Liebesservice Schönlau & Co. – Ihre Lieferung

Liebste Frau Beckmann

aller herzlichst freuen wir uns über Ihre
außerordentliche Bestellung
der wir gerne und unverzüglich nachkommen

Als Premium-Member
mit VIP-Goldcard
haben Sie die Königinnen-Suite
in unserem Dienstleistungspaket
gebucht

Darüber hinaus
werte Liebste
haben Sie im Handumdrehen
die Herzen unserer
einpersonigen Belegschaft erobert
so dass diese Mail keinen
Service im eigentlichen Sinne darstellt
sondern eher Ausdruck
einer tiefen Begeisterung ist

Vi
wie ich Sie in der Kundenkartei
unter dem Reiter Königin, Kaiserin, Prinzessin, Retterin
Schönste
führe

Sie sind eine wunderbare Frau
in die ich
ich muss es zugeben
mich intensivst verliebt habe

Ja
Sie sind die Frau
die alles hat
die mich trägt
begeistert
und in einem guten Sinne
berührend fordert

Ich liebe sie
Vi

Weil sie
ja
der Klassiker Ihres Lebens
besonders sind
anders
mit einem Schuss
aufregender
inspirierender
lebendig haltender
Unberechenbarkeit

Kein Lamm
und doch so zart
ein wenig Piratin
Erobererin

Auch Boxerin
harte Bandagen im Kampf
Kopf runter
Fäuste hoch
austeilen
einstecken
blutige Nase
blaues Auge
und dazwischen
ein herzerwärmendes
Grübchenlächeln

Ich liebe Sie
werte Vi
für all das
was sie sind

Sie haben mich einmal gefragt
was ich an Ihnen liebe
und was soll ich sagen?

Es ist die Mischung
es sind die Details
die Ecken und Kanten
das gänzlich Famose
und dieses wunderbare Gefühl
sie zu berühren

Elektrisierend
sind Sie
fernab von
gewöhnlich und langweilig
oder gar durchschnittlich

Durchaus
ja
Sie sind ein seltenes
Exemplar
das Fragen aufwirft
irritiert
manchen verstört
zurücklässt
mit Fragen in den Augen

Das bedeutet
Sie haben in dieser Welt
Relevanz
weil ihre Farben strahlen
und wirken

Es ist ein Zusammenhang
in dem Sie stehen
ein
ich sage das merkwürdige Wort
Energiefeld
das Kraft hat

Und all das
umhüllt von Witz
und Frechigkeit

Ja
es ist das Ganze
diese Rezeptur
die der Himmel geschickt hat

Dazu
ich kann es fühlen
ihre feine
schüchterne Bescheidenheit
ein wenig wie das Rosa auf den Wangen
einer Vierzehnjährigen

Es ist schön
an Sie zu denken
und bewegend
Sie zu sehen
und besonders
Ihr Freund zu sein

Vi
Sie haben mein Herz erobert
im Schlaf
was zeigt
wie viel Sie sind
was alles
in Ihren Tiefen schlummert

Sie werden immer
dort sein
in meinem Herzen
auch
weil Sie mich in jenem Sommer
gerettet haben
vor mir selbst
der Welt
dem Leben

Es ist mir Ruhm und Ehre
aufrecht an Ihrer Seite zu gehen
ich küsse Sie
aus tiefer Liebe
und kann es kaum erwarten
Sie hier zu sehen
Sie zum Ball zu führen
Ihre Hand zu halten und zu hoffen
einen Hauch Ihrer Liebe zu ergattern
oder gar
einen unendlichen Kuss

„Mehr Punk, weniger Hölle!“

Landschaft_Wolken

Von Island, von Reykjavik lernen!

Gerade waren Europawahlen. Die Konservativen haben gewonnen, wenn man das so sagen kann, weil Angst in Zeiten der Sicherheit der größte Antrieb ist. Wenn Griechen sich in Suppenküchen tummeln, wenn Spanier ihr Land verlassen, wenn Briten und Franzosen europafeindlich rechtsradikal wählen, wenn in Deutschland Problemparteien wie AFD 7% erwirtschaften, dann zeigt das: Die Leute haben den Mut verloren, setzen auf Discount-Lösungen und glauben an die Stärke der Sprechblasen. Diese Europawahl war nach all dem Mist der letzten Jahre das Peinlichste und Kleinkarierteste, was Geschehen konnte. Nun haben wir für die nächsten Jahre eine politische Lösung der Sorte begeisterungslos. Horrido! Macht mal.

Einheit? Kraft? Energie? Vision? Hoffnung? Zuversicht? Alle Trümpfe aus der Hand gegeben. Wie dumm kann man sein? Viel Spaß noch. Festung Europa, Mauern hochziehen, Polizei aufmarschieren lassen. Vielleicht mehr Bürgerwehren? Adieu, Intellekt. Ciao, Vernunft. Tragt doch Lampedusa ab. Oder? Vermint Gibraltar.

