Barbara Schachtners und Norbert van Ackerens Museum des Aufstehens und Untergehens in der Straße Harmonie

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Duisburg Ruhrort, die Zweite. Barbara Schachtner und Norbert van Ackeren, die X-te. Sie haben es wieder getan, sich einen Raum genommen und bespielt. Geformt, inszeniert, aufgeladen. In Bilder, Objekte, Subjekte, Videos, Bühnenbilder, Artefakte gehüllt, getaucht.

Nun habe ich schon einiges von den beiden gesehen und gehört an verschiedenen Orten. Köln, Essen, Duisburg. Labor Ebertplatz, Museum Kolumba, Maison Belge, Le Chat Noir und jetzt eben in diesem Ladenlokal in der Ruhrorter Harmoniestraße. Ecke, 34 A.

Die Türen öffnen nach 18 Uhr, vorher beschäftigen die Schaufenster. Da ist eine Bar aufgebaut, Käfer krabbeln unter Rotlicht, scharren in Erde, klettern über Rosenkohl, ein Film läuft: Der Hafen, Schiffe, alles in Gelb und Pink.

Die Inszenierung heißt: SCHACHTEN & ACKERN, Peripherie II, Lafayette

In der Einladung heißt es “Die RUHRORTER-NATIONAL-GALERIE verortet sich ein weiteres Mal in dem Hafenstadtteil Ruhrort und bittet das frisch gegründete Künstler-Duo SCHACHTEN + ACKERN, aus Duisburg/Köln, ihren Blick auf 300 Jahre Hafen zu richten, um mit den Techniken des Gesangs, der Malerei, der Performance und Installation, dem scheinbar Selbstverständlichen eine neue Aufmerksamkeit zu geben.”

Was ist das scheinbar Selbstverständliche? Nun, es ist Detektivarbeit. Barbara und Norbert haben in diesem Ladenlokal ein Labyrinth aufgebaut, das die Besucher aufsaugt, im Kreis gehen lässt. Ein dunkles Museum, in dem morbide Hände aus den Wänden wachsen und Vergänglichkeit an die Hand geben, präsentieren, ästhetisieren. Wo gibt es einen Halt, einen Hinweis, der die Sinne lenkt, verknüpft, führt?

Ich laufe mit meiner Kamera umher, verliere Viveka, treffe sie, sehe Barbara im Kostüm. Eine Außerirdische. Ziggy Stardust. Silber glitzernde Plateaustiefel. Die Frau, die vom Himmel fiel. In diese geschaffene, kommentierende, atmosphärische Welt. Eine, die verfolgt, beglotzt wird, die ihr Programm hat. Für sich, in der Rolle, Position, Szenerie gefangen, verloren.

Barbara 2

Barbara hat einen Rekorder bei sich. Es läuft Musik, Hans Albers, der späte, dessen Stimme, nunja, brüchig ist, schräg. Barbara kommentiert, spricht, flüstert, siniert einen langen Abend. Geht komplett rein, läuft umher, nimmt Platz, betrachtet, legt sich, schweigt, spricht, singt erneut.

Die Dinge finden zusammen. Die Beiträge aus diesem Blog fließen ineinander. Das erste Treffen damals im Labor, die Trakl Apotheke im Labor, die Performance und Ausstellung im Maison Belge.

12. Mai 2012, ein Zitat vorangestellt. Trakl.

“Liebend auch umfängt im Schweigen im Zimmer die Schatten der
Alten,
Die purpurnen Martern, Klagen eines großen Geschlechts,
Das fromm nun hingeht im einsamen Enkel.

Denn strahlender immer erwacht aus schwarzen Minuten des Wahn-
sinns
Der Duldende an versteinerter Schwelle

(aus der menschheitsdämmerung: Georg Trakl, Gesang des Abgeschiedenen)”

Affe

Trakl ist im Raum, van Ackerens Kunst, Sichtweise. Die Vergänglichkeit, das Zerfließen, Vergehen, Zerrinnen. Rot fließt es aus Löchern aus den Wänden auf den Boden. Lachen bilden sich. Ein Etwas löst sich in einem kleinen Raum auf. Die Säfte fließen, als wären es die Reste eines verwesenden Schweins. Vor dem Raum, das Knäuel aus Metall, auf dem das echte Schweineherz liegt. So, als hätte es gerade eben noch gepocht. Dort liegt es als Opfergabe vor dem aus der Wand hervorstehenden Firmennamen. HAFUCK steht dort. Auf dunklem Grund, der Hochglanz zerflossen, Brauntöne, schwarz, angelaufen. Die guten Zeiten sind vorbei.

