Der wunderbar wundersame Peer Gynt am Schauspiel Köln

Ach, was für ein schöner Abend! So erfrischend, so theatrig, so ein schönes Schauspiel voller Bilder, Sprache, Musik, Bühne, Kostüme.

Lange nicht mehr war ich im Theater. Die Aufführungen in der Waldorfschule meiner Kinder. Klassenspiele. Berührend. Aber in einem Stadttheater? Ich weiß nicht, wann zuletzt. Ich hatte mich nach meiner Zeit als Regieassistent am Nationaltheater in Mannheim entfremdet. War von Hans-Ulrich Becker zu Wally Bockmayer gewechselt und bin dann irgendwann in die Werbung.

Aber das Gefühl habe ich nie verloren. Die Sehnsucht auch nicht. Wenn das Saallicht ausgeht, der Vorhang langsam den Blick frei gibt und der Beleuchter die Lichtstimmung 1 hochfährt. Peer Gynt. Gespielt von einem 8-köpfigen Männerensemble unter der Regie des Intendanten Stefan Bachmann. Die schlichte Bühne mit großem, schrägem Drehkreis in der Mitte von Olaf Altmann und die Kostüme von Jana Findeklee und Jogi Tewes.

Acht Männer auf der Bühne. Jörg Ratjen, Nicolas-Frederick Djuren, Marek Harloff, Niklas Kohrt, Justus Maier, Max Mayer, Seán McDonagh, Peter Miklusz. Sieben plus Peer Gynt (Jörg Ratjen). Die Sieben spielen alle Rollen des Stücks. Sie sind Trolle mit langen Penissen, die Geliebte, ertrinkende Seemänner, Verrückte, Sklavinnen, Dorfbewohner, ein Geist, eine Braut, ein Schmied und einiges mehr.

Was ist das überhaupt für ein Stück? Eine Traumwelt, eine Abenteuerromanze, ein Märchen. Egal. Zu Beginn betritt Peers Mutter die Bühne. Ein Mann im grob-grünen Strickkleid. Sie stemmt ihre gespreizten Beine gegen die Wand der hohen Seite der Drehbühne und gibt sich ihren Wehen hin. Oben auf der Bühne erscheint Peer Gynt im babyblauen Strickanzug. Ibsen ist Norweger, die Kostüme sind gestrickt. Nicht im klassischen Muster, aber mit grober Nadel. Teils.

Die Reise beginnt. Peer fantasiert und lügt sich durch das Leben. Wird begehrt und ausgestoßen, verachtet und geliebt. Er will sein Ich entdecken, er will frei sein, er will lieben. Solvejg, das Mädchen aus seinem Dorf. Die Einzige, für die er neben seiner Mutter empfindet.

Fast drei Stunden dauert das Stück. Das kann im Theater lang werden. Wenn es nicht gut läuft sogar sehr lang. Das ist an diesem Abend nicht der Fall. Die Männer spielen um ihr Leben. Gehen tief in ihre Rollen, werden von einem maximal präsenten Gynt mitgezogen und geben alles. Die Trollfrau im grünen, gestrickten Tanga-Bikini. Wie eine Elfe über die Schräge der Drehbühne tanzend. Sich Peer im Geschlechtsakt hingebend. Später wird sie ihm einen Sohn gebären. Peer könnte im Reich der Trolle aufgenommen werden und entsprechend der Losung “Troll, sei dir selbst genug!” leben. Vielleicht sogar glücklich werden.

Es ist der Kampf um dieses Glück. Dieses eigene Glück zwischen Peer Gynts Fantasie und der Wirklichkeit der Welt. Jörg Ratjen spielt das wunderbar eindrucksvoll. Nuanciert zwischen Wut, Trauer, Verzweiflung, purer Lust, Angst und kindlicher Naivität. Es ist ein stilles Glück, ihm vom Zuschauerraum aus zusehen zu dürfen. Dieses Theater in diesen Zeiten. Diese gleichbleibende, fortwährende Faszination. Man könnte denken, das analoge Spiel auf der Bühne sei ein Anachronismus. Ist es nicht. Weil es um den Menschen geht. Um das Reflektieren des Menschseins. Ganz besonders in dieser Inszenierung.

Man leidet mit. Als die Mutter stirbt. Peer war lange weg, war reich geworden und wieder arm, hatte Amerika bereist und Marokko, war in der Irrenanstalt gelandet, war dort zum Kaiser aufgestiegen, hatte nach Gold gesucht und wurde auf dem Weg in die Heimat ein Schiffbrüchiger, der mit Geistern kämpft. Ein Stehaufmännchen. Einer, der sich die Schlinge um den Kopf legt, um ihn dann irgendwie wieder herauszuziehen. Durchgehend konfrontiert mit den Wirren der Welt. Und doch so voller Gefühl. Seine Mutter stirbt und er ergeht sich in Hoffnung. Als sie schon reglos hinter ihm liegt, spricht er weiter von Zukunft. Er will nicht. Er will die Dinge nicht wahr haben. Will sich der Realität auf keinen Fall stellen. So ist es ein Gag am Rande, dass seine weißblonde Perücke irgendwie auch an die Haare dieses amerikanischen Präsidenten erinnert. Peer Gynt ist ein Meister der “alternativen Wahrheit”. Als er sich von seiner Mutter dann doch verabschiedet und sie am Fuße der Drehbühne langsam aus dem Geschehen herausfährt, entsteht eines der schönsten Bilder dieser Inszenierung.

Und es sind viele schöne Bilder. Sehr schöne Bilder. Als das Schiff untergeht, rollen die ertrinkenden Matrosen im schummrigen Licht über die sich bewegende Schräge der Bühne. Poetik. Ästhetik. Ich staunte wie ein Kind. Diese Vorstellung hat auch etwas von Zirkus. Die acht Männer in ihren skurrilen Kostümen und Bewegungen. Ein wenig auch ein Schaubunden-Theater der Skurrilitäten. Das macht sehr viel Spaß. Das ist frech, lebendig. So wie die Sprache, in die immer wieder Begriffe der Jetztzeit eingeflochten sind, um die Ibsenschen Reime zu durchbrechen.

So viele Bilder noch in meinem Kopf. Die Sklavinnen mit den Peitschen, der reiche Peer mit seinen Doppelgängern hoch oben am Bühnenrand, der heranschleichende Tod mit der riesigen Suppenkelle, der Freudsche Irrenarzt und seine wahnsinnigen Insassen (darunter ein Albert Einstein), die singenden, schreienden Matrosen oben am Bug, die weggejagte Braut im weißen Kleid, der hausbauende Gynt mit der Axt, die Trolle in Strickhöschen, die von hoch oben gesprochene Predigt des Pfarrers, die erblindete Solvejg, die ihren lange ersehnten Peer im Schoß wiegt. Und, und, und. All das in einer Atmosphäre aus stimmigem Licht und passender Musik. Nicht Grieg, Beatles und Co. Passend. Berührend. Wie die ganze wunderbar wundersame Vorstellung, die ausverkauft war. Ein starkes Schauspiel in einer starken Inszenierung. Draußen in Mülheim am richtigen Ort.

Marat/Sade als furioses Theaterspektakel – unbedingt ansehen!!!

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Feuer. Lust. Expression.

Zur Aufführung kommt Marat/Sade von Peter Weiß in der Inszenierung von Marcus Lachmann. 27 Schauspielerinnen und Schauspieler kehren als wahrhaft beseelte Truppe ihr Innerstes nach außen. Als ich das Stück las, wusste ich nicht. Würden sie das hinbekommen? Die Revolution. Wie sie ihre Kinder frisst. Machtkampf, Seelennot, Wille – dargestellt durch Insassen der Nervenheilanstalt Charenton. Stück im Stück im Stück im Stück. So viele Fäden der Geschichte. Der Bezug zur Gegenwart. Der Verrat an den Idealen. Mehr denn je Zentrum und Wesen der menschlich gesellschaftlichen Phylogenese. Wie verhalte ich mich? Zu welche Seite der gesellschaftlichen Entwicklung möchte ich gehören?

Und dann das! Ein Theaterabend der barocken Fülle. Jeder Augenblick prall. Angebote über Angebote. Jede Figur fein gezeichnet, alle Akteure in jedem Moment konsequent im eigenen Geschehen, in der eigenen Figur. Wo hinsehen? Welches Schauspiel aufnehmen?

Die Figuren und Handlungen greifen ineinander, sauber inszeniert. Der Wahnsinn der Insassen ist in einer Art und Weise dargestellt, die professionell ist. Keine Überzeichnung, kein blinder Aktionismus, konsequent aus der jeweiligen Figur heraus gespielt.

Was macht Marat in der Wanne? Was macht de Sade? Was die Schwestern, Wärter? Roux, der Aktivist? Die Insassen? Jede Individualgeschichte ist stringent durcherzählt. Die Hauptakteure treten in den Vordergrund, treten zurück, wechseln sich ab, spielen miteinander und werden kraftvoll flankiert, getragen vom Ensemble.

Ein Gesamtauftritt geprägt durch Kraft, Energie, Sensibilität für das Geschehen und Bilder, die von ergreifend bis wunderschön reichen. Man glaubt nicht oder vielleicht vergisst man es, dass man hier in der Sporthalle einer Schule sitzt und sich vom Geschehen fesseln lässt. Die Truppe würde auch auf großer Bühne der Stadttheater alles an die Wand spielen. Als ginge es um ihr verdammtes Leben.

Keine Sekunde Langeweile. Das Timing stimmt, der Rhythmus der Szenen, das Tempo, das anzieht, nachlässt, aufbraust, ruhig ausläuft. Im Hintergrund immer wieder der Chor, der mit Klangteppichen Atmosphäre schafft.

Es ist ein fulminant aufspielendes Ensemble, das sich blind versteht und vertraut. Es gibt noch zwei Möglichkeiten, Marat/Sade in dieser Inszenierung zu sehen, gleich, also heute Abend um 20 Uhr und morgen Abend um 18 Uhr. Der Eintritt ist sehr günstig – nämlich kostenlos. Spenden sind willkommen, um die Kosten zu decken. Karten braucht man keine bestellen, wer kommt, wird eingelassen. Gestern Abend hat das gepasst, heute Abend und morgen könnte es dann eng werden. Einfach rechtzeitig da sein.

Infos, Adresse und so weiter hier.

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COWBOYS für Tilman

Szene: Eine städtisches Flachdach auf einem mittelhohen Hochhaus. Kies als Bodenbelag. Eine geöffnete Dachluke, ein gewölbtes Dachfenster – ein Lichtsammler für den darunter liegenden Flur und die Stiege zum Dach. Oben ein Campingstuhl und ein Rollstuhl. Darin sitzen James und John, zwei Cowboys mit großen Texas-Hüten und Herrenpyjamas. Zwischen sich eine Drücker-Thermoskanne mit Kaffee, zwei Blech-Kaffeebecher und eine halbvolle Flasche Bourbon. Zu ihren Füßen eine Petroleumlampe. Beide haben den Kopf im Nacken und schauen in den Nachthimmel zu den Sternen.

John: Wie damals in der Prärie. Die Kojoten heulen, in der Ferne hörst du die Rothäute schleichen, die Klapperschlangen züngeln und die fallenden Sternschnuppen reichen sich die Hände. Wunschlos glücklich.

James: Wie viel Rinder wir getrieben haben. Es müssen mehr als eine Million gewesen sein.

