Lhasa de Sela – Soon This Space Will Be Too Small


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Die Social Media sind eine Fundgrube, ein Musik-Kunst-Menschenmachbares-Paradies. Mit der Maus irgendeine Timeline entlangfahren und spüren, dass der Finger einrastet. Einrasten will. Gefällt mir. Das verrufene Wort, das für Oberflächlichkeit, Untiefe steht. Ja. Nein. Das Einrasten im Mittelgelenk des scrollenden Zeigefingers spüren. Da ist wieder so ein Moment, in dem ich Außergewöhnlichem begegne. Der Tipp heute Morgen kam von Nora Barner. Sie hatte einen Link zu einem Song von Lhasa de Sela gepostet.

Eine junge Frau, die 2010 jung an Brustkrebs gestorben ist. 1972 in den Staaten, in Big Indian, New York geboren. Sieben Jahre jünger als ich und schon gegangen. Ich finde, ihr Song „Soon This Space Will Be Too Small“ passt wieder, als hätte sie es gewusst.

Soon this space will be too small
And I’ll go oustide
To the huge illside
Where the wild winds blow
And the cold stars shine

I’ll put my foot
On the living road
And be carried from here
To the heart of the world

I’ll be strong as a ship
And wise as a wale
And I’ll say the three words
That will save us all
And I’ll say the three words
That will save us all…

How intense! Die Lyrics des gesamten Songs findet ihr hier.

Über diesen Song, diese Stimme war ich heute Morgen gestolpert und in ein weiches, angenehmes, sentimentales Gefühl gefallen: Love Came Here. Kürzlich hatte ich über Jeff Buckley geschrieben, der ähnlich wirkte.

Wer ist diese Lhasa de Sela. Die besten Antworten gibt das Internet. Wikipedia. Ihre Homepage. Wie ich das sehe, war sie eine Wandlerin zwischen den Welten. Ihre Eltern waren Hippies. Mutter Amerikanerin, Vater Mexikaner. Und so tourten sie sieben Jahre mit dem Bus durch Amerika und Mexiko, lebten hier, lebten dort. Ihren Namen bekam Lhasa mit fünf Monaten, als ihre Mutter ein Buch über Tibet las. Die Hauptstadt, der Pottala Palast, der ehrwürdige Sitz des Dalai Lamas. Damals, vor 1959. Hope.

Lhasa De Sela: My Name

You’ve come this close
You can come even closer
The gunshots get louder
And the world spins faster
And things just get further
And further apart
The head from the hands
And the hands from the heart…

Ich höre mich durch ihre Songs. Die späteren mit englischen Texten. Eher dunkel. Tiefe Töne, starke Stimme. Schöne Texte. Sehnsuchtsvoll.

Sie hat als Erwachsene in Kanada und Frankreich gelebt, hat drei Platten – La Llorona (1997), The Living Road (2003) und Lhasa (2009) – aufgenommen und sich anderen Projekten gewidmet. Unter anderem dem Aufbau einer neuen Art von Zirkus in Frankreich.

Is anything wrong.

So. Das ist heute eine echte Aufgabe für euch, all die Links zu klicken und Songs zu hören. Ich hoffe, die Musik von Lhasa de Sela gefällt euch so gut wie mir. Viel Spaß.

Au revoir.

Au revoir.

Wenn ich Veronika gefragt hätte, wäre es dann anders gewesen? Hätte sie sich anders entschieden? Ich bin auf dem Weg nach Paris im Thalys mit einem Hinfahrtticket in der Tasche. Das erste Mal Paris und gleich unter dramatischen Umständen. Vater ist letzte Woche gestorben. Plötzlicher Herztod. Gestern war die Beerdigung. Alles schön, viele Blumen, eine liebevolle Predigt, Kaffee, Kuchen, Bier, Schnaps, Lachen. Einer hat gekotzt, heimlich, draußen, ich war kurz rausgegangen, frische Luft schnappen, nach Atem ringen, traf auf dieses Würgen, stoßweise Auswerfen von Sahnekuchen, Käsebrötchen und Pils. Stand neben dem Mann, roch die Kotze, hielt eine Hand auf seinem Rücken, schaute mir die Details an, den Prozess der Zersetzung. Magensäure, Bakterien. Eine Masse, Pampe, ein Konvolut aus Anverdautem. Mir war danach, den Moment aufzunehmen, die Kotze zu fotografieren, jedes Stückchen, jeden Brocken zu nummerieren und zu kategorisieren. Ein wenig Halt, Struktur im Moment der Auflösung. Mir war danach, etwas zu tun, zu handeln. Gerne hätte ich den Mann in seine Kotze geschubst, ihn von der Seite getreten. Stattdessen sagte ich „Arschloch“.

