Die Lyrik starb in der Mayerschen, Woody schenkte uns Marvin

Wiehltalsperre_Wald

Diese Welt würde mich taumeln lassen, ständen die mir gewachsenen Füße nicht auf einem Boden, der die Sterne zu Griffen macht, die Bäume zu Halt, die Sonne zur Mutter Theresa des Gewissens, das Tagwerk zum Steigbügel mutigen Weitergehens. Atmen nicht vergessen.

Das Wochenende liegt hinter mir. Es begann mit einem Tumult. Es hätte von Anfang an so schön sein können, war es aber nicht. Menschen sind ein fürchterlich unberechenbarer Faktor. Irgendetwas fällt ihnen immer ein.

Durch den Tag gehen, Dinge tun, die getan werden müssen. Durch die Wohnung putzen, das Essen bereiten. Vergan, unvegan. Dinkel-Spaghetti mit frittierten Tomaten und Spaghetti-Frutti di mare mit angeschwitzter Paprika und kleinen, in Olivenöl ausgebackenen Zucchini-Würfeln. Essen hält Leib und Seele zusammen, heißt es.

Das Leben in den eigenen vier Wänden gestalten.

Ela ist wieder weg, Viveka war da und ist auch wieder weg. Ich sitze in meinem indischen Bett aus Mangoholz, höre Bowie in Dauerschleife und denke. Nach. Über diesen konzentrierten Wust. Gerade brauche ich die große Schaufel, um das alles zu bearbeiten. Die Dinge gehen. Tendenziell. Bowies Lazarus. Look up, I’m in heaven. I’ve got drama, can’t be stolen. Die Abschiedsplatte. Look up here man, I’m in danger. Nichts mehr zu verlieren, keinen Dollar mehr verdient, den er hätte ausgeben können. Sauber gehen.

Dieses Wochenende stand im Zeichen von Lyrik. Mit Jim habe ich über die Expressionisten gesprochen. Er mag Alfred Liechtenstein. Mit Zoe über die Lyrik des Barock. Sie lernt, zu interpretieren. Methodisch. Am Donnerstag war Elternabend. Ihr Deutschlehrer ist ein beeindruckender Mann. Aktuell teilen sie Deutsch. In Politik und Deutsch. Und in Poetik, die eine andere Lehrerin gibt. Das ist schön intensiv. In Poetik hatten sie letzte Woche Haikus. 5 – 7 – 5. 15 Minuten Selbsterfahrung. Silben zählen, Worte reihen, Zeilen. Zoe hat mich nach meinem Haiku gefragt.

Die Liebe ist mein
gestohlen am ersten Tag
gestreichelt, geküsst

Es ist ein gutes Gefühl, von Gedichten, Poemen umgeben zu sein. Zoe hat ihren Conrady in die Küche gebracht. Ein Schulbuch voller Gedichte. Ein Abriss. Alle Zeiten, alle Stile, alles. Wie hat mich dieses Buch gefreut, dass sie so geherzt hat. Jim meinte, mit der Romantik hätte er Probleme. Eichendorff.

Ich konnte ihn verstehen. Aber dann habe ich nachgedacht, und meine Bücher vom Speicher geholt. Novalis.

An-

Was paßt, das muss sich ründen,
Was sich versteht, sich finden,
Was gut ist, sich verbinden,
Was lebt, zusammen sein.
Was hindert, muss entweichen,
Was krumm ist, muß sich gleichen
Was fern ist, sich erreichen,
Was keimt, das muß gedeihn.

Gib treulich mir die Hände,
sei Bruder mir, und wende
Den Blick vor deinem Ende
Nicht wieder weg von mir.
Ein Tempel, wo wir knieen,
Ein Ort, wohin wir ziehen,
Ein Glück, für das wir glühen,
Ein Himmel mir und dir!

Ich habe es Viveka vorgelesen. Mehrfach. Wir haben dann noch Heine gelesen und Schlegel und Brentano und Hölderlin. Romantik zum Frühstück. Und anschließend mit Herrn Cooper in den Wald. Dieses Mal weiter weg ans Ende der Wiehltalsperre. Allein im Wald. Der Schnee der letzten Wochen geschmolzen, Nebel. Moos, grünes Gras zwischen den Bäumen, Eisschollen auf dem Weg. Ein Glück, für das wir glühen.