O.K.

Es geht auch anders. Hey, was für ein Vorbild. Island. Heute Morgen ist mir ein Artikel des Tagesspiegels vor die Augen gesurft, der mein Herz gewärmt hat. Tagesspiegel. Schweiz. Nicht gerade ein Land, das sich durch Entspanntheit und Coolness auszeichnet. Die sind schon sehr froh, dass sie die Alpen im Rücken haben. Eine schöne Mauer gen Süden, in der sich im Schatten gut leben lässt. Da sagt man dann gerne mal ja zum „Nein zu Ausländern“. Ausländisches Geld ja, ausländische Menschen nein. Nun kann man nicht immer alles über einen Kamm scheren und es gibt solche und solche und eben solche, die etwas feiner, tiefer, geschickter denken. Und schreiben. Constantin Seibt, Reykjavik. Korrespondent des Tagesspiegels. Er hat diesen Artikel verfasst, der für mich das Optimistischste und Hoffnungsfrohste der jüngsten Vergangenheit formulierte. „Mehr Punk, weniger Hölle!“

Punk. Herrje, wie lange habe ich das Wort nicht mehr gehört. Dabei bestimmt es derzeit meinen beruflichen Alltag, wenn ich es genau nehme. Seit eineinhalb Jahren arbeite ich fest für die Agentur DES WAHNSINNS FETTE BEUTE. Als Konzeptionen und Texter in der Abteilung Strategie. Gerade haben wir ein wunderbares neues Domizil bezogen. Ein Gebäude, wie es schöner und besser nicht sein könnte. Modern, schnörkellos, mit allem, was beflügelt. Noch fühle ich mich ein wenig klein, wenn ich diese heiligen Hallen betrete, die noch unberührt sind. In einigen Jahren werden die schlichten Betonwände von Projekten durchtränkt sein.

Dort sitzen wir und arbeiten daran, unserem Namen alle Ehre zu machen. Querdenken. Freidenken. Muster überwinden. Dinge entwickeln, die sind, als wären sie nicht von dieser Welt. Nun macht das Neue, das Fremde Angst. Albert Camus. Der Fremde. The Cure hat davon gesungen. Killing an arab:

Standing on the beach
With a gun in my hand
Staring at the sea
Staring at the sand
Staring down the barrel
At the arab on the ground
I can see his open mouth
But I hear no sound
I’m alive
I’m dead
I’m the stranger
Killing an arab

1985. Im grünen Golf I.

Anders sein. Die gewohnten Pfade verlassen. Dorthin gehen, wo das Netz und der doppelte Boden fehlen. Neu denken, handeln. Das ist Wahnsinn, der beflügelt. Der Dinge freisetzt, die keine Plagiate sind, nichts Aufgewärmtes, Wiedergekautes, Tiefgefrorenes.

Island, Reykjavik.

Gehen wir in der Geschichte Europas, der Welt, einige Jahre zurück. Der 15. September 2008. Ein Tag nach dem siebzigsten Geburtstag meiner Mutter. Nach der Festivität war ich ahnungslos an meinen Schreibtisch zurückgekehrt. Ein Familienvater, der nichts Böses im Sinn hat. Der seine Kinder aufwachsen sehen möchte, der seinen Job gut erledigt, der zum Fußballspielen geht, Freunde einlädt und nach Italien in den Urlaub fährt. Peng. Lehmann Brothers. Fuck.

Am nächsten Tag schon war das Telefon mausetot. Die Marketingetats zu, die Geldschatullen der Unternehmen geschlossen, die Joblage schlecht. Krise. Finanzkrise. Blasen. Autschn. Mein Umsatz ging um 40% zurück, mein Leben ging weiter, Spaß hat das nicht gemacht. In Island sah das noch mal ganz anders aus. Die drei wichtigsten Banken platt am Boden. Kohle weg. Richtig Autschn. Da ging nix mehr. Ganz, ganz tiefer Fall. Zerschmettert.

Nun krebsten alle rum, suchten nach Lösungen, Antworten, Auswegen, Möglichkeiten. Ist die Karre so richtig vor die Wand gefahren, werden Menschen menschlicher. Das Blasierte verschwindet aus den Gesichtern und eine Krawatte ist kein anerkanntes Hoheitszeichen mehr, sondern ein Schuldbekenntnis.