John: Den Sattel im Rücken, das Feuer, der Kaffee.

James: Und der gute Jack. Cin-Cin.

John: Prosit.

James: Was für eine Plörre. Scheiß Aldi-Whiskey.

John: James?

James: John?

John: James, wir müssen etwas tun.

James: Losreiten.

John: Ja.

James: Das sagst du jedes Mal, wenn wir hier sitzen.

John: Ja.

James: Lass mich rechnen. Seit sieben Jahren sind wir in dieser Einrichtung. Karl-Heinz hat einen Nachtdienst im Monat und lässt uns rauf. Sieben mal Zwölf sind Vierundachtzig. Wie oft willst du noch sagen “Lass uns losreiten”? Bis wir bei Hundert sind?

John: Dann sage ich mal Hundert. Es ist so weit.

James: Klar.

John: James, ich habe einen Plan. Wir ziehen das durch.

James: Einfach rausspazieren, Pferde satteln, losreiten. Wie damals.

John: Ja.

James: Wir sind nicht mehr die Jüngsten und die Räder an meiner Seite machen es auch nicht besser. Geschweige denn das dicke Schloss unten an der Tür. Die lassen uns nicht so einfach gehen. Das hier ist Sing-Sing.

John: Ich habe mit Theresa geschlafen.

James: Der Dicken aus der Küche?

John: Yes.

James: Hart.

John: Viagra.

James: Woher?

John: Karl-Heinz.

James: Hab nix mitbekommen.

John: Dienstag im Vorratsraum, nach dem Küchendienst.

James: Sack.

John: Sie hilft uns.

James: Muss gut gewesen sein.

John: Hör zu. Wir müssen hier raus, sonst geh’n einfach irgendwann die Lichter aus. Willst du in ‘ner Zinkwanne hier rausgeschleppt werden? Füße voran? Verbrannt, Urne, Arrividerci?

James: Hast wieder zu viel Italowestern gesehen.

John: Wir ziehen das durch. Theresa lässt uns hinten raus. Sie hat den Schlüssel. Karl-Heinz fährt uns zum Bahnhof. Weg sind wir.

James: Und dann?

John: Überfallen wir den Postzug. Ich habe einen Colt und eine Winchester.

James: Du hast was?

John. Einen Colt, eine Winchester und Munition.

James: Woher?

John: Judith.

James: Du hast nicht auch mit ihr?

John: Ich hatte zwei Pfizers.

James: Was finden die bloß an dir?

John: Das Lächeln, sagen sie. War’s schon immer. Fresse halten und lächeln.

James: Abhauen. Postzug.

John: Wie damals.

James: Das waren Zeiten. Highnoon. Keine Fragen, schießen. Wie viele haben wir weggepustet.

John: Manchmal sehe ich die Kugeln in Zeitlupe fliegen. Langsam durch die Weste. Sehe ihre Augen, wenn sie es realisieren.

James: Harte Zeiten.

John: James, das hier sind harte Zeiten. Die haben uns die Freiheit genommen. Gruppengespräche, bunter Abend, Physiotherapie, Gestaltungstherapie, Gruppenschwimmen, Küchendienst. Hast du dir das so vorgestellt?

James: Wann?

John: Sonntag. Während der Messe.

James: Guter Zeitpunkt. Vier Fäuste für ein Halleluja.

John: Abgemacht?

James: Yes, Sir. Und. Und was wird dann?

John: Wir holen uns die Kohle, stopfen uns die Satteltaschen voll und ab zu Lilly.

James: Vegas. Oh god. Lilly.

John: Hab ihr telegrafiert. Sie hat geantwortet. Hier, lies.

James: Dass es sie noch gibt. Was war die Frau schön.

John: Bei ihr können wir unterkommen. Um alles klar zu machen. Pferde, Sättel, Knarren.

James: Du meinst es ernst.

John: James, ich mach das hier nicht mehr. Ich kann diese Scheiße nicht mehr fressen. Ich will nicht ins Pflegezimmer kommen und da langsam den Löffel abgeben. Mir den Hintern mechanisch abwischen lassen und unter die Decke glotzen, bis es so weit ist. Letzte Ausfahrt Brooklyn. Now or never. Ich will wieder richtigen Jack.

James: Bin dabei. Ja. Ich bin dabei. Wir machen die Biege. Hauen einfach ab. Arsch lecken. Yippie.

John: Und dann nach Wyoming, Sterne zählen.

James: Wyoming. Schlag ein.

John: Wyoming.

Vorhang.

ESTONIA

Oktober 1996

 

Personen:

Der Geist

Inga Lang

Guy de Maupassant

Michel

 

Der Ort der Handlung ist ein Kai im New Yorker Hafen. Es ist dunkel und die Jahreszeit läßt die kommende Kälte des Winters erahnen. Die Atmosphäre ist ein wenig gespenstisch. Hafenlichter erzeugen Schatten, ein großer Hafenkran schwebt über der Szenerie, die Kaimauer fällt im Hintergrund steil ab, der Wind sorgt hier und dort für ein kleines Geräusch. Ein Summen, ein Pfeifen, ein Knistern. Irgendwo knarzt eine rostige Tür. Das Meer schlägt in leichten Wogen gegen die Kaimauer. Über allem liegt der orange-gräuliche Dunst der Stadt. Wolken ziehen und verändern das Licht. Mal hell, mal dunkel. Lichter von Flugzeugen kommen und verschwinden. – Über den Städten der Neuzeit gibt es keinen Himmel, keine Sterne. Nur der Mond hat dann und wann genügend Watt und Lux, sich ins Spiel der Technik einzumischen.

Guy und Michel, die ihre Abende und halbe Nächte an diesem Ort verbringen, haben sich eingerichtet. Zwei alte, verwitterte Stühle stehen herum, ein kleiner Tisch, ein Regenschutz, eine Fußbank, ein klappriges Regal, ein rostiges Fahrrad, ein Windschutz aus Wellblech und was einem sonst so einfällt. Es ist nicht gemütlich, dafür ist im Hafen kein Platz. Der Ort, an dem die beiden ihre Zeit im Hafen verbringen, ist eine vergessene, winklige Ecke, die nicht mehr gebraucht wird, weil sie für Gabelstapler zu eng ist. Eine typische Ecke für alte Besen, Schaufeln, Kisten, Kartons und Müll.

 

Prolog

Der Geist:    (Er trägt eine stilisierte Matrosenuniform. Irgendwie ist er Besatzungsmitglied auf Schiffen die dem Untergang geweiht sein könnten. Manchmal schafft er es sein Teufelswerk zu verrichten, dann ist er glücklich und in ausgelassener Stimmung. Manchmal klappt es nicht, dann ist er zynisch depressiv und stürzt sich in Erinnerungen.)

Fuck. One year ago. And now? Tja, tja. Von Zeit zu Zeit bleibt Geistern nur die Langeweile. Schade. In jener Nacht lief mir der Sabber wohl aus allen Poren. Wie schön ist das Gefühl Gehässigkeit. Die Angst in ihren Augen, des Käptens schnelle Fahrt, die rasenden Motoren und Wellen die zum Himmel – stiegen. Stiegen. (Das Präteritum läuft angewidert zart über die Lippen.)

Fuck. Oh Geisternacht. Fuck. One year ago ist viel zu lang. Ich würde mich versetzen lassen, in eine andere Zone dieser Welt, doch bin ich nun einmal verfallen, dem Tod auf See, dem Untergang in stürm´scher Nacht. Tand. Tand. Von den Gemetzeln dieser Welt halt ich nicht viel, das ist TV und life dabei. Geteilte Freud ist halbe Freud. Doch jene Nacht ist ewige Erinnerung, ist Freudenquell und Geisternahrung.

Es war ein stiller Untergang, kein Kampf, kein Feuerschlag. Die Klappe riß aus der Verankerung, die Bolzen, zuvor im sich´ren Hafen von Menschen repariert, zerbrachen. Im Wassergrollen, Windewehn hört ich das Knacken, Krachen, Bersten jener frisch geschweißten Bolzen und konnt´s kaum fassen, glauben, hoffen. Mit Händen auf dem Kopf, im Haar, sah ich das Bugvisier sich krachend lösen, die Bolzen flogen durch die Luft, da hört ich Engel singen und wußt sofort, was nun geschieht. »Mayday«, klang die Stimme. »Mayday«. Im Zeichen der Waage – ich sah´s im Zeichen der Jungfrau – klang das wie: »Heirate mich. Nimm mich. Verführe mich. Sei zart und hart und treibe es bunt.« (Schlägt die Hände vors Gesicht. Reibt mit den Händen, sich die Vorstellung vor die Augen treibend, im Gesicht.) »Mayday.« (Lacht) Das war gut. Wie eine zarte Hand im Nacken.

Der Rest ist Zeitung. Ungehindert strömte das Wasser ins Autodeck. Das Schiff bekam Schräglage, kenterte, sank. 989 Menschen hatte die ESTONIA nach offiziellen Angaben an Bord. Nur 137 überlebten die Katastrophe. (zähneknirschend) Nur 137. Tja.

 

I. Akt

 

Inga:            Fuck. (Geht an der Kaimauer auf und ab.) Fuck.

 

Guy:            (Sitzt im Hintergrund. Spricht aus der Dunkelheit. Nur die Glut seiner        Zigarette ist zu sehen.)

 

Inga:            Fuck. So eine Scheiße. So eine verfluchte Scheiße.

Guy:            Schiff verpaßt?

Inga:            (Erschreckt sich. Will gehen. Es hält sie. Sie bleibt stehen.) Sieht so aus.  Na      und?

Guy:            Das war knapp.

Inga:            Ja.

Guy:            Das letzte Schiff ging vor drei Stunden, Mom.

Inga:            Das geht Sie nichts an. Scheren Sie sich um ihren eigenen Dreck. (Pause.)         Sie sind ein Schwarzer.

Guy:            Yes, Mom. An diesem Kai geht mich alles etwas an. (Pause.) Schwarz wie die Nacht. (Lacht.) Auf der Durchreise?

Inga:            (Ärgerlich.) Laß es mich so sagen, ich kann es nicht erwarten dieses Land           zu verlassen.

Guy:            Oh Mom, wir duzen uns.

Inga:            Ja, dann habe ich weniger Angst.

Guy:            Und wenn er kommt …

Inga:            … dann laufe ich.

Guy:            Weit weg.

Inga:            Ja.

Guy:            Wohin?

Inga:            Zurück nach Europa.

Guy:            Zurück. Die Länder der Dichter und Denker. Die Wiege der Zivilisation.

Inga:            Ich habe irgendwo gelesen, daß im klassischen Athen allesamt Päderasten   waren. Den lieben langen Tag nur Körperkult und Knabenbumsen.

Guy:            Oh.

Inga:            Was rede ich. Ist auch egal.

Guy:            Nein, Mom.

Inga:            Nennen Sie mich nicht Mom.

Guy:            Sondern?

Inga:            Ich möchte erst wissen, wie Sie heißen? Ich kann Sie in der Dunkelheit nicht sehen.

Guy:            Guy de Maupassant.

Inga:            Sehr erfreut. (Ruft in die Dunkelheit.) Ella Fitzgerald. (Lacht.)

Guy:            Zurück nach Europa. Ella.

Inga:            Mein Name ist Inga Lang.

Guy:            Schade. (Pause.) Es sind immer die Nettesten, die gehen.