Nun liegen sie hier. Lasker-Schüler, Fried, Neruda. Die Menschheitsdämmerung. Trakl.

Jetzt höre ich Trouble Man von Marvin Gaye. 1972. Letztes Wochenende saß ich bei Viveka in Essen auf dem Sofa. Sie kam gerade von Stevie, ihrem besten Freund, dem Vater ihrer Kinder, der zwei Stockwerke höher wohnt. Er hatte die Platte gerade aufgelegt. Geerbt von Woody, einem Jamaikaner, der im letzten Winter gestorben ist. Er war ein Freund von Viveka. Über 70. Kurz vor seinem Tod hatten wir ihn auf der Straße getroffen. Er kam vom Yoga, hatte eine Erkältung, lehnte eine Einladung zum Kaffee ab. Eine Woche später war er tot. Die Einschläge kommen näher, meint ein Fußballkollege, daran muss ich mich noch gewöhnen, werde es aber sicherlich nicht tun. Viveka hatte die Platte geerbt und Stevie geschenkt. Er hatte sie letztes Wochenende gehört und Viveka hatte sie dann über Spotify „aufgelegt“. Und ich saß da auf dem Sofa und hatte ein unendlich schönes Gefühl der Ruhe, so, wie man es manchmal hat, wenn sich die Dinge aus dem Schicksal heraus fügen.

Musik, Lyrik. Bowie, Novalis, Gaye.

Kürzlich war ich in der Mayerschen, um für Ela ein Buch zu kaufen. Weihnachtsgeschenk. Als ich all die Bücher sah, wollte ich mir Lyrik kaufen. Stöbern, nachsehen, was es gibt. Es gibt sie nicht mehr zu kaufen. In diesem riesigen Laden 30 cm Gedichte. Grünbein ist wohl der letzte Mohikaner. Reste. Dazwischengeklemmt. Sentimentalitäten. Lyrik verkauft sich nicht, wird nicht gelesen. Ich habe die Verkäuferin gefragt, sie zuckte mit den Achseln.

2016. Keine Gedichte mehr zu kaufen. Bin ich froh, dass ich noch welche habe. Notfalls leihe ich mir Zoes Conrady.

Das Foto übrigens entstand, als Viveka meinte: Stopp. Schau! Ja. Es war eine besondere Stimmung. Wald- und Wassergeister. Mindestens. Wir haben den Weg verlassen und uns durch den nebligen Wald geschlagen, in dem das Moos von den Bäumen hing. Ich sang in tiefer Stimme und besonders laut ein Lied vom Versinken im tiefen Grund. Herr Cooper sah mich irritiert an, Frau Beckmann lachte und das Wild machte sich vom Acker. Romantik ist, wenn alle guten Geister sich verlassen und das Chaos in der Tiefe des Waldes sich in Unwichtigkeit ordnet. So einfach ist das. Grins.

Dieser Marvin Gaye ist der Hammer. Danke Woody, wüsste ich nicht, dass deine Asche an einem weit entfernten Ort verstreut wurde, ich würde denken, dir heute begegnet zu sein. Dort.

One night in Paris

Peace

Als wir Paris gebucht hatten, hatten auch schon Menschen Karten für das Bataclan gekauft. Eagles of Death Metal. Ich habe Sophie gemailt, deren Wohnung wir über Silvester gemietet haben. Ich wollte wissen, ob es ihr gut geht. Und wollte ihr sagen, dass wir kommen. Trotzdem. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Schwesterlichkeit. Sie war an dem Abend mit ihrem Freund bei ihrem Vater außerhalb von Paris. In der Nacht herrschte Ausnahmezustand. Sie schliefen vor den Toren der Stadt, alle hatten Angst.

In der Straße, in der Sophie wohnt, in der wir gewohnt haben, stehen Soldaten. Mit Maschinenpistolen. Man geht an ihnen vorüber, um Baguette für das Frühstück zu kaufen.

In der Silvesternacht, als Köln geschah, sahen wir vom Montmatre auf die Stadt. Wir tranken Champagner auf unsere Liebsten. Unter anderem auf Vivekas Mutter und meinen Vater, die leider nicht mehr leben.