Reykjavik 2010. Die Leute hatten komplett den Kaffee offen. Liegst du im Dreck, ist dir alles egal. Da glaubst du an nichts mehr und folgst deinen Instinkten. Und was geschah? Wahlen in der Hauptstadt. Eine belächelte Komödiantentruppe schickte sich an, die Macht zu übernehmen. Erste Umfragen ergaben einen Stimmenanteil von 0,7%. Das war nicht anders zu erwarten, weil das Wahlprogramm durchaus anders war. Ein Wahlprogramm, wie es die Götter nicht hätten besser schreiben können:

– Gratishandtücher in den Schwimmbädern.
– Einen Eisbären im Zoo.
– Den Import von Juden, «damit endlich jemand, der etwas von Wirtschaft versteht, nach Island kommt».
– Ein drogenfreies Parlament bis 2020.
– Tatenlosigkeit: «Wir haben ein Leben hart gearbeitet und wollen uns nun vier Jahre gut bezahlt
erholen.»
– Ein Disneyland mit wöchentlichem Gratiseintritt für Arbeitslose, «wo sie sich mit Goofy fotografieren
dürfen».
– Mehr Nähe zur Landbevölkerung: «Jeder isländische Bauer soll gratis ein Schaf ins Hotel nehmen dürfen.»
– Gratis-Bustickets. (Mit dem Zusatz: «Wir können mehr versprechen als alle anderen Parteien, weil wir
jedes Wahlversprechen brechen werden.»)

Ein Wahlprogramm? Natürlich nicht. Eine Metapher, eine Karikatur, eine Satire. In der Form zu interpretieren: „Bislang habt ihr uns verarscht, jetzt verarschen wir euch.“

Selbstverständlich lächelte die Krawatten tragende Politikerkaste. Hm. Ts. Macht nur. Ist es nicht Selbstgefälligkeit, was das Unsympathischste im Politikgeschäft ist?

Nun, wer gehörte zur Komödiantentruppe? Zuallererst Jon Gnarr, der das ganze zunächst als Gag verstand, sich aber immer tiefer in die Wirklichkeit des Politikgeschäftes verstrickte und irgendwann tatsächlich antrat. Zusammen mit Einar Örn, dem ersten Bühnenpartner von Björk. Mit Ottarr Proppe, einem intellektuellen Punk und Sänger der Heavy-Metal-Band Ham sowie Björn Blöndal, der Bassist bei Ham war.

Man stelle sich eine solche Truppe bei einer Wahl in Deutschland vor. Die Crew verzichtete auf Plakate und setzte auf ihre eigene Stärke: Liveauftritte und das gesprochene Wort sowie Musikvideos mit Sprecheinlagen. Klingt verrückt. Wahnsinnig. Es war anstrengend für die Antipolitiker, den Wahlkampf zu durchstehen. Man kann sich vorstellen, wie viel Häme und Spott sie aushalten mussten. Aber sie hatten einen starken Antrieb. In dunklen Zeiten wollten sie mit Fröhlichkeit und Nettigkeit punkten. Sie brachen mit allen Regeln des Wahlkampfes. Bezeichnend der letzte Auftritt des Jon Gnarr vor dem Urnengang, als er durch Anfeindungen schon ein wenig ermattet war, aber noch lange nicht am Boden lag:

«Wir von der Besten Partei haben immer gesagt, wir machen es so lange, wie wir Spass haben. Inzwischen ist alles sehr ernst geworden. Hiermit ziehe ich meine Kandidatur als Bürgermeister und die Beste Partei von den Wahlen zurück.» Eine lange Stille folgte. Das Publikum schwieg, die anderen Politiker sahen sich an. Und Gnarr sagte: «Jooooooke!» (Aus: Der Tagesspiegel)

Und dann gewann die „Beste Partei“. So sollte es eigentlich immer sein, dass die beste Partei gewinnt, was leider nicht immer der Fall ist, weil viele Blender und Schwätzer unterwegs sind, die wissen, wie man den Fuß in die Tür stellt und Unwissenden einen Staubsauger verkauft. Gnarr wurde Bürgermeister von Reykjavik und seine Truppe stand ihm bei. Komödianten, Musiker, Punks. Politisch Ahnungslose, könnte man sagen. Nicht vom Fach. Laien. Aber: Mit dem Herz am echten Fleck und mit dem berühmten klaren Menschenverstand. Tun, was getan werden muss. Tun, was Sinn macht. Und das mit Vollgas und Freude.