Inga:            Fuck.

Guy:            Du läßt das Sternenbanner zurück, den Präsidenten, Vietnam.

Inga:            Ich denke, daß sie für Ausgleich sorgen werden.

Guy:            Weshalb gehst du?

Inga:            Als ich kam, da hatte ich ein Gefühl. Eine vage Hoffnung. Daß sich etwas           bewegt. Das ist dreiundzwanzig Jahre her.

Guy:            Rhythm. (Lacht.) Was haben sie, was wir nicht haben? Welche Fehler       machen wir, die sie nicht auch machen?

Inga:            Wir? Wer ist das? Ich weiß es nicht.

Guy:            Du und ich. Wir beiden, zum Beispiel.

Inga:            Scheiß Beispiel, Uncle Sam.

Guy:            Oh Ella, du bist hart geworden.

Inga:            Tun Sie nicht so, als würden Sie mich seit Ewigkeiten kennen. Ich habe diese Spiele satt. Verstehen Sie? Ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr spielen, ich will nicht, daß Sie spielen. Ich will weg. Ehrlichkeit, Klarheit, Tiefe. Die Dinge sollen etwas bedeuten. Der Schmerz soll einen  Grund haben. Außerdem will ich bessere Croissants essen, italienischen Wein in Italien trinken, den Eiffelturm sehen, ich will zu Faßbinder, zu   Foucault …

Guy:            Wer ist dieser Foucault?

Inga:            Ich habe es vergessen. Es ist alles weg. Sie sind alle tot. Als ich ging, lebten sie. Jetzt sind alle tot. Verfaulen mit ihren Ideen in irgendeiner Erde.

Guy:            Ja. Du hast es zu einer teuren Garderobe gebracht. Ella.

Inga:            Ozelot.

Guy:            Aus den Wäldern Südamerikas.

Inga:            Er lag unter dem Weihnachtsbaum.

Guy:            Und wuchs heran zur Konfektionsgröße 38.

Inga:            Sie schauen mir auf den Arsch. (Spürt seinen Blick.)

Guy:            Ich mag Ozelot. (Pause.) Welches Gefühl? Was sollte sich bewegen?

Inga:            Was soll das? Ich lasse mir nicht auf den Arsch glotzen. Geht´s um´s Fi….?

Guy:            Oh Mom.

Inga:            Sie sollen mich nicht Mom nennen.

Guy:            Am Morgen geht ein Schiff über den Atlantik. Die Queen Elisabeth 2 ist             in fünf Tagen in Southampton. England. Wenn noch ´ne Kabine frei ist.

Inga:            Jetzt brauche ich ein Schiff. Jetzt. Was nützt mir die Queen Elisabeth am            Morgen. Wer weiß, wie die Welt am Morgen aussieht. Ich habe mich  entschieden zu gehen. Jetzt zu gehen. Keine Sekunde mehr zu warten. Es   hinter mir zu lassen. (Schreit ihn an.) Ich will es nicht mehr. (Stampft mit dem Fuß auf die Erde. Wird leiser.) Ich will es nicht mehr. Fuck.

Guy:            Sollte das auch auf den Ozelot zutreffen, dann könntest du ihn mir geben.

Inga:            Ich. Ich scheiße auf den Ozelot.

Guy:            Das solltest du nicht.

Inga:            (leise.) Er ist warm. Kuschelig. Dagegen kann man sich nicht wehren.

Guy:            Du solltest deine Vergangenheit nicht wegwerfen. Trink einen Schluck                 Kaffee.

Inga:            Kaffee?

Guy:            Wenn ich hierher komme, habe ich immer Kaffee dabei. In der                 Thermosflasche. Wie die Hafenarbeiter.

Inga:            Schwarz?

Guy:            Blond und süß, so wie er sein muß. (Pause. Spricht entschuldigend.) Sagen die Hafenarbeiter. (Schenkt Kaffee ein und reicht ihn ihr. Sie kommt näher und nimmt vorsichtig die Tasse.)

Inga:            Sie kennen sich aus.

Guy:            Mit Vergangenheiten.

Inga:            Ich habe Ihnen nichts zu erzählen. Sie scheinen auf Menschen zu warten, in          deren Leben Sie rumpopeln können.

Guy:            Oh Ella. Mich interessieren nur die Schiffe. Nur der Schiffe wegen sitz´ ich          hier. Der Schiffe wegen.

Inga:            Mein Name ist Inga Lang.

Guy:            Ella ist besser. Ella, ich weiß nicht, ist näher dran.

Inga:            Wo dran.

Guy:            An dir, Lady. An mir.

Inga:            Wie Sie wollen. Ich gehe sowieso gleich.

Guy:            Ja.

Inga:            Weshalb sitzen Sie hier?

Guy:            Der Schiffe wegen.

Inga:            Die ganze Nacht?

Guy:            Ein – zwei Stunden. Je nach Schiff.

Inga:            Sie sehen alle gleich aus.

Guy:            Alle gleich. Du hast in deinem Leben nicht viel gelernt, Ella.

Inga:            Sie fangen an Unsinn zu reden. Woher wollen Sie wissen, was ich gelernt            habe und was nicht. Vielleicht können Sie ein Schiff anschauen und wissen   sofort, mit wem Sie es zu tun haben. Mit Menschen scheinen Sie nicht soviel Erfahrung zu haben, sonst würden Sie nicht solchen Unsinn reden.

Guy:            Der Vollmond drückt uns auf die Erde. Das macht uns klein, Ella.

Inga:            Mich nicht. Ich lebe auf, strecke die Arme in den Himmel. Da ist Platz.

Guy:            Neben Raumstationen, Satelliten, Atmosphärenmüll.

Inga:            Ich hätte nicht gedacht, daß Sie zynisch sind. Was ist ihnen geschehen, daß Sie hierher kommen und sich Schiffe ansehen.

Guy:            Vielleicht sind Schiffe besser als Menschen.

Inga:            Fragen Sie mal die Passagiere der Titanic.

Guy:            Wer ist hier zynisch?

Inga:            Das kann doch nicht Ihr ernst sein. Na los, was ist passiert? Hat Sie Ihre             Frau verlassen, haben Sie AIDS, Job verloren, midlife-crise …

Guy:            Du solltest Bücher schreiben.

Inga:            Ich habe Bücher geschrieben.

Guy:            Oh. Volltreffer. Liebesromane?

Inga:            Nein, keine Liebesromane.

Guy:            Schade, ich mag Liebesromane.

Inga:            Mögen Sie Romeo und Julia?

Guy:            Shakespeare. Der große Shakespeare …

Inga:            Am Ende sind beide tot. Aus Liebe und wegen eines Irrtums. Sehr                      tragisch. Ich habe es als Ballett gesehen. In einem kleinen Theater. Am Ende habe ich geweint. Beide lagen da, die Hände nicht weit voneinander entfernt. Sie hätten sich kriegen können. Wie dieses junge Paar in Sarajevo. Und Sie schauen sich Schiffe an.

Guy:            Vielleicht ist genau das der Grund.

Inga:            Sie schauen sich Schiffe an, weil Sie es nicht ertragen?

Guy:            Noch Kaffee?

Inga:            Ich habe Sie etwas gefragt.

Guy:            Und ich habe dich etwas gefragt.

Inga:            Ja, Kaffee. Danke. (Geht zu ihm, er schenkt ein.)

Guy:            Schiffe sind. (Pause.) Sie haben keinen festen Hafen, ziehen ihre Bahn von         hier nach dort. Sie stinken, stöhnen, mühen sich. Finden keine Ruhe. Das Meer nagt an ihnen. In ihren Bäuchen sabbert Öl, Diesel und Schmiere. Sie sind oft nicht einmal schön anzusehen. Verrottet, ungepflegt, die Farben verblaßt. Aber sie haben ihre eigene Geschichte, ihre Eigenheiten. Die     Maschinen laufen in ihrem eigenen Rhythmus. Unruhig. Daf-Daf-Daf-BaDaf-Daf-Daf … Sie wachsen einem ans Herz. Von weitem höre ich sie kommen und ihr Schnaufen verrät mir ihre Namen. (Pause.) Ich war Boxer.

Inga:            Und einer hat ihnen die Birne weich geklopft und Sie kriegen keine Rente.

Guy:            So ähnlich wird´s gewesen sein. Du scheinst für deinen Ozelot ja nicht die           Birne hingehalten zu haben.

Inga:            Ach ja, sondern?

Guy:            Laß gut sein, Ella. Laß gut sein.

Inga:            Nein, ich lasse es nicht gut sein. Ich lasse mir von einem alten, schwarzen           Trottel nicht erzählen, ich hätte mir meinen Ozelot zusammengefickt.  Klar? (Pause.) Was bilden Sie sich ein? Weil ich eine Frau bin? Beine breit durch´s Leben? Wie naiv und verkalkt sind Sie?

Guy:            Ich habe es nicht so gemeint.

Inga:            Sondern?

Guy:            Du solltest jetzt gehen.

Inga:            Ich warte auf mein Schiff. Und wenn es die ganze Nacht dauert. Sie können gerne gehen.

Guy:            Ist ´ne finst´re Gegend hier.

Inga:            Ja, finstere Gestalten in dunklen Ecken.

Guy:            Ich kann nicht die ganze Nacht auf dich aufpassen.

Inga:            Habe ich darum gebeten?

Guy:            Nein, das würdest du wohl auch nicht tun.

Inga:            Weshalb duzen Sie mich?

Guy:            Ist näher dran.

Inga:            Es klingt, als wären Sie mein Vater.

Guy:            Der könnte ich sein. Zumindest sind wir Brüder. Schwestern. O.K.?

Inga:            Mein Vater war Postbote in einem schwäbischen Dorf. Nachdem ich       gegangen war, habe ich ihn nie wieder gesehen.

Guy:            Es gibt Fehler, die macht man nur einmal.

Inga:            Er hat mich nicht einmal mit ins Postamt genommen. Arbeit ist Arbeit.

Guy:            Meine Kinder haben mich auch niemals boxen sehen.

Inga:            Aber ich habe ihn gesehen. Die Straßen entlang laufend, von Briefkasten            zu Briefkasten. Guten Morgen Frau X, Guten Morgen Frau Y. Ich fand es        widerlich.

Guy:            Vielleicht war es einfach sein verdammter Job `Guten Morgen´ zu sagen.

Inga:            Es ist egal. Es ist lange her. Außerdem ist er tot.

(Im Hintergrund kommt eine dunkle Gestalt. Mit Hut und weitem Wollmantel.)

 

Michel:         Guy?

Guy:            Bon soir.

Michel:         Bon soir. Du hast Besuch?

Guy:            Sie hat ihr Schiff verpaßt.

Michel:         So? Das letzte ging vor 3 Stunden. Ich habe das Signal gehört.

Guy:            Ja Michel. Madame will nach Europa.

Michel:         (zu Inga) Nach Europa?

Inga:            Da komme ich her. Aus Deutschland. Ehemals West-Deutschland. Goethe,         Schiller, Hölderlin, Büchner, Heine, Rosa Luxemburg, Steffi Graf. Kennen        Sie die?

Michel:         Madame hat Humor. Als junger Mann las ich den Werther. Am Fenster     stehend zieht das Gewitter auf und er sagt `Klopstock´. Mehr nicht. Hören Sie, er sagte nur `Klopstock´. Diese Deutschen.

