Von Island, von Reykjavik lernen!
Gerade waren Europawahlen. Die Konservativen haben gewonnen, wenn man das so sagen kann, weil Angst in Zeiten der Sicherheit der größte Antrieb ist. Wenn Griechen sich in Suppenküchen tummeln, wenn Spanier ihr Land verlassen, wenn Briten und Franzosen europafeindlich rechtsradikal wählen, wenn in Deutschland Problemparteien wie AFD 7% erwirtschaften, dann zeigt das: Die Leute haben den Mut verloren, setzen auf Discount-Lösungen und glauben an die Stärke der Sprechblasen. Diese Europawahl war nach all dem Mist der letzten Jahre das Peinlichste und Kleinkarierteste, was Geschehen konnte. Nun haben wir für die nächsten Jahre eine politische Lösung der Sorte begeisterungslos. Horrido! Macht mal.
Einheit? Kraft? Energie? Vision? Hoffnung? Zuversicht? Alle Trümpfe aus der Hand gegeben. Wie dumm kann man sein? Viel Spaß noch. Festung Europa, Mauern hochziehen, Polizei aufmarschieren lassen. Vielleicht mehr Bürgerwehren? Adieu, Intellekt. Ciao, Vernunft. Tragt doch Lampedusa ab. Oder? Vermint Gibraltar.
O.K.
Es geht auch anders. Hey, was für ein Vorbild. Island. Heute Morgen ist mir ein Artikel des Tagesspiegels vor die Augen gesurft, der mein Herz gewärmt hat. Tagesspiegel. Schweiz. Nicht gerade ein Land, das sich durch Entspanntheit und Coolness auszeichnet. Die sind schon sehr froh, dass sie die Alpen im Rücken haben. Eine schöne Mauer gen Süden, in der sich im Schatten gut leben lässt. Da sagt man dann gerne mal ja zum „Nein zu Ausländern“. Ausländisches Geld ja, ausländische Menschen nein. Nun kann man nicht immer alles über einen Kamm scheren und es gibt solche und solche und eben solche, die etwas feiner, tiefer, geschickter denken. Und schreiben. Constantin Seibt, Reykjavik. Korrespondent des Tagesspiegels. Er hat diesen Artikel verfasst, der für mich das Optimistischste und Hoffnungsfrohste der jüngsten Vergangenheit formulierte. „Mehr Punk, weniger Hölle!“
Punk. Herrje, wie lange habe ich das Wort nicht mehr gehört. Dabei bestimmt es derzeit meinen beruflichen Alltag, wenn ich es genau nehme. Seit eineinhalb Jahren arbeite ich fest für die Agentur DES WAHNSINNS FETTE BEUTE. Als Konzeptionen und Texter in der Abteilung Strategie. Gerade haben wir ein wunderbares neues Domizil bezogen. Ein Gebäude, wie es schöner und besser nicht sein könnte. Modern, schnörkellos, mit allem, was beflügelt. Noch fühle ich mich ein wenig klein, wenn ich diese heiligen Hallen betrete, die noch unberührt sind. In einigen Jahren werden die schlichten Betonwände von Projekten durchtränkt sein.
Dort sitzen wir und arbeiten daran, unserem Namen alle Ehre zu machen. Querdenken. Freidenken. Muster überwinden. Dinge entwickeln, die sind, als wären sie nicht von dieser Welt. Nun macht das Neue, das Fremde Angst. Albert Camus. Der Fremde. The Cure hat davon gesungen. Killing an arab:
Standing on the beach
With a gun in my hand
Staring at the sea
Staring at the sand
Staring down the barrel
At the arab on the ground
I can see his open mouth
But I hear no sound
I’m alive
I’m dead
I’m the stranger
Killing an arab
1985. Im grünen Golf I.
Anders sein. Die gewohnten Pfade verlassen. Dorthin gehen, wo das Netz und der doppelte Boden fehlen. Neu denken, handeln. Das ist Wahnsinn, der beflügelt. Der Dinge freisetzt, die keine Plagiate sind, nichts Aufgewärmtes, Wiedergekautes, Tiefgefrorenes.