HAFUCK

300 Jahre Hafen. HAFUCK. Eine Position. Ich habe ein wenig recherchiert. Nun, Ruhrgebiet. Da ist der alles umfassende Strukturwandel nicht weit. Und große Worte auch nicht. Der Ruhrorter Hafen ist einer der größten Binnenhafen der Welt. 45.000 Menschen arbeiten dort. Ein Glanzlicht des Strukturwandels, die Industrie, die Autoindustrie verschickt von hier Waren, Ersatzteile in alle Welt. Eine Erfolgsgeschichte, mit der dieser Ort Ruhrort augenscheinlich nicht so mithalten will. Ich habe mir eben ein Stadtentwicklungskonzept aus dem Jahr 2009 gegönnt. Wohlfeile Worte. Perspektive, Entwicklung, Chance, Stadtteil am Wasser, an Rhein und Ruhr. Promenaden, Plätze, Kunst, Kultur, Gewerbe. Wenn es erst einmal anspringt…

Masterplan Duisburg-Ruhrort.

“Ziel ist es, den Stadtteil zu einem attraktiven zentrumsnahen Wohnort weiterzuentwickeln, neue Arbeitswelten am Wasser entstehen zu lassen und durch neue attraktive Freizeit- und Kulturangebote die Anziehungskraft für neue Bewohner und Besucher deutlich zu steigern.”

Die spannenden Nahtstellen zwischen Wasser und Land gilt es in den kommenden Jahren deutlich stärker herauszuarbeiten und den „Wasserreichtum“ für die Entwicklung neuer Lagen gezielt zu nutzen. Darüber hinaus gilt es, die über größere Strecken bereits vorhandenen grünen Wege, Alleen, Parks und Freiräume schrittweise zu einem prägnanten grünen Ring Ruhrort, der Ruhrorter Promenade auszubauen und mit den inneren Lagen besser zu verbinden.”

Klingt nach HAFUCK.

Im Raum hinter der Firmenwand läuft ein Film. Eine Frau, ein Mann, Barbara, Norbert, die vom Himmel fallen. Verloren in diesem Hafen. Schlendernd, tanzend, suchend, erscheinend, verschwindend, vor Wände laufend. Ein Schiff fährt vorbei, langsam von rechts nach links. Stumme Schreie.

Norbert1

Runde um Runde durch dieses Museum in der Harmoniestraße, in der Peripherie II, in diesem verschollenen Kaufhaus Lafyette, in dem sich das Bier in alten Regalen stapelt und von den Besuchern getrunken wird. Astra. Hafenstadtbier. Hafenspelunke in Rotlicht. Der Versuch, sich über Fotografieren zu nähern, all dieses Unbeschreibliche festzuhalten, mitzunehmen, später auszuwerten.

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Während die Fremde begafft wird. Direkt, durch das Spannerloch in der Wand. Peepshow. So ist das in den Häfen. Das Schifferklavier am Boden, in diesem Fluchtraum, dieser Kajütte mit Koffer. Ist es Ankommen oder Gehen? Vergangenheit oder Zukunft? Sie spannt die Fäden durch den Raum im Schutze der Heiligen Mutter mit Kind.

Geschützt und ausgeliefert, fremd und distanziert, verloren und erhaben. Heilige und Hure ist das Sinnbild, das Verschwimmen der Linien.

Barbara 4

Ich für meinen Teil bin jetzt noch geflasht, die Bilder laufen, die Möwen des Hafenfilms kreischen laut und eindringlich, Barbaras Stimme, Norberts Bilder, der Raum, die Menschen im Kreis. Sehr intensiv. Wer sich in Kunst tief verlieren möchte, bereit ist, Zeit und offene Sinne mitzubringen, erlebt ein faszinierendes Spektakel, das es nicht allertage, allerorten zu bestaunen gibt. Und es ist eine Chance, einmal nach Duisburg Ruhrort über die Brücke zu kommen. Dorthin, wo sich Rhein und Ruhr treffen und wo die Kunst sich inspirierend zwischen gestern, heute, morgen, leben und sterben bewegt. Eindringlich, laut, leise. Letztlich doch schön.

