisch). Viel Spaß mit großem Kino – ob Oscars oder nicht:

True Grit

The King’s Speech

Pina

Schneefrei im fiftyfiftyblog.


Gestern hörte ich im Radio, dass heute Nacht Schnee aus Russland herüberwehen würde. Klar, dachte ich. Schnee. Die Frau vom Wetterdienst klang zwar ziemlich überzeugt und sagte „Im Siegerland schneit es in der späten Nacht.“ Da ich draußen die Wildgänse zurückkommen sah, konnte ich die Schneenummer nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Und dann: Alles weiß am Morgen. Zappa! Das Telefon klingelte, die Schulbusse würden eine Stunde später fahren. Morgentiming, minutiöser Zeitplan hinfällig. Eine Stunde später kam der Bus dann nicht. Wir warteten, wir warteten, meine Bloggingzeit schwand. Wir fuhren nach Hause, Cooper verlangte nach seiner Runde und jetzt wartet Arbeit. So kann’s gehen. Kein Blogbeitrag, nur ein düsteres Zweigefoto und mal wieder ein Sonnenaufgang – dieses Mal im Maikäfertal, gestern. Schönen Schneetag euch:)

Projekt Elaine 14

Am nächsten Morgen brannte der Scheinwerfer noch. Im Zimmer roch es nach Ölfarbe. Es war dunkel, früh am Morgen, kein Vogel krähte oder zwitscherte. Cat fragte sich oft, wo und wie Vögel im Winter wohl schlafen. Mit der Kälte, dem Frost umgehen. Nur mit so ein paar Federn bekleidet. Manchmal taten sie ihr leid, vor allem die kleinen. In der Nacht hatte sie unruhig geschlafen, wirr geträumt, gleichzeitig schön und schrecklich. Ihre Seele, ihr Geist hatte sich ausgetobt und für Cat ungewöhnliche Szenen und Bilder in den Raum geworfen. Sie war verunsichert, überrascht. Ein Blick auf ihr Wandbild genügte als Erklärung. Wenn sich etwas löst, reißt es vieles mit sich. Manchmal staut sich etwas und bricht sich zum richtigen oder falschen Zeitpunkt seine Bahn. Unvorhergesehen. Cat stand auf, schaltete den Scheinwerfer aus und berührte mit der Spitze ihres Zeigefingers das Werk, um zu sehen, zu spüren, ob es real ist, ob die Farbe getrocknet ist und nicht abblättert, einfach abfällt von der Wand, vom Grund des Bildes. Sie zog sich an, schnappte sich ihre Tasche, schlich in die Küche, goss sich einen Kaffee auf, trank ihn langsam und dachte an Sue. Dieses Gefühl, diese Sehnsucht war wieder da. Sie wollte zu ihr, wollte, dass sie wieder da ist, wollte sich entschuldigen und eine Entschuldigung hören. Sie würde sich bewegen müssen, in jedem Fall. Sie konnte nicht klar denken, konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte Angst, einen Fehler gemacht zu haben und mit einem Satz eine Freundin, die Freundin verloren zu haben. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit Streitsituationen. Sie hatte Neuland betreten. Ihrer Mutter wollte sie sich nicht anvertrauen, weshalb, wusste sie selbst nicht genau.