Weil sie einen Koalitionspartner brauchten, holten sie sich die Sozialdemokraten ins Boot. Unter folgender Bedingung: „Am Wahlabend formulierte die Beste Partei die Bedingung für den Koalitionspartner: Sie sollten alle fünf Staffeln von «The Wire» gesehen haben.“ (Aus: Der Tagesspiegel)

Und so krempelten sie Ärmel hoch und taten, was getan werden musste. Sie sanierten die Finanzen und brachten in Ordnung, was zuvor von Profipolitikern verkackt worden war. „Die Bilanz von vier Jahren Anarchisten an der Macht ist ziemlich unerwartet: Die Punks haben die Finanzen saniert. Dazu kommen einige sehr gelungene Reden, ein paar Dutzend Kilometer Veloweg, ein Zonenplan, eine neue Schulorganisation (über die sich heute niemand mehr beklagt), die Förderung von kleiner Kunst und eine entspannte, boomende Stadt: Der Tourismus wächst jährlich um 20 Prozent.“ (Aus: Der Tagesspiegel)

Was sagt uns das? Weder Worte noch Programme noch Klamotten zählen, sondern Taten. Ich würde gerne von solchen Punks regiert, die nicht taktieren, offene Worte sprechen und tun, was getan werden muss, ohne auf die nächste Wahl zu schauen. Jon Gnarr würde wiedergewählt, wenn er wieder antreten würde, was er nicht macht. Er hat ein Beispiel geliefert, wie es laufen kann. Das zeigt, dass nichts ist, wie es scheint. Und es darauf ankommt, was einen antreibt:

„1. Die Idee, dass es Spass machen würde. 2. Dass Spass das wäre, was die gebeutelten Einwohner Reykjaviks dringend bräuchten. 3. Der Gedanke: «Bis jetzt haben die Politiker ungefragt in unser Leben hineingefunkt. Warum sollten wir nicht das Umgekehrte tun?» 4. Der Ehrgeiz, ein perfektes Kunstwerk hinzulegen.“ (Aus: Der Tagesspiegel)

Der Sommer, in dem ich das alte Fahrrad meines Großvaters reparierte

Junge mit Fahrrad_red

Der Sommer kommt.

Bald werden wir wie Hannibal mit unseren bepackten Blech-Elefanten über die Alpen ziehen. Mit allem, was man braucht. Diesem kompletten Gerödel für launige Tage. Fahrräder, Surfbrett, Espressokannen. Gen Süden über den Autoput. Mit Dachgepäckträgern und Hörspielen. Wir werden durch die Nacht fahren, den Gotthard überwinden oder durchwinden. Die Sonne wird in Italien aufgehen, das Meer wird rufen, die Blicke werden sich nach dem Blau sehnen, dem ersten Blick. Hinter Mailand, noch auf der Autobahn, die eine Geschwindigkeitsbegrenzung kennt, an die sich kein Schwein hält, den ersten Kaffee trinken. Wir werden das Rennen durch die Serpentinen fahren auf dem Weg runter nach Genua. Chancenlos mit unseren Elefanten gebenüber den geübten Reitern mit ihren Araberlieferwagen voller Geschwindigkeit und Geschicklichkeit. Es sind Italiener, die uns mit ihrem Glück und Stolz um die Ohren fliegen werden. Diese Leute, die Berlusconi wählen und dennoch am besten wissen, wie man lebt.

Es wird ein anderer Sommer sein als der Sommer, in dem ich das Fahrrad meines Großvaters reparierte. Und unter Mithilfe meines Bruders gleich wieder zerstörte. Es muss Ende der Siebziger gewesen sein. Ich war vielleicht 13 Jahre alt, hatte komplett blonde Haare, war frech wie Dreck und gleichzeitig schüchtern. Tanten fuhren mir mit der Hand durchs Haar und gaben mir im besten Falle zwei Mark für Eis. Ich habe immer gespart, zurückgelegt, Ziele verfolgt, ein Konto gefüttert, Zinsen eingefahren, eine stille Reserve für meine klamme Familie zurückgelegt. Ab und an, wenn es ganz eng wurde, der Mama Geld gegeben für den Einkauf. Als zinsloses Darlehen bis zum Ersten.

Es waren andere Zeiten. Wir Kinder trugen im Sommer T-Shirts und kurze Hosen vom großen Bruder oder Cousin, hatten Sandalen an den Füßen, mit weißen Socken am Sonntag, und trugen im Winter Gummistiefel, in denen Füßlinge und Wollsocken für Wärme sorgten. In den großen Ferien, und auch zu Ostern, ging es im Opel Record Coupé in die Gärtnerei zu den Großeltern. Die Gärtnerei war nicht nur Gärtnerei, sondern auch Pension, die im Sommer nicht frequentiert war, weil die Kurgäste nie im Sommer in die Gärtnerei kamen. Und die Gärtnerei war der aufregendste Abenteuerspielplatz der Welt. Gewächshäuser, Kohlekeller, Taubendachboden, Torfsäckeberg, Schweinestall, Wurstküche, Krims-Krams-Speicher, verlassene Wohnung vom geschiedenen Onkel, Wasserbassins, Geräteschuppen, Außenbeete, Gästeveranda… Ach.