Inga:            Mögen Sie sie nicht?

Michel:         Madame, glauben Sie tatsächlich, daß man ein ganzes Volk nicht mögen            kann.

Inga:            Natürlich nicht. Man sagt es so.

Guy:            Er redet dich an die Wand Ella. Zeig´s ihm. Los.

Inga:            Halten Sie sich raus. Zumindest scheint ihr Freund mehr Niveau zu haben            als Sie. Verstehen Sie. Niveau. Freundlichkeit. Respekt. Bildung.

Michel:         Der Mensch braucht keine Bildung. Einen Sinn braucht er. Etwas zu essen.         Wärme. Aufgehoben sein. Freunde und einen Arzt wenn es sonst nicht mehr geht. Mehr nicht.

Guy:            Sie trägt einen Ozelot, Michel.

Michel:         Laß Sie in Ruhe.

Inga:            Danke.

Michel:         Der wärmt sicherlich.

Inga:            Ja. Er hält mich warm. Es ist ein schönes Gefühl ihn zu tragen. Ein Gefühl,          das ich mag.

Michel:         Weshalb gehen Sie, Ella?

Inga:            Mein Name ist Inga Lang. Ihr Freund Guy de Maupassant (verneigt sich wie ein spanischer Edelmann) gab sich die Ehre mich Ella zu nennen. Er sagte, es sei näher dran.

Michel:         Er hat recht.

Inga:            So ein Unsinn. (Pause) Weshalb?

Michel:         Ich weiß nicht, Ella ist irgendwie näher dran.

Inga:            Dann sind Sie sich ja einig. Sie sind ja auch beide schwarz.

Guy:            Volltreffer.

Michel:         Aber er ist Amerikaner. Zumindest ist er hier geboren.

Inga:            Und Sie?

Michel:         Ich stamme aus Marokko. Casablanca.

Inga:            Ich kenne den Film.

Guy:            Aber du nimmst das Schiff.

Inga:            Man hat mehr Zeit.

 

Michel:         Wofür?

Inga:            Anzukommen.

Michel:         Sie werden in Ihrem Land fremd sein.

Inga:            Ich bin auch hier fremd.

Guy:            Du kennst deinen Bäcker, deinen Friseur, deinen Pizza-Lieferanten,         Kollegen. Kinder aus der Nachbarschaft. Guy de Maupassant.

Michel:         Leben Sie allein?

Inga:            Moment mal. Seid ich hier bin werde ich systematisch ausgequetscht.     Was geht Sie das alles an.

Guy:            Nichts.

Michel:         Nichts.

Inga:            So. Aber trotzdem fragen Sie. Menschen scheinen doch interessanter zu             sein als Schiffe.

Michel:         Wie man´s nimmt.

Inga:            Weshalb verbringen Sie ihre Zeit hier im Hafen?

Michel:         Guy ist hier, und die Schiffe sind auch hier. Manchmal kommen einsame Menschen. Mit Sehnsucht nach der Ferne. Mit Hoffnungen auf ein neues, auf ein anderes Leben. Die Dinge, die hier im Hafen passieren haben immer etwas mit Veränderung zu tun. Mit Bewegung. Ankommen und wieder gehen. Ich bleibe hier. Sehe zu. Das gibt mir eine unendliche Ruhe. Und Sicherheit. Ich sitze hier, es geschieht etwas und ich sehe dem Geschehen nur zu. Mehr nicht. Es läßt mich in Ruhe. Greift nicht nach mir, nicht in mich herein. Es macht mich nicht dreckig. Ich trinke Kaffee mit Guy. Das ist alles.

Inga:            Macht es Sie glücklich?

Guy:            Mich macht es glücklich.

Michel:         Manchmal.

Inga:            Reicht es?

Michel:         Nun, ich bleibe.

Guy:            Moment mal. (Zitiert spöttisch.)”Ich trinke Kaffe mit Guy. Das ist alles.” Reicht das nicht ?

Inga:            Das hat er nicht gesagt.

Guy:            Ich spreche mit ihm.

Michel:         Was soll das Guy?

Guy:            Gefällt es dir nicht mehr, hier zu sitzen, Kaffee zu trinken.

Michel:         Es gibt schönere Orte.

Guy:            Natürlich gibt es schönere Orte. Aber gibt es bessere?

Michel:         Du weißt, daß ich dich liebe.

Guy:            (Zu Inga Lang. Ernst.) Es wäre besser, Sie hätten das Schiff bekommen.

Inga:            Ach, jetzt bin ich schuld an den Zweifeln ihres Freundes.

Michel:         Ich zweifle nicht.

Guy:            Sondern?

Michel:         Ich habe es manchmal einfach satt. Mehr nicht.

Guy:            (Springt auf, fährt sich durch die Haare. Wird lauter.) Was hast du satt?

Michel:         Das hat nichts mit dir zu tun.

Guy:            Mit ihr?

Michel:        Guy. Du kannst mir vertrauen.

Guy:            Vertrauen? Wenn du zweifelst.

Michel:         Ich zweifle nicht. Nur manchmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob es einen            Sinn hat am Kai zu sitzen, auf die Schiffe zu glotzen und doch immer hier        zu bleiben. Immer sind wir es, die zurückbleiben. Wir machen uns was   vor.

Guy:            Das ist nicht wahr.

Inga:            Rührend.

Guy:            Sag es.

Michel:         Was haben wir schon gesehen?

Guy:            Was hat Sie schon gesehen?

Michel:         Laß´ Sie da raus.

Guy:            Sie soll abhauen.

Inga:            Ich lebe, du lebst, er sie es lebt in einem freien Land. Jeder kann tun und            lassen was er will. Wo er will. (Wird lauter.) Sagen Sie mir nicht, ich solle abhauen. Morgen früh bin ich weg. Dann können Sie hier alleine vor sich  hinschimmeln.

Michel:         Er meint es nicht so.

Inga:            Wie meint er es dann?

Guy:            Er, er.

Michel:         Guy.

Guy:            Du kommst mir vor wie ´ne Schwuchtel.

Michel:         Hör zu.

Guy:            (Fällt ihm ins Wort.) Wie ´ne Schwuchtel.

Michel:         Du willst nicht zuhören.

Guy:            Ich will deinen Scheiß nicht hören.

Michel:         Ich würde Europa liebend gern einmal sehen.

Guy:            Du bist in New York. – Was soll´s da schon geben. Ist doch alles eins.    Dann bist du drüben und alles ist Scheiße. Lohnt doch nicht den Weg. Europa. Hier ist New York City, der Nabel der Welt. Burning life.

Michel:         Du willst es nicht verstehen. Das ist es. Du bist einfach stur. Wie oft       haben wir hier gesessen und haben Reisen geplant. Reisen in die ganze           Welt.

Guy:            Das war anders. Du hast es kaputt gemacht.

Michel:         Nichts habe ich.

Guy:            Nenn mir ein Land, in dem wir noch nicht waren, das wir noch nicht          gesehen haben. Die vielen Länder. Die schönen Menschen. Wälder. Ebenen. Flüsse. Der Titicacasee. Wir haben eine Woche gelacht. Über das Wort. Aserbaidschan. Nepal. Die Kapverdischen Inseln. Und Neapel.

Michel:         Neapel ist überbevölkert.

Guy:            Die sind da genau richtig.

Michel:         Ohne Bad. Die Wäsche in den Gassen.

Guy:            Da ist Leben. Die Alten sitzen auf der Straße und gehen zur Kirche. Die   beten.

Michel:         Nicht wirklich.

Guy:            Was soll das heissen?

Michel:         Die Neapolitaner beten nicht wirklich. Eigentlich sind sie dekadente         Römer. Beten ist für sie ein Spiel mit dem Schicksal.

Inga:            So ein Quatsch.

Guy:            Was weißt du? Laß ihn reden.

Michel:         Schon gut.

Guy:            Michel, hör nicht auf zu reden.

Michel:         Guy, hier ist New York.

Guy:            Fuck. New York ist überall.

Inga:            (zu Michel) Kommen Sie mit mir nach Europa. Ich habe genügend Geld für          einen langen Sommer.

Guy:            Geld, ist es das?

Michel:         Verdammt nochmal, nein.

Inga:            Sie kommen nicht mit?

Guy:            Hat er nicht gesagt.

Inga:            Er sagte „nein“.

Guy:            „Verdammt nochmal, nein“ hat er gesagt.

Inga:            Und das bedeutet?

Guy:            Scher dich zum Teufel.

(Ella dreht sich um. Will gehen.)

Michel:         Bleiben Sie. Wir sind noch nicht durch.

Guy:            Du gehst.

Michel:         Es wäre ein Sommer. Nur ein Sommer.

Guy:            Geh.

Michel:         Es ist noch nicht entschieden.

Inga:            Im Winter wird er ihnen von Neapel erzählen.

Guy:            Ich kenne Neapel.

Inga:            Aber Sie waren noch nicht dort. Flugangst?

Guy:            Ich brauche keine Schiffe, keine Flieger, keine weiße Frauen, die keine    Ahnung haben was Neapel ist.

Inga:            Klären Sie mich auf.

Guy:            Es gibt Menschen zwischen denen stehen gigantische Welten. Zwischen uns steht das gesamte All.

Inga:            Jetzt haben Sie schlechte Laune, weil ich ihren Freund entführen will. Ich sage Ihnen was. Das Geld reicht für drei. Wir werden uns einschränken müssen, an den Hotels sparen. Öfters Fast-Food essen.

Guy:            Fast-Food in Europa. Was soll das schon sein.

Inga:            Sie kommen mit?

Guy:            Wir würden untergehen.

Inga:            Hauptsache ein warmes Plätzchen im sicheren Hafen.

Guy:            Du hast Geld, einen Ozelot, hast wahrscheinlich studiert. Reich geheiratet.           Da sagt´s sich leicht – sich´rer Hafen.

Inga:            Wenn es Sie beruhigt. Jawohl, studiert. Reich geheiratet. Aber das war alles. Wo es anfangen sollte, da hat es aufgehört. Wissen Sie, wie es ist, wenn man mit einem Mann schläft, ohne Lust. Ohne Begierde. Wenn er in einem ist, ohne einen Tropfen eigener Feuchtigkeit. Das tut weh. Aber   muß sein.

Guy:            Nichts muß sein.

Inga:            Richtig. Nichts muß sein. George war reich. Immobilienmakler in New York          City. Empfänge, Einweihungen, Prominente. Der Präsident hat mir die Hand geschüttelt. Zu fest. Die Frau des Außenministers habe ich kotzen sehen. Auf einer Damentoilette im Weißen Haus.

Guy:            Alle Achtung.

Inga:            Und ich sah, wie Sie George wegbrachten. Mit einem Krankenwagen in die Klinik. Schlaganfall. Da hing sein Mund, sein Arm, sein Schwanz herab. Zack. Vorbei. Auf einer Seite taub. Die andere Seite ohne Spaß am Leben.

Michel:         Du willst ihn zurücklassen?

Inga:            Ich liebe ihn nicht mehr und er ist tot. Sie haben ihn am Morgen aus dem Fluß gefischt. Mit seinem neuen Cadillac, behindertengerecht und sündhaft teuer, hat er das Brückengeländer durchbrochen und sich in den Fluß gestürzt.

Michel:         Es ward als hätt´ der Himmel, die Erde still geküßt.

Guy:            Es war sein Wille.