RUHRORTER – NATIONAL – GALERIE lädt ein:

SCHACHTEN+ACKERN

PERIPHERIE II
Lafayette

Harmoniestr. 34a; DU-Ruhrort

Weitere Öffnungszeiten :

Samstag, 05.03.2016, ab 16Uhr
Sonntag, 06.03.2016, ab 16Uhr

P.S. – in der Harmoniestraße lohnt sich dann auch gleich, sich nebenan im Schaufenster des geschlossenen Panda-Grills Michael Nowottnys Videoinstallation anzusehen. Und wenn das Lokal Harmonie geöffnet ist, solltet ihr. Rechts neben der Bühne hängt ein großer van Ackeren. Und hinter der Theke steht, vielleicht, Norberts Bruder Wolfgang van Ackeren, der Kunst in Ruhrort lebt.

SICHTWECHSEL / GESTRANDET

Videoinstallation ab dem 26.2. bis zum 13.3 2016
ab Einbruch der Dämmerung im ehem. Panda-Imbiss,
direkt gegenüber vom Lokal Harmonie

SICHTWECHSEL – Bilder aus St. Pauli und Ruhrort

GESTRANDET – Filmprojekt von Michael Nowottny.
Waljagd im Rhein – Zur Erinnerung an die dramatischen Szenen
von 1966, als im Duisburger Hafen einem verirrten Belugawal
nachgesetzt wurde. Mit Adriana Kocijan als Ahab

Unterstütz durch Projektgalerie LABOR

Lokal Harmonie
Harmoniestr. 41
47119 Duisburg

http://www.duisburger-akzente.de/de/index.php
http://www.lokal-harmonie.de/veranstaltungen/range.listevents/-

Schönen guten Abend, Herr Massenmord.

Es wurde dunkel und es war kein Traum, was in jenem Augenblick das Ungeschickteste war, was ihm passieren konnte. Denn schweißgebadet aufwachen war nicht drin, weil er ja gar nicht schlief. Sein Name war John-Heiko, weil sein Vater Ami und die Mama eine Deutsche war. So nach dem Krieg, Besatzung, Kennenlernen, Tanzen, Rummachen, Kind, ab nach Amiland.

Was ihn, John-Heiko, in jener Nacht bewog, den falschen Weg nach Hause einzuschlagen, lässt sich nun, einige Jahre später, nicht mehr sagen. Ob wir ihn noch fragen können, weil er ja gleich den Massenmörder trifft in dieser wahren Story, soll jetzt noch nicht verraten werden. Ist noch geheim.

Er kam von einem schönen Fest voll Lichtertaumel, Kerzenschein. Nicht voll betrunken aber doch mit diesem oder jenem Bier beladen. Getanzt, gelacht, geneckt und auch den einen oder andren Blick geworfen zur schönen Sibylle hin, die ihn seit jeher doch nicht will (weil er den unbekannten Papa hat mit dieser schwarzen Haut, die auch ihn in zartes, schönes Braun nun hüllt). Nun hatte er die Wahl, den längeren Weg der Straße lang oder husch, husch durch den nicht ganz dunklen, mondbeschienenen Wald. Gab ihm das Bier den Mut, den Weg des Waldes einzuschlagen? Schritt für Schritt, Sibylle noch im Sinn, Schritt er beherzt voran. Im vom gestrigen Regen leicht aufgeweichten Boden ließ jeder Schritt die Spur vom Fest Richtung Zuhause zurück. Bis irgendwann die Spur beendet war, zumindest auf dem Weg. Weshalb, was war geschehen?