Als ihr Jérôme einfiel, wer sonst, stieß sie die Tasse um. Im gleichen Augenblick des aufkommenden Gedankens hatte sie auch schon ihre Tasche greifen wollen. Der Kaffee sickerte in die weiße Tischdecke, wurde aufgesogen. Cat sah kurz ein Muster, dachte an ihr Wandbild, an Formen, die in jedem Augenblick ganz natürlich entstehen. Egal. Sie musste zu Jérôme, musste ihn um Hilfe bitten, mit ihm sprechen, ihn fragen, löchern, aushorchen. Mit Sicherheit hatte er mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen und Freunden. Sie rief ihn nicht an, sondern lief einfach los. Den Fluss entlang durch den Park bis in die Innenstadt. Er würde noch schlafen in seiner Wohnung über dem Laden, die eigentlich nur ein Zimmer mit Klo und Kochnische war. Jérôme war vor zwei Jahren aus Brüssel hergekommen, um im Antiquariat seines Onkels zu arbeiten. Seine Eltern hatten ihn hergeschickt, nachdem er sich parallel zum Studium „einige Dummheiten erlaubt hatte“. So lautete die offizielle Version, die Cat von ihm und seinem Onkel gehört hatte. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen, weil Jérôme weder so aussah, als würde er irgendwelche Dummheiten begehen noch verriet irgendetwas anderes an ihm eine Neigung dazu. Er sprach gut deutsch, obwohl sie sein Französisch lieber mochte und wirkte auf sie französisch. Meist trug er Hemden und darüber feine Wollpullover in Unifarben, unter den Hüftjeans lugten Chucks hervor. Ein gleichsam cooler und feiner Typ, einer, der nicht viel brauchte, um wahrgenommen zu werden. Als sie ihn das erste Mal sah, räumte er Bücher aus einem Karton in ein Regal. Sie war in den Laden gekommen, um nach neuen gebrauchten Kunstbänden zu sehen. Der Großteil ihres Taschengeldes landete hier. Ihre Garderobe zahlte ihre Mutter, Geld für Cafés, Kneipen oder Discos hatte sie bislang nicht gebraucht. Jérôme schaute sie über einen Buchrücken hinweg an. Dieses erste Bild hatte sich ihr eingeprägt. Die kurzen braunen Locken, die braunen Augen, die das Lächeln in seinem Gesicht verrieten. Sie hatte zurückgelächelt und sich über sein „Salut“ gefreut. Als sie im Regal der Kunstbände stöberte, kam er zu ihr. Mit leichtem französischem Akzent fragte er sie, ob er ihr helfen könne. „Kennst du dich mit Kunst aus?“ „Ja, ein wenig. Ich habe in Brüssel zwei Semester Kunstgeschichte studiert. An der Université libre de Bruxelles.“ Cat hatte zuvor nie von der Université libre de Bruxelles gehört, empfand den Klang aber als exotisch. Als habe er in einer fernen Welt gelebt, studiert. Tatsächlich kam ihr Brüssel so weit weg vor, als habe er Chicago gesagt. Oder Hongkong. „Kennst du dich auch mit zeitgenössischer Kunst aus?“, hatte sie ihn gefragt. Die beiden kamen ins Gespräch, glichen ihren Wissenstand ab und hatten sich gegenseitig überrascht. Irgendwann brachte ihnen Paul, Jérômes Onkel, eine Kanne mit Tee und Gebäck. „Jetzt steht ihr hier schon zwei Stunden und redet und redet und redet. Ich werde nie verstehen, was es mit dieser Kunst auf sich hat. Beuys, Fettecken, Rauschenberg, Lichtenstein, Warhol. Herrje, als hätte die Welt nichts anderes zu tun, als sich mit Abstraktionen auseinanderzusetzen. Fräulein Catherine, ich bin einfach immer froh, wenn sie diese unchristlichen Bücher mit sich nehmen. Sie befreien mich, nehmen mir eine Last von der Schulter. Ja, qui, es ist eine gute Tat, die sie da Woche für Woche vollbringen. Das kann ich ihnen sagen. Und nun setzt euch, der Mensch muss auch mal dem Körper etwas Nahrung zuführen. Heute wollen alle so dürr sein. Sehen sie sich Jérôme an. Eine Katastrophe. Das soll ein junger Mann sein? Ah.“ Cat lächelte, bedankte sich und setzte sich artig an den kleinen Besuchertisch vorne direkt hinter der großen Scheibe des Schaufensters. Jérôme ließ sich noch auf ein kleines Scharmützel mit seinem Onkel ein, betonte, sowohl Shakespeare als auch Sartre und sowieso dieser Foucault seien überbewertet. Vollkommen überbewertet. Paul winkte ab, wusste die Retourkutsche des Neffen zu parieren. Seit diesem ersten Aufeinadertreffen war Jérôme ihr wichtigster Gesprächspartner geworden. Viele ihrer Bildbände hatte er für sie besorgt. Aus Nachlässen, über das Internet, auf Flohmärkten, die er mit Paul am Wochenende auf der Suche nach neuer, alter Ware besuchte. Für Cat war das Auftauchen von Jérôme ein Glücksfall gewesen. Sie wusste nicht genau, was er für sie war. Bücherverkäufer, Freund, Geliebter. Manchmal war sie in ihn verliebt. Nach Treffen mit ihm ging sie tänzelnd nach Hause. Dann wieder vergaß sie ihn, verlor ihn vorübergehend aus dem Blick, zog sich in sich zurück und tauchte erst nach Wochen wieder im Laden auf. Einmal hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen. Es war eine förmliche Einladung. „Mademoiselle Catherine, darf ich sie morgen Nachmittag auf einen Kaffee und Kuchen einladen? In das Café am Markt? Es würde mich sehr freuen.“ Cat hatte lachen müssen. „Machen das Franzosen so? Werden sie dann immer so förmlich?“ Jérôme hatte den tief Getroffenen gespielt. „Sie haben mich einen Franzosen genannt. Mon Dieu. Belgique, das Land meiner Väter. Und Mütter, ja, die auch.“ Cat hatte sich mit einem Lachen entschuldigt und die Einladung angenommen. Sie hatten den ganzen Nachmittag im Café am Markt gesessen und über Kunst und Brüssel gesprochen. Zu mehr war es nicht gekommen. Kein Verlangen, keine Leidenschaft, keine sehnsüchtige Liebe. Sie hatten es versucht, es war nicht entstanden. Aber sie waren eine Art Freunde geworden. Bücherfreunde.