Heute Früh hat Veronika mit mir gesprochen. Es ist aus. Es geht nicht mehr. Es ist ein Punkt erreicht. Wir saßen in der Küche am Tisch auf den Plätzen, auf denen wir immer gesessen haben in den letzten zehn Jahren. Sie hatte zwei Cappuccino vorbereitet in französischen Kaffeeschalen. Es hätte ein schöner Moment sein können mit Croissants und einem Gespräch über Vergangenheit, Erreichtes, Schönes, Liebe, Sex. Die Sonne schien ins Fenster und warf Schattenkreuze der Fensterstreben auf den Tisch, die ich mit dem Finger nachfuhr. Früher als Kind, mit dem Matchbox-Porsche in Braun, Metallic, mein Lieblingsauto. Mit großem Spoiler, ein Neunelfer mit breitem Heckspoiler. Ich hatte kein gutes Gefühl, Veronika sah so ernst aus, als hätte sie mir etwas Wichtiges, Veränderndes zu sagen. Wir hätten Revue passieren lassen können, was war. In Fülle eintauchen, in eine Sommerwiese voller Düfte. Über Kinder sprechen, Urlaube, Freunde, Pläne, das Alter. Ich hätte sie angesehen, tief in die Augen und wäre mit meiner Hand über ihre Wange gefahren, sie hätte gelächelt. Sie lächelte nicht, stattdessen liefen ihr Tränen über die Wange, die ich nicht wegstreichen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich das durfte. Sie war so weit weg, abgetaucht, hatte eine Mauer um sich errichtet. „Victor“, sagte sie, „Victor, es ist aus.“ Das Spiel ist aus, Deutschland hat verloren, geht vom Platz, geht nicht über Los, spielt nicht im Finale. Ausgeschieden. „Ich habe mich verliebt. In einen anderen.“ Ich nahm die Kaffeeschale und trank. Der Geschmack war intensiv, ein starker Kaffee, das Koffein wirkte direkt. Das heiße Gefühl in der Kehle, weil ich zu schnell trank. Fast hätte ich gehustet. Vom Magen in die Blutbahn zum Herzen, das zu rasen begann. Ich wollte etwas sagen, wollte sprechen, reden, das Unumstößliche mit einem Satz verwandeln in eine Annahme, eine Möglichkeit, etwas Sanfteres als einen feststehenden Beschluss. Sie lächelte. Ich konnte sie nicht ansehen. Sie schien glücklich. Mir war etwas amputiert worden.

Der Hund kam, als hätte er gespürt und ließ sich kraulen. Es klingelte an der Tür, Veronika ging, öffnete, nahm ein Amazon-Päckchen entgegen. Es kam mir unwirklich vor, dass das Leben einfach so weiterging. Dass Postautos fuhren, Telefone klingelten, die Sonne schien. Wieso hielt die Erde nicht einen Moment inne, um mir die Chance des tiefen, sofortigen Verstehens zu geben?

„Ich werde dich immer lieben. Es ist nicht so, wie du glaubst.“ Sie trank kleine Schlücke ihres Cappuccinos und sah mich mit ihrem Forscherblick an, der zu sehen suchte, was in mir geschah. Der Seelenblick. Ich wand mich unter dem Mikroskop, konnte mich nicht preisgeben, wollte keine Mikrobe, kein Versuchskaninchen mit Überdosis sein. Was fühlte ich denn? Ich weiß es nicht, weiß es jetzt noch nicht, hier im Zug nach Paris, wo etwas Neues wartet, was immer das ist. Jürgen sagte, ich würde fliehen. Ich hatte ihn angerufen und gesagt, dass ich meine Sachen gepackt hätte, um zu gehen. Weg. „Überleg dir das gut. Wirf nicht alles weg. Komm erst einmal zur Ruhe. Du solltest jetzt um Gottes Willen nichts überstürzen.“, sagte er. Arschloch. Er hätte sagen sollen „Junge, komm vorbei. Wir besaufen uns und singen schmutzige Lieder. Wir treiben es mit den schönsten Frauen der Stadt und machen die Nacht zum Tag. Wir lassen nichts anbrennen und geben Vollgas.“ Nichts überstürzen. Das hätte er Vater und Veronika sagen sollen.