Monsterdunkel, Mondennacht. Zu hell, um unerkannt zu schreiten, zu dunkel, um den Überblick zu wahren. Der Zufall wollt es so, John-Heiko traf den Massenmörder dort im Wald. Unerwartet plötzlich, so ist die Plötzlichkeit nun mal, trat jener große, schwere Mann als Albtraum auf den Weg. In riesigen Pranken hielt er ein riesiges Meuchelmörder-Messer und eine dunkel glänzende Pistole, Marke ganz schnell und dann für immer tot. Man kann sich vorstellen, was in John-Heikos Kopf in diesem finstren Augenblick geschah. Sibylle raus, Massenmörder rein. Puh, was für Wendungen dies allzu unbeschwerte Leben manchmal nimmt. So standen sie auf diesem Weg und die Pistole ganz allein hielt John-Heiko davon ab, den Weg zurück zu laufen, weil Massenmörder auch in Rücken schießen. Nix da Ehre und so weiter, alte Cowboy-Western Moral, tut ein wahrer Mann nicht und so weiter. Erschossen wird nun einmal nur von vorne. Was ist mit unten, oben, von der Seite? Sorry, ich schweife ab. Wir sind noch auf dem Weg, im Wald. John-Heiko sieht den Massenmörder, der Massenmörder sieht John-Heiko. High-Noon kurz nach Mitternacht. „Ich hab dir nichts getan, nun lass mich einfach gehen, ich hab noch nicht einmal mehr Geld, der teure Sekt für die Si…, Si… – ich kriegs nicht raus –, das musst du doch verstehn. Bist doch auch ein Mann.“ Kaum gesagt, da kam der Zweifel schon. Sich mit dem Massenmörder einfach nur durchs Mannsein auf eine Stufe stellen, ob das der richtige Weg ist? Da muss man doch eher Psychologisieren, weil Massenmörder doch als Kind zu wenig Liebe abbekommen haben und sich letztlich doch nach nichts mehr sehnen als nach ein paar guten Worten. So schlimm bist du doch gar nicht und irgendwie ja auch nicht schuld, weil der Papa dich immer gehauen hat und du jetzt einfach gar nicht anders kannst. Was soll man machen? Ist halt so.

Die Gedanken zuckten, der Impuls zu Laufen hatte sich als Betonklotz um die Füße gewunden, John-Heiko hatte eine Heidenangst. Was für ein Wort, die Angst der Heiden. Vor dem Schwert des Ritters mit dem Kreuz? Oje, wo all die Worte immer herkommen und dann verschütt in unsren Köpfen wie tief eingenistet weich gebettet liegen bis zum Augenblick, wenn Wahrheit dran kommt wie Luft, die Feuer zündet, explodieren lässt. (Manchmal übertreib ich und außerdem schweif ich schon wieder ab, eine Unart). Da stand er nun, John-Heiko, nicht der Kreuzritter, um jegliche Verwechslung auszuschließen, mit dem Massenmörder in der Nacht. Kurz überlegte er, ob ihn die Angst jetzt pinkeln lassen würde, weil das Gemisch aus größter Angst und frisch getrunknem Bier durchaus in diesem Augenblick zu einem Rinnsal längs des Beins herunter hätte führen können. Nichts, nur ein leichtes Zittern, tatsächlich schlotterten die Knie und er wusste nun, dass sie das wirklich tun können. Der Massenmörder trat einen Schritt auf ihn zu und grinste überheblich schadenfroh, so wie es Massenmörder wohl gern tun. Das hatte er schon oft getan, kurz bevor er tat, was Massenmörder letztlich dann nicht lassen können. Er war, sofern man das in diesem Falle sagen kann, ein Meister seines Handwerks und hatte seinen Namen Massenmörder durch viele Taten sich wohl wirklich redlich schon verdient. Er soll, allein in einer Nacht, ein Dorf und noch ein halbes dann dazu gemeuchelt haben ohne Rücksicht auf Verluste, denn zu verlieren hatte er gar nichts.

Die Situation war also klar. Ein John-Heiko und ein Massenmörder, dass da am Ende nicht der Massenmörder tot am Boden liegt, liegt auf der Hand. (Ich hab jetzt das getan, was der Lehrer hat verboten, hab zweimal liegt verwendet. Ein rotes A am Rand für schlechten Ausdruck. Leck mich. Da red ich hier von Massenmörder und der schreibt Ausdruck an den Rand. Sonst noch Probleme? Weiter.) Nimmt man zumindest an. Man kann jetzt auch nicht sagen, die Situation wäre ein Patt – Knarre, Messer, alles klar. Tja, und der Papa zwar ein Ami, aber leider ganz weit weg. Die kommen nur im Film mit Hubschrauber und Kavallerie.

Der Massenmörder grinst und sagt. „Pech, jetzt bist du tot.“ Da flucht John-Heiko und sagt „Scheiße“. (Rotes A). „Ja, Scheiße sagt der Massenmörder, alles Scheiße. Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Immer kalt und nix zu fressen. Kaninchen fangen, schlachten, häuten, grillen. Ganz selten nur ein Reh. Am liebsten ess’ ich Beeren.“ John-Heiko verstand Bären und dachte Scheiße (A!), hier gibt’s Bären und ich Idiot laufe durch den dunklen Wald. Und gleich fragte er dann auch den Massenmörder: „Hier gibt’s Bären?“. Vielleicht war es der Mond oder das Fest in der Nähe, was den Massenmörder nicht gleich explodieren ließ. Da traf er auf ein Wesen menschlicher Gestalt und das war scheins so dumm wie Brot. Beeren mit doppel e und nicht mit ä wie Äquator. Das hat er dann auch gesagt, mit erhobenem Messer und der Pistole auf die Stirn des Gegenübers gerichtet. Kapiert? Ein schnelles Ja, klar, hab verstanden. Red’ nicht so viel, oder ich puste dich weg, ganz langsam selbstverständlich. Erst ins Ärmchen, dann ins Beinchen, dann das ganze schlotter-schlotter-Schweinchen.

