Am nächsten Morgen brannte der Scheinwerfer noch. Im Zimmer roch es nach Ölfarbe. Es war dunkel, früh am Morgen, kein Vogel krähte oder zwitscherte. Cat fragte sich oft, wo und wie Vögel im Winter wohl schlafen. Mit der Kälte, dem Frost umgehen. Nur mit so ein paar Federn bekleidet. Manchmal taten sie ihr leid, vor allem die kleinen. In der Nacht hatte sie unruhig geschlafen, wirr geträumt, gleichzeitig schön und schrecklich. Ihre Seele, ihr Geist hatte sich ausgetobt und für Cat ungewöhnliche Szenen und Bilder in den Raum geworfen. Sie war verunsichert, überrascht. Ein Blick auf ihr Wandbild genügte als Erklärung. Wenn sich etwas löst, reißt es vieles mit sich. Manchmal staut sich etwas und bricht sich zum richtigen oder falschen Zeitpunkt seine Bahn. Unvorhergesehen. Cat stand auf, schaltete den Scheinwerfer aus und berührte mit der Spitze ihres Zeigefingers das Werk, um zu sehen, zu spüren, ob es real ist, ob die Farbe getrocknet ist und nicht abblättert, einfach abfällt von der Wand, vom Grund des Bildes. Sie zog sich an, schnappte sich ihre Tasche, schlich in die Küche, goss sich einen Kaffee auf, trank ihn langsam und dachte an Sue. Dieses Gefühl, diese Sehnsucht war wieder da. Sie wollte zu ihr, wollte, dass sie wieder da ist, wollte sich entschuldigen und eine Entschuldigung hören. Sie würde sich bewegen müssen, in jedem Fall. Sie konnte nicht klar denken, konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte Angst, einen Fehler gemacht zu haben und mit einem Satz eine Freundin, die Freundin verloren zu haben. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit Streitsituationen. Sie hatte Neuland betreten. Ihrer Mutter wollte sie sich nicht anvertrauen, weshalb, wusste sie selbst nicht genau.
Als ihr Jérôme einfiel, wer sonst, stieß sie die Tasse um. Im gleichen Augenblick des aufkommenden Gedankens hatte sie auch schon ihre Tasche greifen wollen. Der Kaffee sickerte in die weiße Tischdecke, wurde aufgesogen. Cat sah kurz ein Muster, dachte an ihr Wandbild, an Formen, die in jedem Augenblick ganz natürlich entstehen. Egal. Sie musste zu Jérôme, musste ihn um Hilfe bitten, mit ihm sprechen, ihn fragen, löchern, aushorchen. Mit Sicherheit hatte er mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen und Freunden. Sie rief ihn nicht an, sondern lief einfach los. Den Fluss entlang durch den Park bis in die Innenstadt. Er würde noch schlafen in seiner Wohnung über dem Laden, die eigentlich nur ein Zimmer mit Klo und Kochnische war. Jérôme war vor zwei Jahren aus Brüssel hergekommen, um im Antiquariat seines Onkels zu arbeiten. Seine Eltern hatten ihn hergeschickt, nachdem er sich parallel zum Studium „einige Dummheiten erlaubt hatte“. So lautete die offizielle Version, die Cat von ihm und seinem Onkel gehört hatte. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen, weil Jérôme weder so aussah, als würde er irgendwelche Dummheiten begehen noch verriet irgendetwas anderes an ihm eine Neigung dazu. Er sprach gut deutsch, obwohl sie sein Französisch lieber mochte und wirkte auf sie französisch. Meist trug er Hemden und darüber feine Wollpullover in Unifarben, unter den Hüftjeans lugten Chucks hervor. Ein gleichsam cooler und feiner Typ, einer, der nicht viel brauchte, um wahrgenommen zu werden. Als sie ihn das erste Mal sah, räumte er Bücher aus einem Karton in ein Regal. Sie war in den Laden gekommen, um nach neuen gebrauchten Kunstbänden zu sehen. Der Großteil ihres Taschengeldes landete hier. Ihre Garderobe zahlte ihre Mutter, Geld für Cafés, Kneipen oder Discos hatte sie bislang nicht gebraucht. Jérôme schaute sie über einen Buchrücken hinweg an. Dieses erste Bild hatte sich ihr eingeprägt. Die kurzen braunen Locken, die braunen Augen, die das Lächeln in seinem Gesicht verrieten. Sie hatte zurückgelächelt und sich über sein „Salut“ gefreut. Als sie im Regal der Kunstbände stöberte, kam er zu ihr. Mit leichtem französischem Akzent fragte er sie, ob er ihr helfen könne. „Kennst du dich mit Kunst aus?“ „Ja, ein wenig. Ich habe in Brüssel zwei Semester Kunstgeschichte studiert. An der Université libre de Bruxelles.“ Cat hatte zuvor nie von der Université libre de Bruxelles gehört, empfand den Klang aber als exotisch. Als habe er in einer fernen Welt gelebt, studiert. Tatsächlich kam ihr Brüssel so weit weg vor, als habe er Chicago gesagt. Oder Hongkong. „Kennst du dich auch mit zeitgenössischer Kunst aus?