Inga:            Wie dem auch sei. Jetzt ist er tot und weg und aus und vorbei.

Guy:            Sieht so aus, als finge dein Leben jetzt erst an.

Inga:            Wann geht das Schiff?

Guy:            Je nachdem. Es kommt im Laufe der Nacht an. Die Mannschaft wird       gewechselt. Die Maschinen gescheckt. Auftanken. Ladung löschen. Wenn´s pünktlich kommt und alles schnell geht, morgen früh um 10.

Inga:            Wie spät ist es jetzt?

Guy:            Gegen elf, Ella.

Michel:         Den Traum auf meinen Lippen fühl ich nicht

und wenn die Hände greifen ist´s ein schrein

als gingen meine Hände dort spazieren wo

nichts in mir mich glücklich macht.

Es ist ein klettern, steigen, fallen

und wenn ich ankomm´ ist es g´rad zu spät.

Ich möchte fassen dich mit Herz und Händen

mit allen Sinnen nehmen dich mein Glück.

doch wenn ich ankomm bist du fort und

nichts läßt du zurück.

Ich kann nicht warten kann nicht ruhn

muß suchen finden weiterziehn.

Vielleicht mit Sicherheit und morgen dann

ist´s da.

 

– Vorhang –

 

II. Akt

Die Nacht nimmt ihren Lauf. Der erwartete Luxusliner ist mittlerweile in den Hafen eingelaufen. Er liegt vertäut an der Kaimauer. Inga, Guy und Michel sind immer noch in der Nähe des Kais. Im Hintergrund ist der riesige Schiffsbug zu sehen. Der Name des Schiffs, Queen Elisabeth 2, prangt in großen Lettern an der Bordwand, das Getöse der Ankerkette verbreitet einen höllischen Lärm. Guy springt auf und schreit in den Lärm. Was er schreit ist nicht zu verstehen. Nach dem Herablassen des Ankers wird es ruhig, nur von Ferne sind Geräusche zu hören, die der Szene als Atmo dienen. Das Be- und Entladen, das Auftanken, der Wechsel der Mannschaft findet im Heckbereich des Schiffes statt.

Guy:            (schreit bis der Anker herabgelassen ist)

Michel:         (lachend zu Inga) Das hat er lange nicht getan.

Inga:            Ist die Queen Elisabeth 2 ein besonderes Schiff?

Michel:         Jedes Schiff ist ein besonderes Schiff.

Inga:            Ist dieses Schiff besonderer als andere besondere Schiffe?

Michel:         Nein.

Inga:            Weshalb schreit er dann?

Michel:         Schreist du nie?

Inga:            Wenn ich Schmerzen habe schreie ich. Aber ich kann mich nicht daran     erinnern, wann ich das Letztemal geschrien habe.

Michel:         Jetzt kannst du schreien. (In Anspielung auf den Tod ihres Mannes.)

Inga:            Ich will nicht. Wenn Frauen schreien ist das kein gutes Zeichen. Die Polizei          würde kommen und wer weiß wer sonst noch alles. Nein Danke. Ist es ein gutes Zeichen wenn er schreit?

Michel:         Ja. Das ist es. Er war Boxer. Das war sein Siegesschrei. Damit hat er nach einem gewonnenen Kampf alle Schmerzen rausgebrüllt, um danach  seine verbeulte Visage erhobenen Hauptes in die Garderobe zu schleppen. So hat er´s jedenfalls erzählt.

Inga:            Haben Sie ihn jemals boxen sehen?

Michel:         (Während Michel von Guys letztem Kampf erzählt und davon, wie sich die beiden kennenlernten, ist Guy bei der Queen Elisabeth 2. Guy liebt  Schiffe.) Seinen letzten Kampf. Vor fünfzehn Jahren. Ein Zufall. Es zog mich in die  Halle, der Kampf hatte gerade begonnen. Ich konnte es nicht glauben. Er war viel älter und schwächer als sein Gegner. Der hat ihn nach Strich und Faden verprügelt. Die Schläge gingen auf die rechte Schulter. Immer auf dieselbe Stelle. Der junge Boxer war blitzschnell, tänzelte um Guy herum     und schlug auf die rechte Schulter. Und wieder auf die rechte Schulter. Guys Arm wurde lahm und lahmer. Er hatte keine Deckung mehr und die Linke war zu schwach für den Angriff. Seine Schläge gingen ins Leere. Das Publikum johlte und pfiff zugleich. Dann nahm der Gegner Guys Gesicht ins Visier. Spielte mit seinem wehrlosen Opfer. Guy versuchte immer wieder den rechten Arm vor´s Gesicht zu nehmen. Sofort schlug ihm der Gegner wieder auf die Schulter. Irgendwann hing der Arm einfach herab. Wie tot. Rechts-links-rechts ins Gesicht. Guy ging zu Boden. Blut lief aus der aufgeplatzten Augenbraue. Für ein K.O. gab´s 100 Dollar extra.

Inga:            Schwachsinn.

Michel:         Nein. Es war sein Leben.

Inga:            Sich die Birne weichhauen lassen.

Michel:         Das verstehst du nicht.

Inga:            Moment mal.

Michel:         Er hat sich nie beklagt. Es gibt Dinge, die kann man sich nicht vorstellen.           Dazu reicht es nicht.

Inga:            Und Sie haben einfach zugesehen bei diesem Kampf.

Michel:         Es war der erste und letzte Boxkampf, den ich gesehen habe. Ein Zufall.            Es zog mich. Ich kannte weder Guy noch seinen Gegner.

Inga:            Er hat Ihnen sicherlich leid getan.

Michel:         Ich traf ihn Tage später hier im Hafen. Er sah aus wie ein Monster. Ich     habe mich ziemlich erschrocken. Dann erinnerte ich mich an das Gesicht und sprach ihn an.

Inga:            Der Spaß an der Katastrophe. Lust. Faszination.

Michel:         So ein Schwachsinn. Neugierde. Der Mensch. Was ist das für ein Mensch,          der sich schlägt und dann im Hafen sitzt und in die Nacht schaut.

Inga:            Erzählen Sie von diesem Menschen.

Michel:         Es gibt nichts zu erzählen.

Inga:            Fünfzehn Jahre und es gibt nichts zu erzählen.

Michel:         Ich habe schon zuviel geredet. Ich habe kein Recht dazu. Es gehört mir   wie es ihm gehört.

Inga:            Machen Sie Ihr Leben nicht spannender als es ist.

Michel:         Du kannst penetrant sein.

Inga:            Offen. Nur offen.

Michel:         Du willst in einer Nacht mein Leben aufrollen, willst alles erfahren. Es       liegen fünfzehn Jahre hinter mir, die sich nicht mit ein paar Worten    zusammenfassen lassen.

Inga:            Jeder hat seine fünfzehn Jahre. Oder mehr. Oder weniger. Mal so, mal so.          Wir haben Zeit.

Michel:         Einen Sommer lang?

Inga:            Vielleicht. Es liegt nicht an mir.

Guy:            (Kommt von der Schiffswand zurück.) Stahl. Und doch so weich. Das     macht das Wasser. Die Ozeane streicheln die Queen Elisabeth 2.

Inga:            Michel hat mir von Ihrem letzten Kampf erzählt.

Guy:            So.

Michel:         Habe ich.

Guy:            Hatte keinen guten Tag damals. War nicht schnell genug. Dieser verfluchte Arm wollte sich nicht mehr heben lassen. Dann gab´s richtig           Prügel.

Inga:            Es gibt nettere Methoden sein Geld zu verdienen.

Guy:            Zum Beispiel die Gelegenheitsjobs von denen ich jetzt lebe. Mom. Putzen,          schleppen, Werbezettel verteilen. Nett. Verstehst du, nett. Jeder kleine     Pinscher kann dich Wixer nennen. Wer hätte sich das früher getraut. Das verdammte Maul aufzumachen und mich anzupissen. Wovon sprichst    du, Mom. Von Gesichtspealing und Arschfaltencreme, Mom? Hier ist das Leben. Die Sonne, das Meer.

Michel:         Du hast den Hafen.

Guy:            Und eine Geliebte.

Inga:            Eine Geliebte.

Guy:            Ja. Sie ist schön. Sehr schön.

Inga:            Wo ist sie?

Guy:            Sie liegt vertäut am Kai.

Michel:         Queen Elisabeth 2.

Inga:            Englands Königin.

Guy:            Die sind verrückt, die Europäer.

Inga:            Es hält sich in Grenzen.

Guy:            Sind sie so spießig wie du?

Michel:         Laß sie. Laß sie in Frieden.

Guy:            Schon gut.

Inga:            Ich kann mich sehr gut selber verteidigen.

Guy:            So.

Inga:            Vielleicht tun Sie mir einfach nur leid.

Guy:            Ich tue dir leid. Ich dir? Du bist verrückt. Wo lebst du?

Inga:            Bald wieder in Europa.

Guy:            Bei den Spießern.

Inga:            So einfach ist das. Da die Spießer und hier die coolen Brüder. Hejho.

Guy:            Weshalb bist du hergekommen?

Inga:            Ich schaute ihnen damals in die Gesichter und dachte „ihr verdammten,   widerlichen Spießer und Nazi-Schweine“.

Guy:            Und jetzt?

Inga:            Mittlerweile gibt es wohl Leute die ganz in Ordnung sind. Wer unter 45 ist hat die Entnazifizierung mitgemacht. Da wo ich herkomme sieht man in der Schule Auschwitz Filme. Ein Tag im KZ und so. Da ist man dreizehn und fängt an zu rechnen. Wie alt war der und der. Du heulst und kommst dir schuldig vor. Das waren deine Leute und du selber wärst auch dabei gewesen. Eine Frage des Datums. Was sind 20 oder 30 Jahre. Es waren     so viele die gebrüllt haben und gekämpft und geglaubt. Allmählich fangen Sie mir an leid zu tun.

Guy:            Bravo.

Inga:            Mittlerweile ist es mir egal.

Guy:            Europa ist mir so egal. Total Scheiß egal. Hier ist Freiheit. Scheiß Freiheit           aber Freiheit. Cu Cux Clan und Sammy Davis Junior. Es ist möglich. Fuck.

Michel:         Ihr macht mich wahnsinnig. Warum gebt ihr euch nicht die Hand, wir        trinken Kaffee und fahren nach Europa. Verbringen dort einen Sommer,   lassen alles hinter uns und kommen zurück wann es uns gefällt.

Guy:            Gute Idee. Wirklich gute Idee. Das einzige Problem liegt darin, daß schon           jetzt kein Kaffee mehr da ist. Verstehst du.

Inga:            Ich werde Kaffee holen.

Guy:            Wo bitte schön willst du um diese Uhrzeit Kaffee holen?

Michel:         Sie will Kaffee holen, Sie wird Kaffee holen. Entspann dich. Hörst du,     entspann dich.

Guy:            Ich soll mich entspannen? Ich bin entspannt. Vollkommen entspannt. Und           aus meiner vollkommenen Entspannung heraus werde ich euch jetzt einmal was erzählen:

Der Mensch wird irgendwo hingeboren. Das ist sein Schicksal. Damit muß er klarkommen. Da kann er nicht dauernd dran rumdrehen und hierhin und dahin fliegen. Weil´s dort besser sein soll. Und kommt er hin ist es Scheiße weil sie ihn dort nicht haben wollen. Die haben schon genug Probleme. Auch ohne so´n Scheiß verlausten Schwarzen aus dem New  Yorker Hafen.