Island, Reykjavik.
Gehen wir in der Geschichte Europas, der Welt, einige Jahre zurück. Der 15. September 2008. Ein Tag nach dem siebzigsten Geburtstag meiner Mutter. Nach der Festivität war ich ahnungslos an meinen Schreibtisch zurückgekehrt. Ein Familienvater, der nichts Böses im Sinn hat. Der seine Kinder aufwachsen sehen möchte, der seinen Job gut erledigt, der zum Fußballspielen geht, Freunde einlädt und nach Italien in den Urlaub fährt. Peng. Lehmann Brothers. Fuck.
Am nächsten Tag schon war das Telefon mausetot. Die Marketingetats zu, die Geldschatullen der Unternehmen geschlossen, die Joblage schlecht. Krise. Finanzkrise. Blasen. Autschn. Mein Umsatz ging um 40% zurück, mein Leben ging weiter, Spaß hat das nicht gemacht. In Island sah das noch mal ganz anders aus. Die drei wichtigsten Banken platt am Boden. Kohle weg. Richtig Autschn. Da ging nix mehr. Ganz, ganz tiefer Fall. Zerschmettert.
Nun krebsten alle rum, suchten nach Lösungen, Antworten, Auswegen, Möglichkeiten. Ist die Karre so richtig vor die Wand gefahren, werden Menschen menschlicher. Das Blasierte verschwindet aus den Gesichtern und eine Krawatte ist kein anerkanntes Hoheitszeichen mehr, sondern ein Schuldbekenntnis.
Reykjavik 2010. Die Leute hatten komplett den Kaffee offen. Liegst du im Dreck, ist dir alles egal. Da glaubst du an nichts mehr und folgst deinen Instinkten. Und was geschah? Wahlen in der Hauptstadt. Eine belächelte Komödiantentruppe schickte sich an, die Macht zu übernehmen. Erste Umfragen ergaben einen Stimmenanteil von 0,7%. Das war nicht anders zu erwarten, weil das Wahlprogramm durchaus anders war. Ein Wahlprogramm, wie es die Götter nicht hätten besser schreiben können:
– Gratishandtücher in den Schwimmbädern.
– Einen Eisbären im Zoo.
– Den Import von Juden, «damit endlich jemand, der etwas von Wirtschaft versteht, nach Island kommt».
– Ein drogenfreies Parlament bis 2020.
– Tatenlosigkeit: «Wir haben ein Leben hart gearbeitet und wollen uns nun vier Jahre gut bezahlt
erholen.»
– Ein Disneyland mit wöchentlichem Gratiseintritt für Arbeitslose, «wo sie sich mit Goofy fotografieren
dürfen».
– Mehr Nähe zur Landbevölkerung: «Jeder isländische Bauer soll gratis ein Schaf ins Hotel nehmen dürfen.»
– Gratis-Bustickets. (Mit dem Zusatz: «Wir können mehr versprechen als alle anderen Parteien, weil wir
jedes Wahlversprechen brechen werden.»)
Ein Wahlprogramm? Natürlich nicht. Eine Metapher, eine Karikatur, eine Satire. In der Form zu interpretieren: „Bislang habt ihr uns verarscht, jetzt verarschen wir euch.“
Selbstverständlich lächelte die Krawatten tragende Politikerkaste. Hm. Ts. Macht nur. Ist es nicht Selbstgefälligkeit, was das Unsympathischste im Politikgeschäft ist?
Nun, wer gehörte zur Komödiantentruppe? Zuallererst Jon Gnarr, der das ganze zunächst als Gag verstand, sich aber immer tiefer in die Wirklichkeit des Politikgeschäftes verstrickte und irgendwann tatsächlich antrat. Zusammen mit Einar Örn, dem ersten Bühnenpartner von Björk. Mit Ottarr Proppe, einem intellektuellen Punk und Sänger der Heavy-Metal-Band Ham sowie Björn Blöndal, der Bassist bei Ham war.