“, hatte sie ihn gefragt. Die beiden kamen ins Gespräch, glichen ihren Wissenstand ab und hatten sich gegenseitig überrascht. Irgendwann brachte ihnen Paul, Jérômes Onkel, eine Kanne mit Tee und Gebäck. „Jetzt steht ihr hier schon zwei Stunden und redet und redet und redet. Ich werde nie verstehen, was es mit dieser Kunst auf sich hat. Beuys, Fettecken, Rauschenberg, Lichtenstein, Warhol. Herrje, als hätte die Welt nichts anderes zu tun, als sich mit Abstraktionen auseinanderzusetzen. Fräulein Catherine, ich bin einfach immer froh, wenn sie diese unchristlichen Bücher mit sich nehmen. Sie befreien mich, nehmen mir eine Last von der Schulter. Ja, qui, es ist eine gute Tat, die sie da Woche für Woche vollbringen. Das kann ich ihnen sagen. Und nun setzt euch, der Mensch muss auch mal dem Körper etwas Nahrung zuführen. Heute wollen alle so dürr sein. Sehen sie sich Jérôme an. Eine Katastrophe. Das soll ein junger Mann sein? Ah.“ Cat lächelte, bedankte sich und setzte sich artig an den kleinen Besuchertisch vorne direkt hinter der großen Scheibe des Schaufensters. Jérôme ließ sich noch auf ein kleines Scharmützel mit seinem Onkel ein, betonte, sowohl Shakespeare als auch Sartre und sowieso dieser Foucault seien überbewertet. Vollkommen überbewertet. Paul winkte ab, wusste die Retourkutsche des Neffen zu parieren. Seit diesem ersten Aufeinadertreffen war Jérôme ihr wichtigster Gesprächspartner geworden. Viele ihrer Bildbände hatte er für sie besorgt. Aus Nachlässen, über das Internet, auf Flohmärkten, die er mit Paul am Wochenende auf der Suche nach neuer, alter Ware besuchte. Für Cat war das Auftauchen von Jérôme ein Glücksfall gewesen. Sie wusste nicht genau, was er für sie war. Bücherverkäufer, Freund, Geliebter. Manchmal war sie in ihn verliebt. Nach Treffen mit ihm ging sie tänzelnd nach Hause. Dann wieder vergaß sie ihn, verlor ihn vorübergehend aus dem Blick, zog sich in sich zurück und tauchte erst nach Wochen wieder im Laden auf. Einmal hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen. Es war eine förmliche Einladung. „Mademoiselle Catherine, darf ich sie morgen Nachmittag auf einen Kaffee und Kuchen einladen? In das Café am Markt? Es würde mich sehr freuen.“ Cat hatte lachen müssen. „Machen das Franzosen so? Werden sie dann immer so förmlich?“ Jérôme hatte den tief Getroffenen gespielt. „Sie haben mich einen Franzosen genannt. Mon Dieu. Belgique, das Land meiner Väter. Und Mütter, ja, die auch.“ Cat hatte sich mit einem Lachen entschuldigt und die Einladung angenommen. Sie hatten den ganzen Nachmittag im Café am Markt gesessen und über Kunst und Brüssel gesprochen. Zu mehr war es nicht gekommen. Kein Verlangen, keine Leidenschaft, keine sehnsüchtige Liebe. Sie hatten es versucht, es war nicht entstanden. Aber sie waren eine Art Freunde geworden. Bücherfreunde.
Cat stürmte die schmale Metalltreppe am Laden aus rotem Backstein hinauf und klopfte an die Tür. Jérôme öffnete die Tür, sah ihr verschlafen mit abstehenden Locken, schmalen Augen und in Boxershorts ins Gesicht. „Was machst du hier? Es ist noch dunkel.“ Cat ging ohne zu antworten ins Zimmer. Sie war vorher noch nie in der Wohnung gewesen, wusste nur aus Erzählungen, dass er hier oben über dem Laden wohnte. Sie ging zur Küchenzeile und setzte Kaffee auf, während Jérôme seine Klamotten zusammensuchte, sich anzog und ganz allmählich wach wurde. Er zog sein Bett glatt, warf die Tagesdecke über und setzte sich. Cat gab ihm eine Tasse Kaffee, nahm sich auch eine und setzte sich neben ihn. „Ich brauche deine Hilfe, deinen Rat.“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, versuchte ihm Sue begreiflich zu machen und überschlug sich dabei in ihren Ausführungen. „Du möchtest sie nicht verlieren. Das ist es, was du mir sagen möchtest?“ Cat nickte. „Gut. Zwar kenne ich deine Sue nicht, aber da sie gerne in deinen Bildbänden blättert, hätte ich da ein Geschenk, das du ihr machen könntest. Habe ich am Wochenende entdeckt und eigentlich für dich zur Seite gelegt. Schenk es ihr. Geh zur Schule, setz dich neben sie und schieb es ihr rüber. Sie wird es verstehen und lächeln oder nicht verstehen und dann hakst du sie einfach ab. Wir gehen runter, ich geb’s dir.“ Jérôme schloss den Laden auf, suchte das Buch raus und gab es Cat. „Ich schenke es dir, damit du es verschenken kannst. Ein Freundschaftsdienst, sozusagen.“ Cats Augen wurden glasig. „Wie kann ich mich bei dir bedanken?“ Jérôme lächelte und hielt ihr die Wange hin. „Mademoiselle Catherine, in ihrem Fall bin ich mit einem kleinen Kuss auf die Wange fürstlich entlohnt.“ Cat küsste ihn, drückte ihn darüber hinaus, ging.