Michel:         So.

Inga:            Mündigkeit. Vernunft. Selbstbestimmung.

Guy:            Du hast dir doch den Makler gekrallt und die Schnauze gehalten.

Inga:            Kommen Sie mit. Ich bitte Sie. Es ist wichtig. Wir können nicht so weiter-            machen.

Guy:            (Pause.) Ella, du bist das Schönste was in den letzten fünfzehn Jahren in            diesem Hafen passiert ist. Aber ich habe eine gottverdammte Angst. Ich will nichts verändern. Ich wollte niemals etwas verändern. Nur durchkommen.

(Ella geht auf Guy zu und umarmt ihn. Guy stehen Tränen in den Augen. Sie stehen so einen Augenblick. Dann setzt sich Guy hilflos auf den Boden. Inga dreht sich tief atmend zur Seite.)

Michel:         Jetzt wäre mir nach Kaffee.

Inga:            Morgen früh werden wir an Bord gehen, werden uns eine Kabine aussuchen, werden uns frisch machen und uns zum Buffet begeben. Dort    gibt es dann Schokoladen-Croissants, dunklen-schwarzen Kaffee und   unberührte, ungefaltete Zeitungen aus der ganzen Welt.

Michel:         Das ist Irrsinn. Gottverdammter Irrsinn. Was machst du mit mir Ella? Mir wird es schwindelig, ich bekomme Angst, mein Leben läuft vor meinen Augen ab. Scheiße, ich tille wie ein verfickter Scheiß Flipper. Das kannst    du mir nicht antun. Auftauchen und nichts beim Alten lassen. Verstehst du, das geht nicht. Du bist wie so ´ne linke Werbebotschaft. Direkt ins Kleinhirn. Und festsetzen und die Gedanken nicht mehr loslassen und    plötzlich fährst du ´nen Cadillac und weißt nicht wie du ihn bezahlen            sollst. Irgendwann steht einer auf der Matte und will ´nen Haufen Kohle    sehen. Das ist so´n Ding auf Pump, wo man nicht mehr rauskommt.

Inga:            Es wird nicht mehr als eine Art Spritztour. Europa mit Rückfahrschein. Nur für einen kurzen Sommer. Jeder macht mal Urlaub. Hawaii, Dominikanische Republik, Kenia, Thailand, Australien. Da ist nichts dabei. Man macht es einfach. Hören Sie. Dazu braucht man keinen Mut.

Michel:         So einfach ist das nicht.

Inga:            Sie mögen keine Schokoladen-Croissants?

Michel:         Ella.

Inga:            Die kleinen netten Dinge dieser Welt. Entspannen. Loslassen. Sich frei    machen.

Michel:         Ich bin frei.

Inga:            Und weshalb liegt dann dieser Hafen wie eine Kette um Ihr Fußgelenk?

Michel:         Weshalb nennst du mich nicht Michel?

Inga:            Ich will das nicht.

Michel:         Hast du Angst ich würde dich küssen?

Inga:            Darum geht es nicht. Wir könnten gefickt haben und ich würde immer      noch Sie sagen. Sagen Sie jetzt nicht das wäre einen Versuch wert.

Michel:         Hej.

Inga:            Schon gut. Keine Sorge, wir werden miteinander klarkommen. Alle drei.   Einen kurzen Sommer lang. Dann sehen wir weiter.

Michel:         Du bist zu schnell.

Inga:            Noch ist das Konto gedeckt und ich habe die Kreditkarten. Er hat sie mir            freundlicherweise hinterlassen. Als Makler kennt man die besondere Bedeutung von Geld. Er war nuneinmal ein praktischer Mensch. Jemand anderes hätte es wahrscheinlich nicht geschafft bis in den Fluß zu kommen, das Brückengeländer zu durchbrechen. Er hatte sich im Wagen festgebunden. Ein Seil um den Hals, das ihn erdrosselt hätte bei dem         Versuch an die Oberfläche zu tauchen.

Michel:         Ein Perfektionist.

Inga:            Können Sie sich die Schmerzen vorstellen, die einer hat bevor er so etwas          tut? Ich habe ihn weinen sehen. Nur einmal habe ich George in all den   Jahren weinen sehen. Ich hätte ihn küssen können. Er saß in diesem  Rollstuhl und ließ die Tränen laufen. So weich, zart habe ich ihn nie zuvor gesehen. Waren die Tränen Trauer oder Abschied oder Verzweiflung. Ich weiß es nicht. Er hat nichts zu mir gesagt, hat kein Wort, keine Silbe zurückgelassen. Zum erstenmal war er ganz und gar ehrlich. (weint.)

(Der Geist tritt auf in einer ordenbehängten Offiziersuniform der Queen Elisabeth 2. Er hat die Tränen der letzten Zeilen mitbekommen und will sich nun die Langeweile mit ein paar kleinen Menschentränen vertreiben. Ein Schiffsunglück ist in dieser Nacht nicht mehr zu erwarten. Die See ist ruhig und außer ein paar Kursabweichungen dürfte nichts vorfallen. Zwar hatte der Geist auf einem phillippinischen Tanker eine Nachtwache mit brennender Zigarette zum Einschlafen gebracht – der Wind sang eine nette Melodie und die Wellen schlugen sanft den Takt – aber die Zigarette fiel aus der Hand in eine Wasserlache. Und verlosch.)

Der Geist:    Guten Abend. Bon Soir. Meine Dame, die Herren.

Michel:         Bitte.

Der Geist:    Konnte nicht schlafen. Einfach nicht schlafen. Und so laufe ich einige Schritte im Hafen umher.

Michel:         So.

Der Geist:    Ja.

Inga:            Sie arbeiten auf dem Schiff?

Der Geist:    So könnte man es sagen.

Michel:         Sie hat dich was gefragt.

Der Geist:    Ich antwortete.

Inga:            Ausweichend.

Der Geist:    Ich bin Offizier auf der Queen Elisabeth 2. Ich befehlige eine ganze Menge …

Michel:         Was?

Der Geist:    Ist das ein Verhör. Habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen?       Mögen Sie keine Spaziergänger in der Nacht?

Michel:         Listen…

Inga:            (fällt Michel ins Wort) Lassen Sie ihn.

Michel:         Schon gut. So´n feiner Pinkel. Eitatei.

Inga:            Könnten Sie uns Plätze auf der Queen Elisabeth 2 besorgen?

Der Geist:    (Sieht sich um) Drei Personen.

Inga:            Ich denke wir wären zu dritt.

Der Geist:    Konjunktiv.

Michel:         Zu dritt.

Guy:            Zu dritt.

Der Geist:    Eine Kabine, zwei oder drei?

Michel:         Eine Doppelkabine und eine Einzel. (Guy schaut ihn mißtrauisch an.) Für          Ella, Mann.

Der Geist:    Ich müßte schauen. Habe das nicht im Kopf. Die Daten sind im Computer.

Guy:            Das wäre quasi sowas wie last minute mit dem Schiff.

Der Geist:    Quasi.

Michel:         Wann?

Der Geist:    Morgen früh. Ab sechs Uhr, denke ich, ist der Zahlmeister auf seinem     Posten. Er hat die Listen von der Zentrale. Entweder ist alles ausgebucht oder Sie haben Glück. Herzattacke. Oder Schlaganfall. Kommen häufig vor. Gerade wenn es um lange Reisen geht. Die Aufregung. Der Streß. Was nehm´ ich mit? Was trägt man in Europa? Und solche qualvollen Fragen. Und manchen haut´s dann einfach um. Gerade dann wenn´s schön werden soll. Raus aus dem Streß und rein ins Krankenhaus. Juchhu. Oder                    schlimmer. Der Deckel wartet voller Ruh und schnappt dann über´m Köpfchen zu.

Guy:            Laß solche Sprüche. Laß sie einfach weg und wir kommen klar.

Der Geist:    So empfindsam sehen Sie gar nicht aus.

Guy:            Einfach weglassen, kapiert?

Der Geist:    Entschuldigen werde ich mich nicht, aber Rücksicht nehmen auf ihre zarte        Seele, das ist möglich.

Inga:            Wie spät ist es?

Guy:            Halb vier.

Inga:            Sechs Uhr sagten Sie.

Der Geist:    Ab sechs Uhr. Der Zahlmeister ist über dreißig Jahre im Dienst und hat   so seine Marotten entwickelt.

Michel:         Scheint wohl üblich zu sein.

Der Geist:    (wird härter in der Stimme.) Die See hat ihre eigenen Gesetze und ihren    eigenen Rhythmus. Da draußen -Mann- bist du so klein mit Hut. Dein Schiff ist ´ne Illusion. Nichts weiter. Und wenn der liebe Gott (lächelt.) es will, dann kenterst du und liegst am Boden des Meeres. Vielleicht, wenn du Glück hast, so tief, daß kein Hai dich fressen kann und der Zahn der Zeit in kleinen Schritten dich zu sich nimmt. Adieu schöne Welt.

Guy:            Scheinst auf solche Stories abzufahren.

Der Geist:    Ich sprach vom Zahlmeister und seinen Marotten, mehr nicht. Und wer die See kennt weiß, weshalb Matrosen eigentümlich sind.

Inga:            Sie scheinen sich auszukennen.

Michel:         Alter Seefahrtsadel. In weißer Uniform am Sonnendeck.

Der Geist:    Meine Familie fährt, sozusagen, seit Generationen zur See. Ein                           -Verwandter- war beim Untergang der Titanic dabei.

Inga:            Ihr Urgroßvater?

Der Geist:    So in der Art.

Guy:            Hat der alte Herr überlebt?

Der Geist:    Ja. Ja. Er hat überlebt. Hatte damals all seinen Mut zusammengenommen        und noch in letzter Minute einige Passagiere, Frauen und Kinder aus der Dritten Klasse (Pause.) – gerettet -.

Michel:         Wow, ein Held.

Der Geist:    Es war damals eine mehr als ruhige Nacht. Augenzeugen sprachen von   der ruhigsten Nacht auf See, die ein Matrose je erlebt hat. Es war nicht sonderlich hell, das Licht des Mondes blieb in dichten Wolken hängen. Die   Wasseroberfläche war so glatt, das sich am Horizont eine klare gerade Linie des Übergangs ergab.

Inga:            Gespenstisch. Hat Ihr Urgroßvater Ihnen das erzählt?

Der Geist:    Ein Passagier der Zweiten Klasse, Lawrence Beesley, überlebte und        schrieb gleich darauf ein Buch. Pathetisch, moralisch, fast widerlich. Nun ja. (holt einen Notizblock raus.) Zumindest hat er das Unglück, in wenigen Zeilen, nett zusammengefasst. Soll ich lesen? (Zieht ein altes zerfleddertes Buch, das er scheinbar stets bei sich trägt, aus der Tasche.)

Guy:            Oh Mann.

Inga:            Lesen Sie.