Auf dem Weg zurück zu unserer Wohnung, wir laufen gerne stundenlang durch die Nacht, kamen uns Polizisten entgegen. Ich solle meine Kamera wegpacken, Diebe. Es sei nicht sicher. Zumindest sollten wir die andere Straßenseite nehmen. Unter den Hochgleisen der Metro hindurch auf die andere Seite. Wenige Schritte weiter lief ein Mann an uns vorbei. Es folgten Stiefelschritte der Polizisten, die uns gewarnt haben. Dann kam viel Blaulicht und ein Mann mit Kabelbinder verschnürten Händen lag am Boden.

Wir gingen nach Hause. Durch das nächtliche Paris. Der erste Tag im Jahr. Spätnachts, frühmorgens. Wir waren noch in ein afrikanisches Restaurant eingekehrt am Montmatre, das wir im April entdeckt hatten. Live-Musik im Keller. Dieses Mal war der Chef freundlich zu uns, er hat uns vielleicht wiedererkannt, weil in dem Restaurant nur Schwarze verkehren. Menschen aus Kamerun mit einer Vorliebe für Musik. Das Essen ist hervorragend, auch, wenn ich nicht genau sagen kann, was es war. Mein Französisch, die Karte, Kamerun. Ich würde es sofort wieder essen.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dieses Dorf zu verlassen und dort, in der Stadt der Liebe, der Aufregung, das Brodelnde, Gewalttätige zu spüren. Waffen, Diebe, Drogen. Benutzte Spritzen in den öffentlichen Toiletten in dem Viertel. Nicht eine. Abgepackte Alu-Pfännchen zum Erhitzen des Zeugs. Für mich Nummern zu groß. Kann ich nicht fassen, verpacken. Da stehe ich wie ein Fünfjähriger, der Metropole hilflos ergeben. So ganz und gar überhaupt nicht Mann von Welt.

Tagsüber in den Tuilerien, an der Seine entlang, Notre Dame, am Louvre. Monet in der Orangerie. Die Impressionisten im Keller. Renoir, Cezanne. Picasso. Eine solche Stadt würde mich verrückt machen. Woran hält man sich? Geht man einfach dorthin, wo es einem gefällt und meidet den Rest?

Im Dezember waren wir in Köln. Am Rhein entlang, nachts am Hauptbahnhof vorbei. Ich habe die Uhr fotografiert, die auf nach 2 Uhr stand. Das Foto hat jetzt eine andere Bedeutung. Paris. Köln. Eine Nacht. Jeweils.

Nun, uns hat es nicht getroffen. Wir sind unberührt durch die Nächte, die Städte gelitten. Haben gestaunt, die Lichter bewundert, die Linien. Ich habe so viel fotografiert in den Tagen. Nur einmal wurde es Viveka zu viel. Man kann süchtig werden nach Motiven. Das ist die andere Seite der Stadt. Das Schauspiel, das ständige Geschehen. Das Auge, die Ohren, der Geist kommen nicht zur Ruhe.

Meine nächste Reise geht nach London. Mit Jim. Nach seinem Abi. Habe ich ihm zum Geburtstag geschenkt. Ich bin gespannt.

Hier nun einige Fotos. Sind die meine Bühne? Oder was? Das Leben, die Texte, die Kamera, mein Kopf, die Städte, die Nächte, der Blog. Die Zuschauer sind weit weg, es müssen keine Karten gekauft oder reserviert werden. Dafür weiß man nicht, was einen erwartet. Was es bedeutet, was es überhaupt ist.

Under the bridge_red

Gare du Nord_red

Montmatre_red

Montmatre Chez Eugene

Ente_red

Riesenrad_red

Waschsalon_Paris

Gleise II

Gleise

Hauseingang_Nähe Champs Elysee

Seine_Schatten

Seine-Brücke_Menschen

2016

Kinderschuh_red

2016. Eine überaus freundliche Zahl. Zwischen 20 und 16 liegt die Quersumme 18. Alles durch 2 teilbar sowie 20 und 16 durch 4. In der Summe der 20 und 16 ergibt sich die 36, die durch 2 geteilt 18 ergibt und durch 4 geteilt 9. Die 18 und die 9 harmonieren mit der 3, die zwischen der 2 und der 4 liegt. Das ist eine durchaus kuschelige Konstellation, würde ich mal fernab von Mathematik als Mann des Wortes behaupten. Da ich ungekrönter Optimisten-Weltmeister sein mag, stelle ich die These auf, dass die Zahl 2016 ein gutes Omen ist. Für die Welt.