Und: Wowiemowie. Mit das Beste! Ein eigenes Pensionszimmer für 3, 4, 5 Wochen. Eine kleine Tasche und ansonsten nur ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein Waschbecken, ein Fenster. Eine eigene Welt. Die Ferien des Monsieur Schönlau. Aufstehen, runter in die große Küche. Alle waren längst auf. Die Oma, der Opa im Tagwerk verstrickt. Keine Zeit, sich um die Kleinen zu kümmern. Genial. Freiheit. Tun und lassen, was man will. Wild. Natürlich, klar, man musste ein Auge haben für die Umgebung. Jederzeit war es möglich, dass Opa um die Ecke kam und einen dabei erwischte. Bei all dem, was nicht so ganz astrein war. Nennen wir es: Experimente. Ihr wisst. Jungs. Da kommen Chemikalien, Feuer, Wasser, Unsinnigkeiten ins Spiel. So entstehen Katastrophen und Kriege. Am Anfang steht meist ein männliches Wesen mit einer Idee. Und ja, wir hatten viele Ideen und am Ende der Ferien kam die Oma zum gepackten Auto, drückte einem unauffälig 20 Mark in die Hand (ein Vermögen!) und weinte. Ein wenig, weil sie wusste, dass es nun wieder sehr still sein würde, ein wenig aber auch aus Erleichterung. Grins. So eine Jungenhorde, die in Wochen zusammenwächst, die Projekte entwickelt, Banden bildet, Angriffe startet, alles auf links dreht, die kann schon Nerven kosten. Frag nicht nach Sonnenschein.

Oma und Opa haben uns gelassen. Vielleicht mal ein Blick vom Opa beim gemeinsamen Mittagessen. Nur ein leichtes Heben der Augenbraue und ein etwas längeres Stehenlassen des Blickes. O.K. Verstanden. Zwei Gänge zurück. Das genügte. Ein Meister der Mimik. Lief es gut, kam es zum Highlight. Opas große Las Vegas-Kleingeldausschüttung. Er sammelte das Hose herunterziehende Kleingeld aus seinem Portemonnaie in einem großen Glas im Wohnzimmerschrank. An einem Abend der Ferien versammelte er uns am großen Tisch und startete das Schätzen. The winner takes it all. Puh. Ich meine, da ging es so um 30 Mark. Das war Kapital, Ertrag, Möglichkeit. Wer die Kohle hatte, war für die Ferien durch. Eis vom Italiener im Dorfzentrum, Süßigkeiten, Spielzeug. Da war alles möglich. Dementsprechend engagiert war das Schätzen. Glas in die Hand. Schauen, welche Münzen dominieren. Überlegen, mit welchem Faktor man multiplizieren kann. Rechnen, nochmal nachdenken. Und dann: Rien ne va plus. Abgabe des unumstößlichen Schätzwertes und dann gemeinsames Zählen. Peng. Autsch. Sieg. Freude. Neid. Lachen. Fluchen. Das ganze Leben in einer Aktion. Hallelujah.

Und dann die Sache mit dem Fahrrad. Ich war in den Ferien auch so etwas wie der Gehilfe meiner Oma. Fragte sie, ob ich helfen könne. So richtig. Also stand ich zum Beispiel, sobald die Glocke der Tür den Blumenladens ertönte, an der Kasse. Oma bediente, fügte Blumen zu Sträußen und ich rechnete im Kopf mit. Meist hatte ich ein anderes Ergebnis als meine Oma, die scheinbar ein anderes Preissytem hatte. Ich orientierte mich an den Zahlen auf den Schildern, sie an den Sternen oder Menschen, die vor ihr standen. Meine Oma war eine außerordentlich nette und soziale Frau. Sagen wir es ruhig: Oma Erna war mindestens eine Heilige. Interpretierte Sie die Preisgestaltung zu Ungunsten der Gärtnerei, korrigierte ich das selbstbewusst durch das richtige Eingeben der Einzelpreise in die riesige Registrierkasse. Da hatten es die Kunden schwarz auf weiß und konnten mit den Preisschildern vergleichen. Meine Oma nutzte diese Kasse nie. Ihr Wechselgeld klimperte in der Schürze. Sie glaubte immer, ich sei so, weil mein Opa väterlicherseits Banker war. Ich war so, weil ich wollte, dass sie genügend Geld verdient und der Laden gut läuft, damit der wunderbare Ort gesichert ist, der kürzlich zwangsversteigert wurde, was wieder eine andere Geschichte ist und mit Holländern und Energiekrisen zu tun hat.

