Foto: Jim Richter, 2011
Sagt mal, was ist denn das für ein Wahnsinn da draußen?
Also gestern hatte ich einen Termin in Karlsruhe. Nicht beim Bundesverfassungsgericht, aber ganz in der Nähe in einem Hotel. Tagungsraum, Meeting, Präsentation, Konzept, Text vorstellen, besprechen. Live, quasi. Also habe ich dem Wecker gesagt, er solle um 4.30 Uhr Geräusche machen und alles geben, um mich aus der REM-Phase zu holen. Hat er gemacht, der Sack. Ich hätte ihn an die Wand knallen können. Gerade noch alles so schön bunt hier und dann sowas. Piep, Piep, Piep, der Wecker hat mich lieb. Ja, ich dich auch, Schätzchen. PENG auf die Taste Klappe halten. Hilft ja nix, der macht auch nur, was ich ihm sage. Undankbarer Zeitgenosse, ich. Wir sind ja ein Team, Wecker und ich. Allerdings: Ein stummer Diener ist er gerade nicht, der reißt morgens ganz schön die Klappe auf. Und so schrill, was den Sympathiefaktor nicht unbedingt erhöht. PFEIFE. Ich denke, unsere Beziehung ist in etwa genau das, was man ambivalent nennt.
Ich war pünktlich in der Stadt. War mit Burnt Friedman und Mouse on Mars friedlich gen Süden getuckert. Habe Frankfurt schlafend links liegen lassen. Es waren noch keine Banker auf der Straße, die sich mir in den Weg gestellt hätten. Keine Krawatten besetzten Sternenfahrzeuge in schwarz. Money, money makes the world go round oder eben shut down. Frankfurt fängt später an, ist ne Bürostadt. Köln ist um die Zeit schon dicht. Städte haben Charakter, Anmutungen, Zustände. Die Moneytown ist eine Langschläferin, eine Diva, die sich noch mal umgedreht hat, als ich vorbeigeflogen kam. Wuommmmm…
Die Rückfahrt. Um 15 Uhr bin ich los. Neue Aufgaben in der Tasche, einige ungehörte CDs auf dem Beifahrersitz. Meine heimliche Verkehrskalkulation: Du bist um nach Vier in Frankfurt. Weil die Banker so spät anfangen, verschiebt sich die Rushhour nach hinten, du bist frei, born to be wild, kannst es krachen lassen, kommst früh nach Hause, siehst Ela noch, die Kinder und alles ist gut. Entspannt. Easy. Cro.
Tatsache. Die Frankfurter Kreuze leer. Von Karlsruhe aus fliegt man vierspurig ein, als hätte man fette Motoren unter den Flügeln und würde mit dicken Ballonreifen sanft aufsetzen. Applaus der Touristenklasse. Musik lauter, den Frankfurtdrive spüren, den Beat des Nachmittags, den Puls der Autobahnkreuze und des Drehkreuzes in der Luft. Autos links und rechts, Flieger über allem. Grüßt mir die Sonne.
Mittendurch. Geschafft. Tempomat auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Leicht drüber abzüglich der Toleranzen, ein Näherungsverfahren. Dann, oh Wunder, oh wow, oh no, oh Überraschung mein. Da stellen sich doch hinter Frankfurt auf der A5 in Richtung A45 Nosbach Autos hintereinander. Vierspurig. Tausende. Millionen. Überall Hinweise, dass die Geschwindigkeit reduziert ist. Große Leuchttafeln über den Spuren. Alles leuchtet rot und weiß. Bremslichter, rote Kreise, weiße Zahlen. 120, 100, 80. Ich lächle, denn wir stehen. Vierspuriger Parkplatz. Tässchen Tee? Hab ich Zeit, Musik zu hören. Kammerflimmer, Vert, Coleen. Mixtape als CD. Ein Geschenk. Aktuell meine Lieblingsplatte. Easy Listening. Start. Stopp. Keine Automatik.
Das Bild ist faszinierend. Äußerst beeindruckend. Diese Lawine. Die Spiegelreflex liegt hinten im Auto. Unerreichbar. Ich sehe, wie sich der Pulk der Wartenden langsam den Berg raufschiebt. Ich stehe noch im Tal und blicke hinauf zum Gipfel, der die roten Brems- und Rücklichter verschlingt. Wer oben ankommt, wird als Lemming verschlungen. Ein schönes Bild. Möchte fotografieren, aber. Zu weit weg. Die Nikon, D. Außerdem: Irritiert meine Mitmenschen, wenn ich aus dem Auto heraus knipse. Oh, Polizei? Verdeckter Ermittler? Was habe ich getan? Alle Sünden fallen ein. Ins Denken, Grübeln, nicht wissen, nur eine Ahnung. Wer weiß denn schon, dass ich Jens Schönlau, der harmlose fiftyfiftyblog-Blogger bin, der nur spielen, äh fotografieren möchte? Diesen Stau, der eine Ästhetik hat. Wegen der Farben, wegen des Leuchtens der Lichter auf den Lackoberflächen, wegen der geschwungenen Fahrbahnführung, die harmonisch den Berg raufführt, wegen der Perspektive von unten nach oben und weil alles, alles voller Autos ist. Kilometerlang vierspurig. Alltagswahnsinn. Fünf Spuren, sechs Spuren wären wahrscheinlich genauso voll gewesen. Wir müssen Teeren und Federn, mehr Autobahnen, breiter, schneller, schwärzer, tiefer gelegt, atemlos, durchbrausen. Dynamik, Lebenspuls. Wahnsinn.
War ich froh, als ich wieder hier war. Hallo sagen. Menschliche Wesen, ein Hund. Was hat der sich wieder gefreut, der Kerl. Heute nun also wieder hier im Büro am Tisch, ab nächste Woche: Festanstellung. Drei Tage die Woche, zwei Tage Agentur, ein Tag Homeoffice, zwei Tage frei arbeiten. Es gibt viel zu tun. Die Geister, die ich rief. Ich freue mich, weil ich gerne arbeite. Ich darf denken und schreiben und davon leben. Es läuft gut, ja. Man muss sich auf den Weg machen. Das Leben beim Schopf packen. Die Dinge ordnen sich, dieses verrückte Jahr entlässt mich in ein anderes Leben. Bin bereit. Absprung, fliegen, Abenteuer. Und: Nicht im Stau stehen. Glück gehabt. Am See entlang zur Arbeit… Eher mein Ding. Nicht aufhalten lassen, Geschichte wird gemacht, es geht voran. Wie die getanzt haben. Wie wir damals getanzt haben.