Nun ist mir klar, dass die Zeichen der Zeit eine andere Sprache sprechen. 2016 werde viele Menschen Gewalt erfahren. Es gibt eine globale Unzufriedenheit. Überwiegend dort, wo bislang unterdrückende Systeme etabliert waren, in deren Schatten nun die Geister der Vergangenheit auftauchen. Da liegt Unterschwelliges vor, das sich Bahn bricht. Die alten Wissenden können wieder ausgegraben werden. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Habermas, den ich nie verstanden habe. Deshalb erlaube ich mir den gegoogelten Egbert Scheunemann zu zitieren:

„Nicht die Entfaltung der Vernunft selbst hat schließlich, so Habermas, zu den Pathologien der Moderne geführt (von der Kolonialisierung der Lebenswelt bis zu den Grenzen des Wachstums), wie eine zeitgeistige (Foucault, Derrida, Bataille etc.) und oft auch sehr angestaubte Vernunftkritik (Nietzsche, Heidegger, aber auch Horkheimer/Adorno) behauptet, sondern deren einseitig instrumentelle Entfaltung im System bei höchst mangelhafter Rationalisierung der oft noch vormodernen ethischen und moralischen Gehalte in der Lebenswelt. Wir leiden also gleichermaßen an zuviel instrumenteller Rationalität wie an zuwenig lebenspraktischer Vernunft.“

Vernunft. Moralische Gehalte in der Lebenswelt. „Gutmensch“ ist gerade zum Unwort des Jahres gewählt worden. Klar, der passt nicht in eine Welt des Säbelrasselns und Fäustefliegens (im besten Falle). Die gute Nachricht ist, dass sich das alles legen wird. Irgendwann sind die Kämpfer müde und entdecken die Schönheit des Feinen. Da war doch noch was? Nicht alle, natürlich, aber es braucht jeweils diese kritische Masse.

In den 80ern war die in Richtung Peace erreicht. Da ließ sich sogar ein Kalter Krieg beenden. Nie hätte ich das gedacht. Ein Wort meiner Kindheit war Pershing. Atomrakete. Der rote Knopf, zufällig. Ein damals, wie es heute scheint, angenehm theoretisches Problem. Das ist aktuell dann doch alles sehr anders. Rechte Spinner die Straßen verwüsten, Nordafrikaner, die Frauen begrabschen, Belgier, die Menschen erschießen, Afghanen, Iraker und Syrer, die auf solcher, dieser, jener Seite kämpfen. Russen, Amerikaner, Verbündete, die zum Wohle aller bombardieren.

Das wirft viele Fragen auf. Irgendwie muss der Dampf raus. Nun auch bei uns in Deutschland. Da ist viel mehr Aufgestautes als gedacht. Die deutsche Einheit hat viele Komponenten im Jahr 2016. Eine bunte Kakophonie. Talk-Show-Firlefanz. Versunkene Ministerinnen, die auftauchen. Landesfürsten, die Kante zeigen. Und die asozialen Medien, denen es egal ist, wessen Helfershelfer sie sind und was dort geschieht und geplant und gelebt wird weitab aller zivilisierten Grenzen.

Das Gute: Politik lebt. Seit dem 6. März 1983 war es in Deutschland sehr ruhig geworden. Es hatte sich ein Gefühl eingestellt, als hätten wir gesellschaftlich nur noch Feintuning vorzunehmen und ansonsten rein ökonomisch zu agieren. Alles in die Hände der BWL. Welche Antworten hat die nun, auf das? Ich würde mich über eine Renaissance der Gesellschaftswissenschaften freuen. Vielleicht ist das das Gute an allem, dass nun jemand hinter all die Kulissen schauen muss. Was bleibt? Ruhe und Hoffnung bewahren, klar bleiben bei allem Geschrei und wo möglich zu besseren Zeiten beitragen, die kommen werden. Das allerdings wird global gesehen noch ein wenig dauern.

Übrigens: George Orwells 1984 plus unser heutiges 2016 gibt in der Summe 4000. Eine Zahl, die sich harmonisch teilen lässt. Wer braucht da noch Kaffeesatz?