Cat stürmte die schmale Metalltreppe am Laden aus rotem Backstein hinauf und klopfte an die Tür. Jérôme öffnete die Tür, sah ihr verschlafen mit abstehenden Locken, schmalen Augen und in Boxershorts ins Gesicht. „Was machst du hier? Es ist noch dunkel.“ Cat ging ohne zu antworten ins Zimmer. Sie war vorher noch nie in der Wohnung gewesen, wusste nur aus Erzählungen, dass er hier oben über dem Laden wohnte. Sie ging zur Küchenzeile und setzte Kaffee auf, während Jérôme seine Klamotten zusammensuchte, sich anzog und ganz allmählich wach wurde. Er zog sein Bett glatt, warf die Tagesdecke über und setzte sich. Cat gab ihm eine Tasse Kaffee, nahm sich auch eine und setzte sich neben ihn. „Ich brauche deine Hilfe, deinen Rat.“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, versuchte ihm Sue begreiflich zu machen und überschlug sich dabei in ihren Ausführungen. „Du möchtest sie nicht verlieren. Das ist es, was du mir sagen möchtest?“ Cat nickte. „Gut. Zwar kenne ich deine Sue nicht, aber da sie gerne in deinen Bildbänden blättert, hätte ich da ein Geschenk, das du ihr machen könntest. Habe ich am Wochenende entdeckt und eigentlich für dich zur Seite gelegt. Schenk es ihr. Geh zur Schule, setz dich neben sie und schieb es ihr rüber. Sie wird es verstehen und lächeln oder nicht verstehen und dann hakst du sie einfach ab. Wir gehen runter, ich geb’s dir.“ Jérôme schloss den Laden auf, suchte das Buch raus und gab es Cat. „Ich schenke es dir, damit du es verschenken kannst. Ein Freundschaftsdienst, sozusagen.“ Cats Augen wurden glasig. „Wie kann ich mich bei dir bedanken?“ Jérôme lächelte und hielt ihr die Wange hin. „Mademoiselle Catherine, in ihrem Fall bin ich mit einem kleinen Kuss auf die Wange fürstlich entlohnt.“ Cat küsste ihn, drückte ihn darüber hinaus, ging.

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine 11

Projekt Elaine 12

Projekt Elaine 13

So schön intensiv kann Schule sein.

Werte Leserinnen, werte Leser. Ich habe es mehrfach angedeutet, aber mich bislang nicht wirklich getraut, darüber zu schreiben. Fast ist es ein Outing, wüssten die meisten Menschen, die hier regelmäßig vorbeischneien, es nicht eh schon: Meine Kinder besuchen eine Waldorfschule. Ich schreibe das in diesem vorsichtigen Stile, weil diese Beichte in der Erfahrungswelt meiner Vergangenheit oft zu Beschimpfungen führte. Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das ich mir mittlerweile so erkläre: Es wird als Vorwurf verstanden. Als Abgrenzung zu den normal üblichen Schulen. Es entsteht eine Verteidigungshaltung, weil, so glaube ich, das Gefühl aufkommt, die eigene Wahl einer staatlichen Schule würde durch die Wahl einer Freien Waldorfschule kritisiert. Hinterfragt.

Deshalb gehe ich dem Thema aus dem Weg und sage anderen Menschen im persönlichen Gespräch nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass meine Kinder eine andere Schule besuchen. Darauf folgt die Frage: Ach ja, welche denn? Dann sage ich es und sehe ein Zucken. Als hätte ich eine moralische Verurteilung ausgesprochen. Ich möchte niemanden verurteilen. Ich möchte mich auch nicht über irgendjemanden stellen. Ich möchte auch niemandes Schulwahl bewerten oder gar verurteilen. Ich möchte nur meine Kinder auf die Schule schicken, die ich für passend empfinde. Passend für sie, für uns.

Heute nun schreibe ich über die Waldorfschule, weil ich ein sehr schönes, bewegendes, intensives Erlebnis hatte. Am letzten Wochenende war der Termin der öffentlichen Vorträge der achten Klasse. Es gehört zum Waldorflehrplan in diesem Schuljahr, eine Biographiearbeit zu schreiben. Der Sinn und Zweck ist es, dem besonderen Lebensalter von 14 Jahren ein besonderes Erlebnis, eine besondere Herausforderung, eine besondere Erinnerung zu geben. Mit 14 wird die Verabschiedung der Kindheit eingeläutet – aus Kindern werden Pubertierende, Erwachsene. An dieser Nahstelle persönlicher Entwicklung ist die Biographiearbeit eine Art Orientierungshilfe.