Den Hund habe ich zurückgelassen, obwohl es mein Hund ist. Ich kann ihm das alles nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht erklären kann. Belgien fliegt vorbei, Brüssel. Seit Köln sitze ich im Restaurant und trinke sündhaft teures Bier. Flasche um Flasche. Dazu zwei Whiskey. Die Bedienung schaut, schätzt ab, wie weit ich es schaffe und ob ich dann noch zahlen kann. Ich hasse sie in ihrer zu engen Uniform mit dem aufgesetzten, verlogenen Lächeln. „Darf es noch etwas sein?“, fragt sie mich. Mit einem Unterton des Hinauskomplementierens, weil sie weiß, dass ich sie nicht ausstehen kann und es ihr umgekehrt genauso geht. „Die Bockwurst mit Kartoffelsalat, danke.“

Christine wartet am Gare du Nord. Wir haben zusammen studiert, sie ist nach Paris gegangen. Wir waren kein Paar und doch irgendwie. Oft habe ich mit ihr in einem Bett geschlafen und hätte gerne, aber sie strahlte mir gegenüber eine Aura schwesterlicher Unberührbarkeit aus. Sie roch gut. Immens gut. Lag ich hinter ihr und mein nicht zu verbergender steifer Schwanz forderte mehr, kicherte sie. „Was ist das?“ „Sorry, ist nicht so gemeint.“ „Wer meint das nicht so? Du oder er?“ „Christine, das ist nicht willentlich, das ist eine rein nervlich-hormonelle Regung. Pavlow. Reiz-Reaktions-Schema. Männliche Banalität. Vergiss es, schlaf gut, träum süß.“ Und dann ließ sie es sich nicht nehmen, mit verstellter Vamp-Stimme „Baby, irgendwann werden wir es tun“ in den Raum zu hauchen, um sich dann kaputt zu lachen. Und mit mir ging die Fantasie durch.

Ich werde bei ihr schlafen. Keine Ahnung, wie sie wohnt, lebt. Mit, ohne Freund, Mann, Kind, Hund. Ich habe ihr gemailt, dass ich nach Paris komme, dass ich Probleme habe und eine Unterkunft brauche. Sie hat geantwortet, ich solle kommen, ihr die Ankunftszeit mailen, sie würde mich abholen. 19 Uhr 37. Diese krummen, hässlichen Zahlen stören mich, weil ich sie einfach nicht mag. Wie will man da pünktlich sein? Wer will um 19 Uhr 37 irgendwo ankommen? Ich nicht.

Der Kartoffelsalat ist widerlich. Ich muss an die Kotze vom Tag vorher denken. Falsche Entscheidung. Sämige Kartoffeln, Mayonnaise und ein wenig Alibi-Petersilie oben drauf. Um mich herum Männer und Frauen im Businesslook und im Gespräch mit ihren iPhones, obwohl hier überall Aufkleber mit durchgestrichenen Handys hängen. Alle tuscheln, tippen, gucken, keiner sagt was. iPhones sind keine Handys. Scheinbar.

Paris habe ich mir bislang geschenkt. War nie dort, habe keinen Fuß in die Stadt der Liebe gesetzt. Eine Stunde noch und ich werde dort sein. Ankommen. Was für ein großes Wort. Mein Französisch ist so Olala, Schule, elfte Klasse abgewählt aus Faulheit. Vokabeln. Passte irgendwie nicht in mein Abi-Punktekonzept. Da gab es nichts zu holen. Schulfranzösisch. Bonjour. Au revoir. Madame!

Der Alkohol wirkt, die Mayonnaise. Mir ist schlecht aus den unterschiedlichsten Gründen. „Bitte zahlen!“. Schleppe mich in ein Abteil mit freiem Platz. Erste Klasse, obwohl ich nur ein Zweite Klasse-Ticket habe. Ich schlafe ein, ruckele durch mein Leben bis nach Paris. Irgendwann werde ich ankommen. „Bonjour, Christine! Madame!“

COWBOYS für Tilman

Szene: Eine städtisches Flachdach auf einem mittelhohen Hochhaus. Kies als Bodenbelag. Eine geöffnete Dachluke, ein gewölbtes Dachfenster – ein Lichtsammler für den darunter liegenden Flur und die Stiege zum Dach. Oben ein Campingstuhl und ein Rollstuhl. Darin sitzen James und John, zwei Cowboys mit großen Texas-Hüten und Herrenpyjamas. Zwischen sich eine Drücker-Thermoskanne mit Kaffee, zwei Blech-Kaffeebecher und eine halbvolle Flasche Bourbon. Zu ihren Füßen eine Petroleumlampe. Beide haben den Kopf im Nacken und schauen in den Nachthimmel zu den Sternen.

John: Wie damals in der Prärie. Die Kojoten heulen, in der Ferne hörst du die Rothäute schleichen, die Klapperschlangen züngeln und die fallenden Sternschnuppen reichen sich die Hände. Wunschlos glücklich.

