Damit ihr den Text hier verstehen, fühlen könnt, müsstet ihr euch vorbereiten. Am Theater haben wir uns vor den Proben eingegroovt. Gleichklang. Ein Verständnis. Hört euch Ed Sheeran an. I see fire. Youtube. Spotify. Gibt es überall.
Ein dunkler Raum. Stühle, Menschen, eine Bühne. Es wird dunkel, das Publikum sitzt ordentlich aufgereiht, die Akteure verlassen die Bühne um uns zu umrahmen. Es ist ein Abschied, mir kommen die Tränen. Dort stehen sie in weißen Hemden. Eine Ehrerbietung. Durch meinen Kopf rasen Bilder. Der weiße Tunnel, die Lichter. Rolf. Mein Vater ganz nah. Immer wieder.
Jutta hat einen Kommentar geschrieben. Jutta Wilke. Ein Kommentar wie eine Flamme. Ein junger Mann, ein Unerschrockener. Lest ihn unter Noel, der letzte Beitrag. In der Konsequenz ist er gestorben.
Leichtes Rascheln im Saal. Schneuzen, Husten, Stühleknarren, die Lästigkeiten in Vorstellungen, dieses Manko, dass Menschen anwesend sind. Zu viele. Als ich im Internat war, hatte ich einen Abend, an dem ich das Publikum war. Ein Mitgefangener war Organist und hatte den Schlüssel zur örtlichen Kirche in Montabaur, um proben zu können. Ich habe ihn gefragt, ob er mir Bach vorspielen würde. Diese Kantate. Dieses Orgelstück. Hat er gemacht und ich saß dort in dieser Kirche und hörte zu. Kein Rascheln.
Sie sangen Ed Sheeran. I see fire. Keine Instrumente. Nur Stimmen. Junge Frauen, junge Männer. Die zwölfte Klasse. Jim. Künstlerischer Abschluss. Waldorfabschluss. Allgemein ausgelacht als Ich kann meinen Namen tanzen. Diese Gesellschaft ist in ihrer Konzentration auf rationales Wissen manchmal so unendlich einfältig dumm und arrogant. Verödete Kanäle des Denkens. Das Fremde schön erschießen. Camus. The Cure. Killing an Arab.
Sie können singen. Sie können ihr Innerstes in Bilder fassen. Sie können einen japanischen Frühling tanzen. Und den ganzen andern Scheiß wie Mathe & Co. können sie sowieso. Sie schreiben das beste Abi im Kreis. Zentral-Abi. Sie müssen sich nicht verstecken. Aber nur, wenn die Noten stimmen, wenn die 1.0ller dabei sind, wandelt sich das überhebliche Lächeln in zweifelnden Respekt. Egal.
Ich saß da. Mein Herz stand puterrot in Flammen. Ich kenne sie alle. Die meisten seit der 1. Klasse. 12 Jahre. 24 waren es noch, von den vormals 38. In der 13. Klasse werden es noch 18 sein. Die anderen machen eine Ausbildung. Sie sind den Weg zusammen gegangen. Unabhängig von Noten. Ohne Dünkel. Talente respektierend. Menschliche Aspekte. In einer Klasse das gesamte Spektrum staatlicher Schulen. Einander mögend, haltend, tragend, respektierend. Charakter. Arsch in der Hose. Kein Definieren über Status, Rang und Position.
Und sie haben zum Abschluss getanzt. In Seidenkleidern. Eurythmie. Manager werden über glühende Kohlen geschickt, um neu ausgerichtet zu werden. Damit sie etwas empfinden, damit ihr Innerstes angesprochen wird. Sie sollten einmal tanzen. In Seidenkleidern und versuchen, den Klischees, den Konventionen zu entkommen. In Eurythmie werden diese inneren Orte gefunden, diese Orte, wo nur ganz wenige Menschen hingehen. Orte des Inneren, Möglichkeiten, Aspekte, Alternativen. Die einhellige Außenmeinung dürfte sein: Jugendliche in Seidengewändern mit Balletschläppchen – „sieht schwul aus“. Tja, und das ist der Punkt, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Das ist der Punkt, an dem diese Welt krankt, wo sich Respekt in Floskeln auflöst, wo das, was wirklich verändern könnte, wo echte, wertvolle Skills belächelt werden. Jede gefühllose Banker-Arschgeige mit Porsche wird mehr respektiert als Menschen, die die Möglichkeit haben, in emotionale Tiefen zu gehen. Coca Cola steht im Ansehen vor Kafka. Adorno? Habermas?
Im Anschluss an den künstlerischen Abschluss sind sie in die Provence gefahren. Malen. Eine Woche. Museen, Besichtigungen, praktische Übungen. Und jetzt ist Jim unterwegs. Mit seinem besten Freund und dem Rucksack. Er hat uns Geschenke zukommen lassen, französischen Senf und selbst gesammelte Kräuter, und lässt uns per Whats App teilhaben an seiner ersten Sommerreise ohne Eltern. Avignon Richtung Süden.
Er ist unterwegs, der junge Mann aus Jutta Wilkes Kommentar nicht mehr. Ein Zug hat ihn erfasst. Der Moment, indem man den Hörer abnimmt: „Es ist etwas passiert…“ Dieses Leben ist so grausam und wunderbar existenziell. Jim ist gerade in Cassis. Hört sich lecker an. Ich würde mir wünschen, Emotionen, Gefühle hätten in unserer Welt einen hören Stellenwert. Die Schwere der Rationalität ist oft das Gewicht, das ertrinken lässt, statt Flügel wachsen zu lassen.