Was tun? Der Massenmörder hatte scheinbar keine große Lust in dieser Nacht zu morden, obwohl es für ihn nur ein Fingerzug gewesen wäre. Nicht mehr als eine Synkope auf dem Weg durch diese mondbeschienene Nacht. John-Heiko spürte Aufwind, dachte, wenn er es bis jetzt noch nicht getan hat, vielleicht gibt’s dann noch eine Chance. Er nahm sich, ein durch das nicht mehr an Sibylle Denken frei gewordne Herz und gab dem Massenmörder zu verstehen, dass er gern’ verhandeln würde. Dass war dem Massenmörder niemals nie zuvor passiert. „Verhandeln? Hast du den Arsch auf oder was. Ich hab hier die Knarre und schmier gleich dein Gehirn nach hinten aus dem Schädel in den Matsch, du Pisser.“ Ja, da hatte er recht. Die Sache mit dem Gehirn hatte die Sachlage deutlich verändert und ließ John-Heiko nun dann doch ad hoc am Bein entlang den Strahl laufen. Pisser, wie wahr. John-Heiko nahm die Hände vors Gesicht um für einen kurzen Augenblick ganz allein für sich zu sein. Der Massenmörder schoss ihm knapp am Ohr vorbei, rechts und links. Beeindruckend knapp. „Dann verhandel’ mal und mach ein Angebot. Was haste denn zu geben, he?“ John-Heiko überlegte nicht und sagte einfach nur „Sibylle“. Das traf den Massenmörder wie ein Schlag links und rechts am Ohr vorbei. „Sag das nicht noch mal.“ John- Heiko sah den letzten Augenblick gekommen, schon wieder falsch, verdammte Scheiße mit Opfer-Täter-Psychologie und abgeklärte Kommunikation zur Wahrung letzter Chancen in von Risiko geprägten Situationen. Dann brannte bei ihm die Sicherung durch, peng, peng. „Was willst du Arschloch eigentlich. Lauerst mir auf, willst mich umbringen und tust es nicht. Was kann ich dafür, dass irgendein versoffen verlauster Penner dich niemals in den Arm genommen hat. Klebt an meinen Händen all das Blut, das du vergossen hast? Muss ich in der Hölle Kohlen schaufeln bis zum allerletzten Tag, wann der auch immer sein mag? Du arme Sau stehst hier und hast versemmelt, was man nur versemmeln kann (A!). Knall mich doch ab, ist mir jetzt auch egal. Sibylle liebt mich eh nicht, der Papa ist in Amiland und ich geh immer ganz genau den falschen Weg. Bin ich halt weg, wen stört’s?“ Da schien der Mond die Erde anzuhalten, der Wald wurd’ still, kein Blatt traute sich in diesem Augenblick ein kleinstes Rascheln. Was würde der Massenmörder tun? „Du liebst Sibylle?“ Der Tonfall war nicht der, den irgendwer in diesem Augenblick erwartet hätte. „Ja, das tue ich.“

Was dann geschah, ist nicht ganz klar. Weil weder John-Heiko noch der Massenmörder noch sonst wer davon berichten kann. Nicht, weil irgendwer in jener Nacht sein Hirn im Matsch verloren hat. Nein. Sondern weil die Welt ganz plötzlich in diffuses Licht getaucht war. Ein Wind kam auf, Wolken, die Blätter raschelten, tuschelten, der Wald wurd’ laut. Die Spur hat sich verloren, mehr weiß man nicht. Am nächsten Tag lag er mit matsch’gen Schuhen im Bett. Ohne komplette Erinnerung an die vorangegangene lausige Nacht. Dass das, was er noch ahnte, ein wahrer Albtraum und kein Traum wahr, verriet die nasse Hose mit deutlichem Geruch.

John-Heiko jedenfalls hat überlebt. Von Sibylle bekam er dann das Ja und beide schritten noch im gleichen Jahr vor den Altar. Die Mütter weinten. Die Väter beider Kinder aber waren gar nicht da.