James: Wie viel Rinder wir getrieben haben. Es müssen mehr als eine Million gewesen sein.

John: Den Sattel im Rücken, das Feuer, der Kaffee.

James: Und der gute Jack. Cin-Cin.

John: Prosit.

James: Was für eine Plörre. Scheiß Aldi-Whiskey.

John: James?

James: John?

John: James, wir müssen etwas tun.

James: Losreiten.

John: Ja.

James: Das sagst du jedes Mal, wenn wir hier sitzen.

John: Ja.

James: Lass mich rechnen. Seit sieben Jahren sind wir in dieser Einrichtung. Karl-Heinz hat einen Nachtdienst im Monat und lässt uns rauf. Sieben mal Zwölf sind Vierundachtzig. Wie oft willst du noch sagen „Lass uns losreiten“? Bis wir bei Hundert sind?

John: Dann sage ich mal Hundert. Es ist so weit.

James: Klar.

John: James, ich habe einen Plan. Wir ziehen das durch.

James: Einfach rausspazieren, Pferde satteln, losreiten. Wie damals.

John: Ja.

James: Wir sind nicht mehr die Jüngsten und die Räder an meiner Seite machen es auch nicht besser. Geschweige denn das dicke Schloss unten an der Tür. Die lassen uns nicht so einfach gehen. Das hier ist Sing-Sing.

John: Ich habe mit Theresa geschlafen.

James: Der Dicken aus der Küche?

John: Yes.

James: Hart.

John: Viagra.

James: Woher?

John: Karl-Heinz.

James: Hab nix mitbekommen.

John: Dienstag im Vorratsraum, nach dem Küchendienst.

James: Sack.

John: Sie hilft uns.

James: Muss gut gewesen sein.

John: Hör zu. Wir müssen hier raus, sonst geh’n einfach irgendwann die Lichter aus. Willst du in ’ner Zinkwanne hier rausgeschleppt werden? Füße voran? Verbrannt, Urne, Arrividerci?

James: Hast wieder zu viel Italowestern gesehen.

John: Wir ziehen das durch. Theresa lässt uns hinten raus. Sie hat den Schlüssel. Karl-Heinz fährt uns zum Bahnhof. Weg sind wir.

James: Und dann?

John: Überfallen wir den Postzug. Ich habe einen Colt und eine Winchester.

James: Du hast was?

John. Einen Colt, eine Winchester und Munition.

James: Woher?

John: Judith.

James: Du hast nicht auch mit ihr?

John: Ich hatte zwei Pfizers.

James: Was finden die bloß an dir?

John: Das Lächeln, sagen sie. War’s schon immer. Fresse halten und lächeln.

James: Abhauen. Postzug.

John: Wie damals.

James: Das waren Zeiten. Highnoon. Keine Fragen, schießen. Wie viele haben wir weggepustet.

John: Manchmal sehe ich die Kugeln in Zeitlupe fliegen. Langsam durch die Weste. Sehe ihre Augen, wenn sie es realisieren.

James: Harte Zeiten.

John: James, das hier sind harte Zeiten. Die haben uns die Freiheit genommen. Gruppengespräche, bunter Abend, Physiotherapie, Gestaltungstherapie, Gruppenschwimmen, Küchendienst. Hast du dir das so vorgestellt?

James: Wann?

John: Sonntag. Während der Messe.

James: Guter Zeitpunkt. Vier Fäuste für ein Halleluja.

John: Abgemacht?

James: Yes, Sir. Und. Und was wird dann?

John: Wir holen uns die Kohle, stopfen uns die Satteltaschen voll und ab zu Lilly.

James: Vegas. Oh god. Lilly.

John: Hab ihr telegrafiert. Sie hat geantwortet. Hier, lies.

James: Dass es sie noch gibt. Was war die Frau schön.

John: Bei ihr können wir unterkommen. Um alles klar zu machen. Pferde, Sättel, Knarren.

James: Du meinst es ernst.

John: James, ich mach das hier nicht mehr. Ich kann diese Scheiße nicht mehr fressen. Ich will nicht ins Pflegezimmer kommen und da langsam den Löffel abgeben. Mir den Hintern mechanisch abwischen lassen und unter die Decke glotzen, bis es so weit ist. Letzte Ausfahrt Brooklyn. Now or never. Ich will wieder richtigen Jack.

James: Bin dabei. Ja. Ich bin dabei. Wir machen die Biege. Hauen einfach ab. Arsch lecken. Yippie.

John: Und dann nach Wyoming, Sterne zählen.

James: Wyoming. Schlag ein.

John: Wyoming.

Vorhang.