Als der Gehilfe meiner Oma gehörte es auch zu meinen Aufgaben, die per Fleurop bestellten Blumen zu den Sommergästen im Dorf zu bringen. In die großen Kurhäuser am Kurpark, in die kleineren Pensionen, die frequentiert waren und später auch in die Betonburgen der Krankenkassen, die einfach so gefühllos waren, dass sie Menschen in der Kur in Bettenburgen packten. Die Dinger sind heute geschlossen und verscherbelt. Westdeutsche Plattenbauidiotie. Egal. Ich trug die Blumen zu Gästen, bestand darauf, sie persönlich zu übergeben und wurde für meine Bringleistung mit einem Trinkgeld entlohnt. Eine Mark für einen langen Fußweg, den ich, ohne den sensiblen Strauß in der Hand, zurücksprintete, weil ich zu der Zeit nur gelaufen bin. Gehen war nicht mein Tempo. Also nervte mich der Feintransport der Blumen auf dem Hinweg im Schneckentempo, weshalb ich mir überlegte, den Transport effizienter zu gestalten. Ich erinnerte mich an Opas altes Fahrrad, dass ich sofort zum Firmengründungsfahrrad romantisierte. Schon damals habe ich mir die Welt so zusammengesponnen, wie sie mir gefallen hat.

Ich investierte in Flickzeug, Fahrradöl, neue Ventile und schraubte einen ganzen Tag. Am Ende montierte ich einen Transportkorb vorne an den Lenker und brandete das Firmengefährt mit einem Schild, auf das ich Gärtnerei Spieker schrieb. Fertig. Man, was waren alle stolz. Dieser Junge, der kann was. Was der aus dem alten Fahrrad gemacht hat. Und so zog ich meine Kreise durch den Kurort, stellte im Expressverfahren zu und fuhr Werbung. Man kann durchaus sagen, dass ich mir mit der Aktion Sympathie und Achtung eingefahren habe. Was nicht mein Ziel war, aber durchaus willkommen. Damit konnte ich dann auch ein wenig den Ruf der wilden Bande, der uns drei Schönlau-Brüdern anhaftete, entkräften und das Image glätten.

Bis zu dem Moment. Tja. Ich fuhr die Gartenstraße rauf. Auf dem Lenker vorne mein kleiner Bruder. Wir hatten den Korb demontiert, damit wir zu zweit fahren konnten. Natürlich fuhren wir schnell und wild. Slalom und alles, was so eine Kiste hergibt. Ein Verwandter im BMW überholte uns und parkte ein. So ein feiner Verwandter mit Sakko und Krawatte. Feiner Herr. Wir kamen angeflogen und dann. Peng. Autsch. Ende aus Nikolaus. Bekam mein kleiner Bruder seinen sandalierten Fuß in die Speichen. Vollbremsung, Überschlag, Geschrei. Der Fuß war dran, nur leicht gequetscht, das Fahrrad war hin. Felge und Gabel verbogen. Completti. Nicht zu reparieren. „Typisch Schönlau.“ Tja, so sind sie. Da war die Sache mit dem positiven Image schon wieder vorbei, weil die Geschichte sich in der Verwandtschaft rasend schnell verbreitete. Es ließ sich nichts machen. Und ich trug die Blumen wieder zu Fuß aus und rannte zurück in die Gärtnerei, um die Oma nach Jobs zu fragen oder mich den Sommerabenteuern unvergesslicher Ferien hinzugeben.

Imperfect memories – zu Besuch bei Trash/Treasure in Köln

© Trash/Treasure 2014
© Trash/Treasure 2014

Trash/Treasure. Köln. Tel Aviv.

Am Sonntag habe ich ihr Atelier in Köln Ehrenfeld besucht. Es war wieder der Tag, an dem sich die Ateliers in Köln öffnen. Man kann hereinspazieren in die kleinen Museen. Ist ganz nah dran.

Seit zwei Jahren freue ich mich über die Arbeiten, die Trash/Treasure auf Facebook präsentiert. Zweimal habe ich über sie und ihre Kunst geschrieben: Abriss ART mit Trash Treasure (2012) und Ateliergespräch mit Ina T. von Trash/Treasure (2012).

Nun hat sich wieder eine Gelegenheit ergeben, zu schreiben. Weil mir das, was sie in ihrem Atelier am Wochenende gezeigt hat, gefallen hat. In ihrer Arbeit ist der Name Programm. Abfall/Schatz. Sie streift durch das Jetzt mit ihrer Kamera und findet im Alltäglichen das Spezielle. Den Augenblick, die Emotion, die Geschichte dahinter.

In meinem Kopf bewegen sich einige ihrer Fotografien. Ein Sessel in einem Hinterhof, ein Rollstuhlfahrer in Köln Ehrenfeld. Auf ihrer Facebook-Seite kommen täglich Aufnahmen hinzu. Material, wie Heiner Müller es genannt hat. Ein Pool der Schöpfung. Möglichkeiten. Trash/Treasure ordnet. Sie hat Themen im Kopf, geht sehr strukturiert vor. Es ist nicht der Zufall, der sie durch die Stadt und Städte leitet. Es sind Ordnungsstränge, die einem Mechanismus gleich zu den Bildern führen.