Fred, das Alien, der Birnbaum und der Weihnachtsmann

Als der kleine Fred – das war im Garten seines Vaters – dieses ästhetisch eingeschränkte Alien sah, fiel ihm nicht mehr ein als ein quietschiges „Ih!“. Dem Alien war es egal, hatte er sein feuerrotes Raumschiff doch nur aus Versehen im Garten von Freds Vater versenkt – den Birnbaum mitgerissen und den Goldfisch-Teich. Der – also Freds Vater – war im Moment des Aufpralls und dann Einschlags nicht zugegen – wegen Arbeit und anderer solcher Sachen, dachte sich Fred. Was tun? Fotos machen zum Angeben, als Gast hereinbitten, die Polizei und Feuerwehr rufen, die Armee, den Papst, das Fernsehen? Zu viel, für einen kleinen Jungen, hier und jetzt und gleich eine so wichtige Entscheidung zu treffen. Also, erst einmal das Naheliegende probieren: „Willst ’nen Kaugummi?“ Warten. Der spricht nicht, zuckt nur, blubbert, knirscht und quarzt. Vielleicht das ureigene interne Alien-Reparatur-Programm (ARP)? O.K., bewerf ich dich mit Dreck. Zack. Wirst schon nix mit Laser und Pistole bei dir haben. Wenn’s im Raumschiff ist, kannste eh ’ne Stunde buddeln, so tief liegt das Ding. Mensch, was für’n Speed. Keine Reaktion. Ob der fliegen kann? „Kannste fliegen, he?“ Und was ist, wenn’s der Weihnachtsmann ist? Das hätt’ mir gerade noch gefehlt, au Backe. Und alle Geschenke hin und unten drin in diesem Wahnsinnsloch. „Du Alien, ich hätt’ da mal ’ne Frage…?“

Smoke on the water

Wir waren Kinder, Brüder und verbrachten die großen Ferien gemeinsam mit unseren Eltern am Thuner See in der Schweiz. Für den Abend – es war der Nationalfeiertag des Landes, hatte die Hotelbesitzerin, eine wohlgenährte Französin mittleren Alters mit entsprechendem Akzent, ein Feuerwerk für die Gäste des Hauses angekündigt – „Isch abe die Ehre, Ihnen ’eute Abend, eine gewaltige Feuerwerk über die See’immel anzukündigen!“ Der gedämpfte Applaus ging in der pürierten Spinatsuppe „Potage du Jackson“ unter. Wir tauschten Blicke unter verschworenen Brüdern, ließen das Menü unbeachtet passieren und verzichteten in gespannter Erwartung und Vorfreude auf die Ereignisse des Abends auf das Dessert – Crepes mit pürierten Himbeeren und zartbitteren Schokoladenflocken. Wir eilten raus auf die Liegewiese unten am See, auf der Urs – Gärtner, Portier, Hausmeister, Chauffeur und Barkeeper in einer Person – die Vorbereitungen traf. Mit gekrümmtem Rücken und monotoner Langsamkeit trug der mindestens Siebzigjährige Kisten und Werkzeug aus der Orangerie am Rande des Hotelgartens. Wie gerne hätten wir geholfen, die Raketen, Böller, Sonnenräder, bengalischen Lichter auszupacken. Sein Blick traf uns ins Mark und wir wussten, er wollte uns bei seinen Vorbereitungen nicht dabei haben. Kleine Jungen und Feuerwerk, eine zu gefährliche Mischung. Also nahmen wir das Boot, ruderten auf den See und erzählten uns, was wir an den Himmel werfen würden. Allein unsere Ouvertüre hätte das Land der Banken und schweigenden Konten in eine finanzielle Staatskrise gebracht – unser Finale, von einem lyrischen Entree langsam einschwenkend in ein Lichter-Stakkato bis zu einem bombastischen Höhepunkt geführt, wäre noch in Sydney zu sehen gewesen.
Urs hatte scheinbar ein anderes Konzept und wir waren gespannt, was er sich hatte einfallen lassen. Aus heutiger Sicht kann ich das kurz auf den Punkt bringen: Nichts. Rein gar nichts. Kein Gedanke an ein Konzept. Nach dem Abendessen hatten wir uns auf die Wiese geschlichen und nicht mehr als einige behelfsmäßig zusammen gezimmerte Dachlatten sowie eine ganze Batterie geleerter Baron Rothschild Flaschen als Raketenabschussbasen entdecken können. Ein Skandal! Dann kam es, wie es kommen musste. Wir hatten keinerlei Vertrauen in Urs. War er ansonsten vielleicht ein handwerkliches Universaltalent, ein Feuerwerker war er mitnichten. Wir hatten uns auf dem Balkon des Salons in der zweiten Etage wie Stadler und Waldorf aus der Muppet Show verbarrikadiert, während alle anderen Hotelgäste Champagner schlürfend von der Terrasse aus zusahen. Zum Auftakt fuhr Urs die Hotelbesitzerin im offenen Bentley, ein herunter gekommenes Modell aus dem Jahr 1913, auf die Wiese und übergab ihr im Schein des Mondes die brennende Fackel. Dann ging alles sehr schnell. Die erste Rakete zündete und warf im Davonzischen die zweite und dritte Rakete samt Baron Rothschild Flaschen zu Boden. Uns war sofort klar, was jetzt geschehen würde. Am Anfang des Super GAUs stand die Auslösung einer Kettenreaktion. In den nächsten 60 Sekunden entzündete sich der gesamte pyrotechnische Vorrat für ein zwanzigminütiges Feuerwerk. Urs hatte definitiv versagt. Als erstes musste der Bentley mehrere Raketentreffer einstecken, was ihn im Handumdrehen in Flammen aufgehen ließ. Während Madame und Urs verfolgt von bengalischem Feuer in letzter Sekunde den rettenden Sprung in den Thuner See wagten, um von dort das Einschlagen der Raketen im Bootshaus mitzuerleben, was das Ende des geparkten Mahagonibootes eines befreundeten Industriellen aus Interlaken bedeutete, erlebten wir die schönsten und wohl aufregendsten Sekunden unseres Lebens. Alles war in ein Lichtermeer lyrischer Schönheit getaucht. Dann war alles vorbei – der Rest ist Schall und Rauch. Niemand wurde verletzt, ein Wunder, und auch das Hotel blieb gänzlich verschont, obwohl uns im Schutze des Balkongeländers die Raketen nur so um die Ohren flogen. Ein Volltreffer zauberte hunderte Sterne an die Hotelfassade, blieb ansonsten aber ohne Folgen. Es dauerte Stunden, bis die Einsatzkräfte den Ort des Geschehens verlassen hatten. Mein Bruder und ich waren einer Meinung: Besser hätten wir es auch nicht inszenieren können. Seither denke ich bei jedem Feuerwerk, und sie können mir glauben, ich lasse keines aus, an diesen Abend und – wer hätte das gedacht – einen wahren Feuerwerkgott namens Urs.