Der Geist:    Nun gut.„Der Kiel der Titanic wurde am 31. Mai 1911 gestreckt, und sie lief am 31. Mai 1911 vom Stapel, absolvierte ihre Probefahrt vor dem Handels-Ministerium am 31. März 1912 in Belfast, kam am  4. April in Southampton an und lief am folgenden Mittwoch, dem 10. April, mit 2208 Passagieren und Besatzungsmitgliedern nach New York aus. Am selben Tag legte sie in Cherbourg an, am Donnerstag in Queenstown, von wo sie nachmittags nach New York auslief, wo sie vorraussichtlich am nächsten Dienstag morgen ankommen sollte. Aber die Reise wurde nie beendet. Sie stieß am Sonntag um 23.45 Uhr auf einer Breite von 41 Grad 46 Minuten Nord und einer Länge von 50 Grad 14 Minuten West    mit einem Eisberg zusammen und sank zweieinhalb Stunden später mit 815 ihrer Passagiere und 688 Besatzungsmitgliedern, 705 wurden von der Carpathia gerettet.“

Inga:            Schrecklich.

Der Geist:    Nun ja. Es war die Jungfernfahrt und das Schiff war größer als alle         vorherigen Schiffe. Es wäre auch durchaus sicher gewesen, hätte dieser Eisberg nur die ersten fünf Kammern des Bugs aufgeschlitzt. Aber das Schicksal ließ den Schnitt noch bis zur sechsten Kammer gleiten. Zur entscheidenden sechsten Kammer. Die Schote im Innern wurden herabgelassen und hätten das einströmende Wasser auch aufgehalten,    wäre diese sechste Kammer unberührt geblieben. So war´s ein Tick zuviel und, nunja, die Titanic lief allmählich voll und sank.

Guy:            Klingt als wärst du dabeigewesen. Mann.

Der Geist:    Die See ist mit dem Unglück verbunden. Die Andrea Doria, die Lusitania,           die Herold of Free Enterprise, die Estonia. Die vielen Tanker. Hier, dort, überall. Die See ist hart und kleine Menschen machen große Fehler. Die Titanic hatte einfach zu wenig Rettungsboote. Sie haben nicht genügend gekauft. So spielten die Kapellen bis zum Untergang und viele standen an der Reeling und sahen auf die letzten überfüllten Rettungsboote. Dann ging´s hinab in über dreitausend achthundert Meter. Da liegt sie nun  verstreut am Meeresgrund. Der Bug, das Heck verdreht in siebenhundert                    fünfzig Meter Entfernung. Das Porzellan und Kupfertöpfe liegen da am   Meeresgrund.

Inga:            Es reicht. Wir haben schließlich eine Überfahrt vor uns.

Der Geist:    Ja, eine Überfahrt. Eine Seefahrt die ist lustig. (lächelt.)

Michel:         Wie stehen die Chancen, daß wir Plätze bekommen?

Der Geist:    Warten Sie´s ab.

Michel:         Es ist wichtig.

Guy:            Mann. (Pause.)

Michel:         Die Queen Elisabeth 2 ist der letzte Luxusliner im Liniendienst.

Guy:            Verdammt vornehmes Schiff. Bin mal oben gewesen. Kurz. Nur zum       gucken. Die kommt ja regelmäßig.

Der Geist:    Wir sind ein wenig stolz auf dieses Schiff.

Guy:            Ich hab´ mal ´nen Prospekt gesehen. Zwölf Passagierdecks, ´ne             Bibliothek, Boutiquen, ´n Theater, Swimmingpools, Sonnendecks, ein kleiner Golfplatz und ´ne Filiale vom Kaufhaus Harrods in London. Die   Crew besteht aus über 1000 Leuten.

Der Geist:    Es erwartet Sie eine fünftägige, geruhsame Transatlantiküberquerung. Viel Spaß und gute Laune. (verbeugt sich, nimmt die Mütze ab und will     gehen.)

Michel:         Moment. Wie kommen wir an die Tickets.

Der Geist:    Ich werde gegen sechs herkommen und nachsehen, ob Sie noch Interesse          an einer Überfahrt haben. Dann gehe ich zum Zahlmeister und wir werden  sehen.

Guy:            Wenn du ´ne Fliege machst, werde ich echt sauer sein. Kapiert?

Der Geist:    Kapiert. (Und verschwindet auf dem Schiff. Ein kurzer Blitz am Himmel.   Wetterleuchten.)

Inga:            Meine Herren, ich bin überrascht.

Michel:         Abwarten.

Inga:            (Ein wenig sarkastisch.) Nun nehmen die Dinge ihren Lauf. Wir werden es         nicht aufhalten können.

Guy:            Wenn man ihm trauen kann.

Inga:            Jetzt müssen wir uns trauen. Meter für Meter.

Guy:            Bist du sicher, daß du sie dabei hast. – Die Karte.

(Schaut ihn an. Nimmt die Golden American Express Card aus der Tasche.)

Inga:            Der Schlüssel zur Welt: Sesam öffne dich und der Weg sei geebnet.

Michel:         Wenn es so einfach wäre.

Guy:            Es ist.

Inga:            Ich staune. Sehen Sie.

Michel:         Wir werden sehen.

Guy:            Michel.

Michel:         Guy.

Guy:            Wir machen´s. Hau´n ab und kommen zurück oder vergammeln in fucking         europe. Wo geht´s eigentlich hin?

Inga:            Southampton.

Michel:         Ella, das weiß er.

Guy:            Neapel. Und Warschau.

Michel:         Warschau?

Guy:            Ja. Warschau.

Michel:         O.K. Warschau. Und Lissabon. Stockholm.

Inga:            Damit das gleich geklärt ist. Die Karte gehört mir, wir sind zu dritt und es           wird abgestimmt. Darüber hinaus entscheide im Zweifelsfall ich und sollte es Entscheidungen geben, die unter männlicher Überlegenheit leiden, dann habe ich ein Vetorecht.

Michel:         Wir werden schon klarkommen Ella.

Inga:            Ich sehe es als eine Art Minderheitenschutz. Mehr nicht.

Guy:            Wir werden dich nicht über´n Tisch ziehen.

Inga:            Gemeinschaften brauchen Statuten. Davon bin ich überzeugt.

Michel:         Das wäre geklärt.

Guy:            Europa. Auf der Queen Elisabeth 2. Mann, Jesus.

Inga:            Ich möchte meine Mutter sehen.

Michel:         Kannte sie George?

Inga:            Sie kannte nicht einmal mich.

Guy:            Wie lange schlaft ihr so? Also mit mir ist vor 11 Uhr nichts anzufangen.   Ist so´n Trauma. Meine Natur.

Michel:         Du schläfst jeden Tag bis 11?

Guy:            Wenn nichts anliegt.

Inga:            Wir werden sehen.

Michel:         Wenn wir dem weißen Matrosen trauen können.

Inga:            Er wird kommen. Ich habe das im Gefühl. Er war so engagiert. Mit der See verwachsen. Solche Leute halten ihr Wort.

Guy:            Mir kam der Typ mehr als spanisch vor. Total schräg. Abgedreht.            Irgendwie abgedreht. Uniformen verderben den Charakter. Das war so´n      Katastrophen-Freak. Voll drauf mit Titanic und so. Solche Typen sitzen   tagelang in Bibliotheken und recherchieren. Der Typ kennt mit Sicherheit die komplette Gästeliste der Titanic auswendig.

Inga:            Ist die Queen Elisabeth 2 sicher?

 

Michel:         Nun ja, Sie ist nicht gerade taufrisch. Aber sie kommt Woche für Woche.            Also bisher.

Guy:            Bei solchen Typen läuft´s mir kalt am Bein runter. Gänsehaut und so. Böse         Vogelzeichen. Ohne den an Bord wäre mir wohler.

Inga:            Tiritanga, Tiritonga.

Guy:            Hey.

Inga:            Schon gut. Was soll´s. Wer nicht wagt … Das ganze Leben ist ein Risiko.           Vielleicht wird morgen genau an dieser Stelle (zeigt auf Guy) einer erschossen. Na und? Kaum gefallen und schon vergessen.

Michel:         Und George?

Inga:            Lassen Sie ihn ruhen. In mir ist nichts. Kein Gefühl. Keine Traurigkeit.      Nichteinmal ein Loch.

Guy:            Ella, du wirst doch nicht etwa froh sein?

Inga:            Auch das. Und das. Ich liebe ihn wie nichts anderes auf dieser Welt. Er ist          ein Teil von mir.

Guy:            Er ist tot.

Inga:            Eben.

Michel:         Hör auf. Mann. Mir wird. Tod, Titanic, Europa. Inga, tu das nicht. Das ist       ein verdammt schmaler Grad. Du mußt dir den Schmerz nehmen, sonst wird er dich verfolgen. Und auffressen. George ist tot.

Inga:            Nun hat die liebe Seele Ruh´.

Michel:         Laß George, George sein. Verstehst du.

Inga:            Sie nannten mich Inga.

Michel:         Es geht um dich.

Inga:            Es geht um eine lange Reise. Ins Europa der Möglichkeiten. Ins Europa der Geschichte, des Schreckens, der Lust. Sie haben die Grenzen aufgehoben und wollen sich eine gemeinsame Währung geben.

Michel:         Das hat nichts mit dir zu tun. Nichts mit Menschen. Keine Ahnung           weshalb sie das machen. Fuck. Grenzen sind wichtig. Es ist nicht alles eins.  Du mußt wissen wo es anfängt und wo es aufhört. Frankreich ist nicht Deutschland ist nicht Luxemburg und George ist nicht Inga.

Inga:            Ella gefällt mir besser.

Michel:         Du bist Inga.

Inga:            Ist näher dran. An dir. Michel.

Michel:         Du bist verrückt.

Inga:            Durcheinander. Am Ende voller Hoffnung.

Guy:            Teile der Titanic wurden geborgen. Es gibt Fotos vom Wrack. Da liege    ich unten und ein Portrait der Wasserleiche Guy de Maupassant erscheint in der New York Times und in der Washington Post. Über mir liegt der fette Anker und die Fische nagen an meinen Knochen wie an einem Hühnchen. Und irgendwelche Verrückten werden meinen Namen auswendig lernen. Dann heißt es nicht mehr: Ah, Maupassant , der Dichter. No. Ah, Maupassant, der schwarze Boxer unter´m Anker.

Michel:         Du wirst es noch herbeireden.

Guy:            Es gibt Stellen im Meer, die werden zu Seefriedhöfen erklärt. Du stehst   vorne am Bug und weißt, hier ist es. Das Schiff durchschneidet das Wasser und die Seelen ziehen am Metall.

Michel:         O.K. Es ist gut. Wir haben jetzt verstanden. Erspar´ uns weitere   Einzelheiten. Du wirkst wie verzaubert. So ist das mit lausigen Boxern. Irgendwann haben sie in ihrer weichen Birne vor allem Angst und die Dinge verschwimmen zu nebulösen Gespenstern.

Guy:            Oh, danke.

Michel:         Sorry.

Inga:            Ich habe keine Angst mehr, es läßt sich nicht aufhalten.

Michel:         Als ich vom Untergang der Estonia hörte, von den vielen Menschen, der             dunklen Nacht, den hohen Wellen, den hoffnungslosen Rettungsversuchen, da war mir tagelang unwohl hier im Hafen. Ich habe dem Meer die Schuld gegeben, der mörderischen mit Salz versetzten H2O Brühe. Kam nicht auf den Gedanken, daß der Untergang was mit   Menschen zu tun hat, daß die gleiche Spezie, die da ersoffen ist, selbst     Schuld war. Es kommt alles zusammen. Die Natur. Die Natur und die Natur des Menschen. Wenn ich nur wüßte, was diese verfickte Natur des Menschen ist? Wer sind wir? Mann, ich frage nicht weil ich so ein verdammter Philosoph sein will, ich frage das, weil ich wissen will was hier los ist. Was ist das für ein Spiel in dem wir hier jahrelang am Hafen sitzen und irgendwie verbunden sind mit der ganzen Welt. Das zieht sich wie ein Geflecht, wie eine chemische Verbindung durch alles hindurch. Und der Mensch ist auch fast nur Wasser. Und dann kommst du und willst uns über dieses Wasser nach Europa bringen. Und George ist in         diesem Wasser gestorben. Da gibt es Verbindungen, die mir nicht klar sind. Ihr müßt mich verstehen. Oh Gott.