Die weiteren Elaine Teile:
Bonjour, Monsieur Ecrivain,
schon wieder eine Fortsetzung. Wunderbar! Ich verfolge die Wörter und lasse den Tee kalt werden. Die Spannung steigt.
Es lebe die Schreibkunst.
Annegret
Bon Soir, Madame,
toute est bien? Ja, schon wieder ein Teil. Heute Früh hatte sich ein Job verschoben, wodurch ein Zeitfenster entstanden war. Die Suche ich momentan. Morgen bin ich dann leider wieder jobmäßig dicht. Ich meine, ist natürlich gut. Software statt Sue. Dann habe ich ein wenig Zeit zu überlegen, was ich nun schreibe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Abwarten.
Es lebe der Tee:)
Jens
Hallo Jens,
jetzt bin ich auch endlich mal durch :-) Sehr spannende Sache, das so zu verfolgen, wie Dein Buch wächst, und dann auch mit den Kommentaren (die ich hinterher gelesen habe) etwas in Deinen Kopf zu kriechen.
Die Figuren fesseln mich, sie sind der Grund, warum ich weiterlese. Ich muss aber auch gestehen, dass ich beim Lesen immer wieder pausieren musste, weil der Schreibstil mir zu anstrengend war. Für meine Lesegewohnheit zu wenig Absätze und zu wenig direkte Handlung. Und noch dazu auktorial, das ist nicht mein Ding. Und doch schaffst Du es, mich für die Figuren zu interessieren :-)
Folge 14 allerdings empfinde ich als unstimmig für Cat, da Du in den anderen Folgen sie so dargestellt hast, dass sie niemanden hat und sich sehr zurück zieht. In das Bild des Mädchens, das nur auf Sue wartet, kam mir Jérôme als “Bücherverkäufer, Freund oder Geliebter” nicht stimmig vor.
Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht und wohin die Handlungsfäden Dich bringen werden. Ich hoffe auf baldige Fortsetzung!
Viele Grüße, Petra
Hi Petra,
danke für das lesen aller 14 Folgen und den Kommentar. Ich weiß, mein Schreibstil ist anstrengend. Ich kann dir auch nicht sagen, weshalb ich so schreibe. Das hat sich so entwickelt in meinem literarischen Schreiben. Jérôme kann gut sein, dass er zu lebendig ist. Ich weiß nicht. Für mich war er die ganze Zeit da und ich darauf gewartet, dass er kommt. Aktuell habe ich hier gerade wieder viel zu tun und einige Abendtermine, so dass ich nicht zu Projekt Elaine komme. Ich bin aber auch noch nicht entschieden, wie es weitergeht. Die Richtung steht, aber konkret das nächste Kapitel hakt. Wird sich hopffentlich lösen…
Liebe Grüße
Jens
Hi Jens,
ach, so pauschal würde ich das mit dem “anstrengend” nicht auslegen. Für mich ist es halt außerhalb der Lesegewohnheit und damit schwerer verdaulich.
Was Jérôme angeht – es ist ja ein Leichtes, ihn vorher kurz zu erwähnen, dann freut man sich, ihn dann kennenzulernen, wenn sie zu ihm geht.
Ich finde es sehr spannend, dem Entstehen des ersten Drafts beizuwohnen (sozusagen) und hoffe, Du findest Zeit und Muße, weiterzuarbeiten. Und der Haken wird sich sicher lösen, das arbeitet ja immer fleißig im Untergrund bei uns Autoren ;-)
Viele Grüße, Petra-
Hi Petra,
das ist ein guter Hinweis, den jungen Mann vorher schon anzudeuten. Der Name fällt zwar mal, aber es wird nichts zu ihm gesagt. Ich werde mal sehen… Wann es weiter geht, kann ich dir nicht sagen, weil ich gerade viel zu tun habe. Und dann ist ja noch Karneval:)
Liebe Güße
Jens