Ich war einmal mit ihr im Kölner Hafen unterwegs. Container, Förderbänder, vergessene Räume wie ein Industriemuseum. Sie lässt sich Zeit, schaut, was passt. Es muss ein großer Plan in ihrem Kopf sein, der mit zahllosen Fotos bestückt ist. Am Sonntag bestand nun die Möglichkeit, sich Ergebnisse anzuschauen. Das gegliederte, geordnete, aufbereitete Surrogat.

Das Foto oben zeigt imperfect memories. Basis sind Fotos, die in einem Ehrenfelder Haus entstanden sind. Ein altes Haus, in dem ein junger Mann wohnt, der sich eine Wohnung hergerichtet hat und den Rest für Aktionen, Projekte, Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Sie hat ihn gefragt, ob sie darf und hat ihre Eindrücke mitgenommen. Verschwommene Bilder in kräftigen Farben. Als ich in das Atelier kam, habe ich mir zunächst alles drumherum angeschaut. Habe mir imperfect memories aufgehoben.

Trash/Treasure hat die Fotos bearbeitet. Hat ihnen aus der Dunkelheit des alten Hauses heraus, in dem sie entstanden sind, kräftige Farben entlockt. Es sind Überlagerungen zu sehen. Verschwundene Erinnerungen. Vergessen im Kurzzeitgedächtnis, im Langzeitgedächtnis. Wie war das? Es sind Möbel zu erkennen. Alte Stehlampen, die, die wir als Kinder wahrhaftig in Wohnzimmern haben stehen sehen. Museal, heute. Treppenaufgänge, Kronleuchter, Barhocker.

Für sie sind die Fotografien in ihrer Veränderung Malerei. Sie sind auf Leinwände abgelichtet, die auf Holz aufgezogen sind. Die Rahmen sind grau, ihre Farbe verschmiert. Kein Schickimicki, kein Hochglanz. Grob. Passend. Es sind zehn Bilder, die eine Arbeit ergeben. Neun harmonisch, quadratisch angeordnet, eines, außenstehend, ein Selbstportrait durch ein Fenster. Sie wirken wie Fenster, diese Bilder, wie sie sich in ihren kräftigen Farben von der Wand abheben. Sie sind Einblicke in eine verschwommene Welt. Wieder sind es kleine Bühnen. Kammerspiele, in die man einsteigen kann. Inszenierte Welt. Platz nehmen in den beiden Sesseln, ein Gespräch starten, sagen, was lange verschwiegen ist. Wichtige Gespräche führen auf Staatsebene. L’état, c’est moi. Die Treppen herauf steigen, die Welt oben erkunden, die Räume, Zimmer, Möglichkeiten. Es geht immer weiter, tiefer. Einen Abend auf dem roten Barhocker verbringen, der Musik lauschen, trinken, sehen, was passiert. Die eigene Geschichte sehen, entstehen lassen vor dem geistigen Auge. Kunst. Real, verträumt.

Mir gefällt Kunst, wenn sie saugt, wenn sie anfängt, lebendig zu werden. Das passiert ab und an. Selten, manchmal. Bei imperfect moments ist es mir passiert. Es hat sich also mal wieder gelohnt, den Weg in die Stadt zu fahren.

© Trash/Treasure 2014
© Trash/Treasure 2014

Skelettierte Türme, Musiknervensäge und ein echter Impala

Impala_red

Wenn einer eine Reise tut…

Man. Das Wochenende zog sich hin. Am ersten Mai, war ich allein unterwegs, nachdem niemand Lust hatte, mich zu begleiten. Selbst Herr Cooper hatte keine Zeit. Freitag habe ich gearbeitet. Mehr oder weniger. Und Samstag bei Freunden im Garten Steine geschleppt, arrangiert, zu Mauer aufgeschichtet. danch traf mich ein Gefühl. Sehnsucht. Ich wollte, ja, nach Essen. Also habe ich mit Ela alles abgesprochen, habe meine sieben Sachen gepackt und bin abgeflogen. Viveka von der Arbeit abholen. Spät am Abend.

Sonntag haben wir uns aufgemacht, die Zeche Zollverein zu erkunden. Schönes Wetter, blauer Himmel, angenehme Temperaturen. Wir haben vor dem Ruhrmuseum geparkt und haben uns in Zweisamkeit treiben lassen. Schön. Die Ausstellungen ließe uns kalt. Ins Dunkle eintauchen, wenn der Himmel strahlt? Non, merci. Das Museum ließen wir links liegen, um tiefer in das Gebiet einzudringen. Hin zur Kokerei.