Das Spiel, die Realität, die Wirklichkeit und das Leben

Ich war auf dem Weg die Bauern sterben

zu sehen ich war einfach losgefahren um

rauskommend Mut zu schöpfen um

dann nur desto tiefer zurückkehren zu

können in mein Innerstes

BEZOGENE KNOCHEN MIT HAUT UND FLEISCHRESTEN

– Es wurden damals nur Kranke ausgesucht

die sowieso nicht mehr leben konnten –

Die Bauern starben nicht an diesem Tag

der ein Tag zu früh war ich hatte mich

nicht frühzeitig erkundigt und war losgefahren

einfach losgefahren um teilzuhaben

am Spiel das immer vor der Tür hinter

den Türen stattfindet an den Orten zu denen

nicht jedermann Zutritt hat zu denen ein jeder

sich Zutritt verschaffen könnte wenn die INTIMITÄT

dieser Räume nicht abschrecken würde was die

Intimität dieser Räume jedoch zweifelsohne tut

weshalb nur wenige Menschen dorthin finden um

teilzuhaben an einem Spiel in dem Bauern

sterben einfach sterben was sie an jenem Tag

der in den Abend hineinreichte nicht taten

weil ich schlecht informiert war und einen Tag

zu früh das Bauernsterben hatte sehen wollen

und somit

nicht teilhaben konnte an dem Spiel dem ich

beiwohnen wollte.

Eigentlich hätte es mich tief treffen müssen

dass die Bauern nicht an jenem Abend vor meinen

Augen starben denn ich war weit gefahren um teilhaben

zu können an einem Vorgang der im Großen gesehen

ein Prozess ist der sich nicht als Spiel bezeichnen lässt

weil ein Spiel nur ein Abbild der Realität ist

die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat

weil die Wirklichkeit nur eine kleine

Tochter der Realität ist obwohl im eigentlichen die

Wirklichkeit das Konstrukt über den Dingen ist

während die Realität eine Fata Morgana dessen

darstellt was sich als das UNVORSTELLBARE in die

Hirne des MENSCHEN eingegraben hat wodurch das Spiel

im eigentlichen die unvorstellbare Wirklichkeit versucht

abzubilden was selbstverständlich gänzlich unmöglich

ist sofern die Realität die Realität beherrscht.