Die Schüler/innen haben sich im Herbst einen Menschen gesucht, mit dessen Leben sie sich beschäftigten wollten. Jim hat Marie Curie gewählt. Andere Barack Obama, Udo Lindenberg, Walter Röhrl, Anne Frank, Gustav Gründgens, Brigitte Bardot…
Nach den Herbstferien haben die Schüler/innen einen Zeitplan für sich erarbeitet – Recherche, das Schreiben der Arbeit, Entwicklung eines praktischen Teils, Vorbereitung des öffentlichen Vortrags. Zwar haben die in den letzten Jahren mehrere Referate geschrieben und gehalten, aber keines von einem solchen Umfang. Rund 15 DIN A4-Seiten. Abgabetermin war Anfang Februar, die 15-minütigen Vorträge wurden dann letzten Freitag und Samstag gehalten (38 x 15 Minuten!). Im großen Eurythmiesaal. Die praktischen Arbeiten wurden im Mehrzweckraum präsentiert. Jim zeigte ein großes Foto von Marie Curie in ihrem Labor und ein selbst gefertigtes Atommodell (etwa 60 cm hoch) des Elementes Radium, das Marie Curie entdeckt hat. Dafür und für die Entdeckung des Poloniums erhielt sie jeweils einen Nobelpreis. Als erste Frau.

Ich war ziemlich überrascht, als mir Jim sein Radium-Modell erklärt hat. Er war tief eingestiegen in die Materie. Sprach von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung, von Helium4-Kernen, von ionisierender Strahlung, Neutronen, Protonen, Elektronen. Er war so fasziniert und ergriffen. Parallel ließ er auf seinem Laptop eine Powerpointpräsentation mit Fotos und den wichtigsten Stationen der Forscherin ablaufen. Am intensivsten jedoch waren die Vorträge. Es gab eine Bühne mit einem großen Rednerpult. Hier standen die Vortragenden und sprachen fünfzehn Minuten vor über 100 Menschen. Mit 14 Jahren. Sie hatten zu zeigen, was sie über den Menschen, mit dem sie sich beschäftigt hatten, herausgefunden haben. Was da vom Rednerpult herunter kam, war beeindruckend. Meist verschwand nach den ersten Sätzen die Aufregung und Begeisterung für das Thema brach heraus.

Für die Schüler/innen war es ein Sprung ins kalte Wasser. Die hatten richtig Schiss. Verständlich, hätte ich auch gehabt. Aber, sie haben es alle gemacht. Und sie haben sich alle gegenseitig zugehört und so die Biographien von 38 Menschen kennengelernt. Haben Höfen und Tiefen menschlichen Seins erlebt, haben gehört und gesehen, wie es im Leben laufen kann. Besonders eindrucksvoll war die Präsentation eines jungen Mannes, der sich Johnny Cash vorgenommen hat. Der Saal hing an seinen Lippen, es war magisch. Am Ende sang er einen Johnny Cash Song. Den aus dem Gefängnis. St. Quentin. Er sang, spielte Gitarre und ließ sich durch seinen Bruder auf der E-Gitarre begleiten. Wunderbar. Ein Stück sichtbar gewordene Menschwerdung. Das Reifen, Formen, Festigen von Persönlichkeit.

Als Jim seinen Vortrag nahezu ohne einen Blick auf sein Konzeptpapier gehalten hatte, war ich ziemlich ergriffen. Ich weiß noch, als ich ihn nach der Geburt im Arm hielt. Und nun stand er da oben und sprach, als habe er nie etwas anderes gemacht. Mächtig stolz war ich und froh, dass er diese Schule besucht, die ihm diese Möglichkeiten der Wegfindung bietet. Im nächsten Monat wird die Klasse das Theaterstück Die Welle einstudieren. Wieder werden sie an ihre Grenzen gehen und Ängste überwinden müssen. Alle haben eine Rolle. Auch der Mathefreak muss raus auf die Bühne. Jim wird den Lehrer spielen, der sich verleiten lässt und verleitet. Zu unguten Dingen. Dieses Mal werden mehrere hundert Menschen im großen Theatersaal sein und zusehen, wie sich Schüler/innen wieder einen Schritt weiter nach vorne in ihr eigenes Leben bewegen. Ausprobieren, erleben, erfühlen. Sehe ich am Ende der Schulzeit die jungen Menschen auf der Bühne, weiß ich, dass sie gut gerüstet sind. Das gibt mir ein gutes, schönes Gefühl, aus dem heraus mir dieser Text wichtig war.