Konstruktion_red

Da mussten wir am Eingang er Ausstellung vorbei. Ein Plakat verriet den Titel: 1914. Das Foto mit den Soldaten mit den Gasmasken das Thema: Krieg. Och nö. Zudem lief schreckliche Musik, die sich sphärisch an jedes Luftmolekül klammerte, um anzulocken. Pah! Au Mann. Die Musik, sehr schwer, traurig, schräg, intellektuell, hat schon ein wenig weh getan. Ich war froh, als wir den Schallraum verlassen haben, auch wenn von Ferne ab und an ein Akkord des Schreckens herüber wehte. Wer macht so etwas? Wer zielt darauf ab, Menschen an sonnigen Sonntagen dermaßen zu belästigen? Ist das Kunst, oder kann das weg? Bitte. Tonne. Mit allem Respekt. Herrje.

Wir retteten uns. Selbständig. Distanz zum Klang. Alles große Bilder, aber ich wollte nicht fotografieren. Zunächst. Zu gelernt, all das. Industriekultur. Rost, Rohre. Also folgten wir einem Weg, der von Bauzäunen gesäumt war. Allen Ortes wird dort gebaut, entsorgt, verändert, gerettet und weiß der Himmel was getan.

Schornstein_red

Am Ende des Wegs bot sich uns dann ein unerklärliches Schauspiel. Ein alter Reisebus, ein Cateringzelt, eine gelber Ciröen-Transporter aus der alten Zeit und Tische und Stühle in der Sonne. Eine Rast. Eine Möglichkeit, verwöhnt zu werden. Mobile Gastronomie. Und: Ein himmelblauer Chevrolet Impala. Erinnert ihr euch? In diesem Blog. Kürzlich. Das Buch eine Autors aus Essen(Kaffeetrinken in Cabutima mit Wolfgang Cziesla), in dem genau so ein Auto vom Protagonisten gefahren wird. Die Kreise schließen sich, das Schicksal wirft einem Dinge vor die Füße.

Wir nahmen Platz, unterhielten uns mit dem Wirt, ließen uns zwei Rotwein einschenken und schauten dem Treiben zu. Dort stand neben dem Impala eine alter Reisebus und Menschen waren damit beschäftigt, Dinge in die Halle hinter uns zu transportieren. Und aus ihr heraus. Unerklärlich.

Dann gesellte sich der Fahrer des Impalas zu uns und erzählte uns eine Geschichte. Dafür liebe ich dieses Ruhrgebiet. Also die Menschen. Offen, frei, verrückt. Er erzählte von einem Freund, der mit seiner Frau vor Gericht landete. Seine Frau hatte Salat angerichtet, ohne ihn ausreichend zu waschen. Das Ergebnis war ein knirschendes Geräusch auf den Zähnen. Und dieses Gefühl. Also echauffierte er sich und sprach von Schmirgelpapier Schmirgelpapier?, fragte die Frau.

Es ging hin. Es ging her. Er fuchtelte mit dem Messer und die Anwältin der Frau schrieb einen Brief, in dem von Bedrohung die Rede war. Zack, traf man sich vor Gericht. Nun ging es um den gesamten Kontext des gemeinsamen Lebens. Der Freund, ein südländischer Einwanderer, verstand die Welt nicht mehr. Was so alles auf den Tisch kam. Führen Frauen Checkliste? Tagebuch heißt das! Ah!

Die beiden Männer dachten sich, jetzt schlägt das Imperium zurück. Und so bereiteten sie sich als Freunde gemeinsam auf den nächsten Prozesstag vor. Sie schrieben auch eine Checkliste. Das machte es für den Richter schwierig, über Schuld und Unschuld zu urteilen. Und so kam die Frage auf, ob die beiden lieber Sterne oder Erdewollten? Also Frieden oder Krieg? Man einigte sich. Im Wesentlichen ging es wohl darum, dass der Salat einfach besser gewaschen wird.

So saßen wir in der Sonne, schauten auf den alten Bus (der Fahrer hatte mit ihm früher eine Baskettball-Mannschaft der 2. Liga gefahren, die regelmäßig beim Überholen neuerer Reisebusse ihre nackten Popos zum Gruß an die Scheibe drückte), tranken Wein, ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen, schauten dem unerklärlichen Treiben an diesem verlassenen Ort zu und lauschten Geschichten, die einfach angeflogen kamen. Wir fühlten uns sehr wohl.

Irgendgwann waren wir die letzten. Alle hatten eingepackt und da saßen nur noch Viveka und Jens auf Stühlen, die im gelben Citröen erwartet wurden. So gingen wir, ließen uns Treiben, gerieten auf Abwege und ich bekam Angesichtes dessen, was zu sehen war, doch noch Lust auf Knipsen.

Türme1_red

Türme2_red

Ach, es war schön. Abenteuer. Die Welt da draußen mit ihren Schauspielen. Schön. Einfach schön.