Ich sah das Spiel also nicht und ging wieder und

ging in die Tiefen des Bahnhofs um mir Frikadellen und

Dosenbier in einem Feinkostladen nach Ladenschluss

zu kaufen was mich eine Stange Geld kostete und ich

kehrte dem Laden den Rücken und ließ die Dose

zischen und zerriss die Plastikverpackung

der Frikadellen die fürchterlich nach Frikadellen

stanken und ich trank das Bier gab einem Punk

zwei Mark und eine Frikadelle und aß die andere

selber und schlenderte kauend aus dem Bahnhof die

Treppen herauf an dieser großen Kirche vorbei in

die ich hineinging und einen Augenblick

schloss ich die Augen um die Orgel aus allen Winkeln zu

hören die nach wenigen Takten schwieg woraufhin eine

Stimme etwas über Gott sprach weshalb ich dann ging.

Ich schlenderte und schlenderte zwischen den

Menschen hin und her auf dem Weg aus der

Stadt heraus die ich verlassen wollte um

zurückzukehren was mir schwer fiel weil

die Stadt mich zu halten versuchte indem sie

mir an allen Ecken Schauspiele bot denen ich

beiwohnen musste weil sie zum Zusehen einluden

und ich mich gerne

einladen ließ um einem Bassisten zuzuhören der ein

Amerikaner war

der amerikanisch sang und eine verrauchte

Stimme hatte die er mit Zitronensaft bei Laune hielt

was ihm nur eine bestimmte Zeit gelang bevor er

einen Song dreimal ansetzte ohne bis zu einem zweiten

Ton zu kommen was ihm niemand übel nahm weil er

nett war und nichts anderes versprochen hatte als er

zu bieten in der Lage war.

Der Bassist rauchte eine Zigarette und ich

ging weiter mit weiten Augen die gerne fotografiert

hätten was sich an Farben und Gesichtern tummelte

überall auf den Straßen die voller Menschen waren

die den Straßenmalern und Straßenmusikern und

Straßenakrobaten zusahen und zuhörten und zuriefen

und applaudierten was ein Ausdruck des Lebens war

wie es in Wirklichkeit sein könnte wenn es

die Realität nicht gäbe die sich in den aufgestellten

Behältern dokumentiert die als Grundlage des Lebens

gesehen werden könnten was wohl auch getan wird

weshalb das Leben eine käufliche Geliebte der

Realität ist die nichts mit Wirklichkeit zu

tun hat.

Versucht man der Realität zu entkommen indem

man sich auf die Suche nach Abbildern des Anfassbaren

begibt was zumeist in der Kunst oder der Illusion endet

was

aber

nicht immer das Gleiche ist so

erscheinen die Fragen der Illusion die im

eigentlichen nicht mit der Realität zu tun

haben weil sie auf eine fantastische Welt zurückgehen

die es nur in den Sinnen gibt die mit der Wirklichkeit

viel mehr zu tun haben als ein jeder realer Gedanke der

beweisbar scheint obwohl er im eigentlichen nicht zu

beweisen ist weil er in einem System bewiesen wird das

niemals das System verlässt weil es als System so groß

angenommen wird dass es nicht verlassen wird was dazu

führt dass die systemimmanenten Fehler mit urgroßen

Faktoren multipliziert werden und irgendwann das System

aufhört als System zu existieren und nur noch ein riesiger

Fehler übrigbleibt der dann die Realität sein wird die

dann aufhören wird irgendetwas zu sein.

Ich fuhr aus der Stadt auf die Autobahn und lud

drei Rugbyspieler ein die auf einem Turnier gespielt

hatten und nach Hause wollten um schlafen zu können

weil das Spiel anstrengend war und ihnen die Kräfte

genommen hatte die sie eigentlich nicht vermissten

weil sie scheins glücklich waren obwohl sie verloren

hatten was ein Beweis dafür ist dass das Spiel

nicht die Realität ist was ein banaler Gedanke ist

der mit dem Verhältnis zwischen Kunst und dem Realen

zu tun hat.

jens schönlau, Sommer 1990