Man stelle sich eine solche Truppe bei einer Wahl in Deutschland vor. Die Crew verzichtete auf Plakate und setzte auf ihre eigene Stärke: Liveauftritte und das gesprochene Wort sowie Musikvideos mit Sprecheinlagen. Klingt verrückt. Wahnsinnig. Es war anstrengend für die Antipolitiker, den Wahlkampf zu durchstehen. Man kann sich vorstellen, wie viel Häme und Spott sie aushalten mussten. Aber sie hatten einen starken Antrieb. In dunklen Zeiten wollten sie mit Fröhlichkeit und Nettigkeit punkten. Sie brachen mit allen Regeln des Wahlkampfes. Bezeichnend der letzte Auftritt des Jon Gnarr vor dem Urnengang, als er durch Anfeindungen schon ein wenig ermattet war, aber noch lange nicht am Boden lag:
«Wir von der Besten Partei haben immer gesagt, wir machen es so lange, wie wir Spass haben. Inzwischen ist alles sehr ernst geworden. Hiermit ziehe ich meine Kandidatur als Bürgermeister und die Beste Partei von den Wahlen zurück.» Eine lange Stille folgte. Das Publikum schwieg, die anderen Politiker sahen sich an. Und Gnarr sagte: «Jooooooke!» (Aus: Der Tagesspiegel)
Und dann gewann die „Beste Partei“. So sollte es eigentlich immer sein, dass die beste Partei gewinnt, was leider nicht immer der Fall ist, weil viele Blender und Schwätzer unterwegs sind, die wissen, wie man den Fuß in die Tür stellt und Unwissenden einen Staubsauger verkauft. Gnarr wurde Bürgermeister von Reykjavik und seine Truppe stand ihm bei. Komödianten, Musiker, Punks. Politisch Ahnungslose, könnte man sagen. Nicht vom Fach. Laien. Aber: Mit dem Herz am echten Fleck und mit dem berühmten klaren Menschenverstand. Tun, was getan werden muss. Tun, was Sinn macht. Und das mit Vollgas und Freude.
Weil sie einen Koalitionspartner brauchten, holten sie sich die Sozialdemokraten ins Boot. Unter folgender Bedingung: „Am Wahlabend formulierte die Beste Partei die Bedingung für den Koalitionspartner: Sie sollten alle fünf Staffeln von «The Wire» gesehen haben.“ (Aus: Der Tagesspiegel)
Und so krempelten sie Ärmel hoch und taten, was getan werden musste. Sie sanierten die Finanzen und brachten in Ordnung, was zuvor von Profipolitikern verkackt worden war. „Die Bilanz von vier Jahren Anarchisten an der Macht ist ziemlich unerwartet: Die Punks haben die Finanzen saniert. Dazu kommen einige sehr gelungene Reden, ein paar Dutzend Kilometer Veloweg, ein Zonenplan, eine neue Schulorganisation (über die sich heute niemand mehr beklagt), die Förderung von kleiner Kunst und eine entspannte, boomende Stadt: Der Tourismus wächst jährlich um 20 Prozent.“ (Aus: Der Tagesspiegel)
Was sagt uns das? Weder Worte noch Programme noch Klamotten zählen, sondern Taten. Ich würde gerne von solchen Punks regiert, die nicht taktieren, offene Worte sprechen und tun, was getan werden muss, ohne auf die nächste Wahl zu schauen. Jon Gnarr würde wiedergewählt, wenn er wieder antreten würde, was er nicht macht. Er hat ein Beispiel geliefert, wie es laufen kann. Das zeigt, dass nichts ist, wie es scheint. Und es darauf ankommt, was einen antreibt:
„1. Die Idee, dass es Spass machen würde. 2. Dass Spass das wäre, was die gebeutelten Einwohner Reykjaviks dringend bräuchten. 3. Der Gedanke: «Bis jetzt haben die Politiker ungefragt in unser Leben hineingefunkt. Warum sollten wir nicht das Umgekehrte tun?» 4. Der Ehrgeiz, ein perfektes Kunstwerk hinzulegen.“ (Aus: Der Tagesspiegel)