Guy:            Du wirst es nie kapieren. Wir haben da keine Chance. Es geht nur darum             irgendwie durchzukommen. Mann. Was ist das für ´ne Nummer. Mir wird ganz schlecht. Hier löst sich alles auf. Diese Frau auf der Estonia, du weißt Michel, die für ihren Freund gefahren ist. Seinen Dienst übernommen hat. Diese Scheiß-Geschichte. Die fast rausgekommen wäre, kurz bevor das Schiff kenterte. Sich an ´nem Geländer hoch zum Ausgang hangelte. Diese Schwedin. Aus Stockholm. Und kurz bevor sie es geschafft hätte kommt so´n besoffener aus ´ner Kabine gestürzt und reißt sie mit sich. Scheiße.

Inga:            Es läßt sich nicht aufhalten. Es läßt sich nicht aufhalten.

Guy:            Ihr Freund hat die Kohle ihrer Lebensversicherung bekommen. Weshalb   hinterlassen Tote eigentlich Geld?

Michel:         Guy.

Guy:            Er hat ´nen Suchboot mit ferngesteuertem Tauchboot gechartert, um die           Leiche heraufzuholen. Die Schweden wollten das verhindern. Haben die Polen unter Druck gesetzt, damit sie dem Kerl kein Marineboot zur Verfügung stellen. Hat dann in Hamburg eins gefunden und wäre fast von der schwedischen Marine gerammt worden an genau der Stelle. Stand in der Zeitung. Sollte wohl alles keinen Wirbel geben.

Michel:         Hör auf Guy.

Inga:            Tand. Tand. Wir haben nichts hier, um auf unsere bevorstehende Reise   anzustoßen. Der Blick sollte jetzt nach vorn gerichtet sein, nicht nach unten. Ich freue mich wie ein kleines Kind. Laßt uns vergessen. Passé die Vergangenheit. Die Estonia, George, die Schwedin. Es ist alles in Ordnung auf dieser Welt. Wir haben nicht den geringsten Grund beunruhigt zu sein. Die Queen Elisabeth hat genügend Rettungsboote. Die Welt wird in         jedem Winkel von Satelliten überwacht. Es ist nicht ein Schiff in der Nähe, es sind hunderte. Mit großen und schnellen Motoren, die der Zeit den Hals abschneiden. Save our Souls.

Michel:         Schokoladen-Croissants.

Guy:            Frisch gepreßter Orangensaft.

Michel:         Weichgekochte Eier.

Guy:            Bacon and eggs.

Michel:         Camembert et Baguette. Bordeaux et Côte de Rhone.

Guy:            Frische, knusprige Cornflakes.

Michel:         Vorspeisen am Abend.

Guy:            Saftige Steaks. 200 Gramm. Mindestens.

Michel:         Vielleicht ein kleines Gläschen Vieuve Cliquot.

Guy:            Zur Einstimmung.

Michel:         Pasta.

Guy:            Mit Lachs.

Michel:         Oder Krabben.

Guy:            Hummer. Garnelen. Langusten.

Michel:         Und wenn´s uns stinkt, ab zu Mc Donalds.

Guy:            Mc Donalds europe?

Michel:         Taste it. In Paris oder Wien. In Moskau oder Madrid.

Guy:            Wow. Hört sich an wie im Traum. Guy in Wonderland.

Inga:            Und wie steht´s mit Kultur?

Guy:            Klar. Täglich ab 11.

Inga:            Vielleicht mieten wir uns eine Wohnung.

Michel:         An welches Land denkst du?

Inga:            Deutschland.

Guy:            Wir sind schwarz.

Inga:            Sie sind keine Monster.

Michel:         Na, hoffentlich wissen sie das.

Inga:            Wenn es uns nicht gefällt, können wir jederzeit gehen.

Michel:         Sofern sie aus uns keine Asche gemacht haben. War ´n Joke. Werden schon klarkommen. Inga.

Inga:            Du sollst mich Ella nennen. Los.

Michel:         Inga.

Inga:            Komm.

Michel:         Ella.

Inga:            Oh.

Michel:         Tja.

Inga:            Michel.

Guy:            Und was wird aus mir?

Inga:            Du natürlich auch.

Michel:         Er auch? Der ist Boxer.

Inga:            Guy.

-Vorhang-

 

III. Akt

Inga, Guy und Michel stehen eng beieinander. Es ist kurz vor sechs und sie sind alle drei durchgefroren. Trotzdem sind sie bester Laune in der Vorfreude auf die Reise. Der Geist kommt mit Sonnenbrille von der Queen Elisabeth herab, bald wird der Tag anbrechen und die ersten Sonnenstrahlen würden in seine Augen fallen. Der Geist fühlt sich im Dunkeln, in der Nacht wohler.

Der Geist:    Bon Jour. Hatten sie eine angenehme Nacht?

Michel:         Was ist mit den Tickets?

Der Geist:    Ich habe kein Auge zugetan. Ich weiß nicht, irgendwie war mir langweilig.         Nicht, daß mich etwas gequält hätte. Mitnichten nein. Es war einfach das trostlose Gefühl der Langeweile. Kennen Sie das?

Guy:            Sehr gut, aber jetzt geht es nach Europa. Up an away. Keine Langeweile.            Fun. Abenteuer. Kultur. Neapel. Verstehst du? Andere Völker. Leute, die die Dinge einfach anders sehen. In Neapel sitzen sie die halbe Nacht auf der Straße und quatschen. Über dies und jenes. Und die Alten gehen in die Kirche und beten.

Der Geist:    Das ist nett.

Guy:            Das ist Neapel.

Michel:         Ich sag dir, die Neapolitaner tun nur so, als würden sie beten.

Guy:            Er fängt schon wieder an.

Inga:            Was ist mit den Tickets?

Der Geist:    Gut. Ich werde zum Zahlmeister gehen und wir werden weitersehen. Ich    brauche einen Scheck oder eine Kreditkarte.

Michel:         Moment. Und woher wissen wir, daß du uns nicht linkst?

Der Geist:    Vertrauen ist der Anfang aller Überfahrt.

Michel:         Ich komme mit.

Der Geist:    Das ist gegen die Vorschriften. Sie haben weder ein Ticket, noch gehören           Sie zur Besatzung. Hören Sie, was ich hier tue, ist ein Gefallen. Freundlichkeit. Reine Freundlichkeit. Verstehen Sie? Ich muß nicht zum Zahlmeister gehen und versuchen, eine Überfahrt für Sie zu besorgen. Ich kann auch ganz einfach wieder auf das Schiff gehen, als   hätten wir uns niemals gesehen. Über das Meer und weg.

Inga:            Schon gut. Ich vertraue ihnen. Hier ist die Karte, bitte tun Sie alles, was in          Ihrer Macht steht.

Der Geist:    Madame. (Nimmt die Karte und verschwindet auf dem Schiff.)

Michel:         Ich traue ihm einfach nicht. Trickbetrüger sehen immer aus wie feine        Pinkel. Das ist ihr Trick. Sehen aus, als hätten Sie Kohle satt. Dollars in allen Taschen. Aber hinter der Fassade sieht es trüb aus. Man bescheißt nicht, wenn einer einem vertraut. Das ist der Anfang von …

Guy:            Red nicht, entspann dich. Sei locker.

Michel:         Cool. (Genervt.)

Guy:            Es gibt hier kein Problem. Er wird kommen und er wird die Tickets in der           Hand haben. Schlimmstenfalls müssen wir zu dritt in eine kleine Kabine. Hey Mann, ich fühl´ sowas. Bleib locker.

Michel:         Und wenn er nicht kommt, was machen wir dann?

Guy:            Dann war alles nur so ein Scheiß Schachzug des Schicksals. Ein Zeichen.          Wir sitzen schon zu lange in diesem Hafen und sehen nur zu. Das nennt man Passivität. Davon wird man alt. Senil. Zerbrechlich. Unausgeglichen. Faltig. Und obendrein fängt man an zu stinken.

Michel:         Ich stinke nicht.

Inga:            Doch, du stinkst.

Guy:            Sag ich doch.

Michel:         Moment.

Inga:            Für mich ist das kein Problem. Wirklich nicht. Schön, eine kleine Kabine wäre mir dann zu eng. Ich meine, wenn wir zu dritt in einer solchen Kabine fahren müßten. Aber auf See kann man sehr viel Zeit an Deck verbringen. Über das Meer schauen.

Michel:         Das hat mir noch niemand gesagt.

Inga:            Es fällt nur auf, wenn man näher kommt. Es ist in keinem Fall abstoßend            oder ekelerregend.

Guy:            Du trägst immer die gleichen Klamotten. Deinen Lieblingspullover, dein   Lieblingsjackett, deinen Mantel.

Michel:         So kann ich nicht nach Europa.

Guy:            Natürlich.

Michel:         Mir vergeht die Lust auf´s Reisen.

Guy:            Erst rumstinken und dann eingeschnappt sein.

Michel:         Bin ich nicht.

Guy:            Sondern?

Michel:         Ach. Und was ist eigentlich mit dir?

Guy:            Ob ich stinke? Mann, ich war Boxer.

Michel:         Du bist Boxer. Das bleibt man.

Guy:            Sportler sind sauber. Kennen ihren Körper. Wissen was Schweiß ist. Nur             Intelektuelle haben da ein Problem. Kennen ihren Körper eben nicht. Leben im Kopf und in Gedanken. Einfach ab von der Welt.

Michel:         Bin nicht intelektuell.

Guy:            Nein?

Michel:         Nein.

Guy:            Für mich schon. Kenn´ zwar nicht viele, also eigentlich nur dich, aber du bist intelektuell. Also positiv. Deshalb ist es mit dir auch nicht langweilig. Hast was in der Birne. Manchmal ziemlich vertrackte Sachen …

Michel:         Was für vertrackte Sachen, verdammt nochmal?

Guy:            Hei, hei, hei. Gleich tickt er aus. Laß´ gut sein. Is´ in Ordnung.

Inga:            Sehr interessant. Vieles scheint zwischen euch beiden existentiell            ungeklärt zu sein. Das kann ja heiter werden.

Michel:         Was für vertrackte Sachen, Guy?

Guy:            Dein Weltproblem. Diese politische Sache. Religionen, Herrschaft,          Unterdrückung. Islam und Judentum. Radikalismus und solche Geschichten.

Michel:         Du wirfst alles durcheinander.

Guy:            Sag ich doch, du bist intelektuell.

Michel:         Ich interessiere mich für die Welt. Na und?

Guy:            Tue ich auch, aber anders.

Inga:            Und wie?

Guy:            Zum Beispiel … Mir fällt nichts ein. Doch, zum Beispiel Neapel.

Michel:         No.

Guy:            In der Fantasie. Höre hier was, ein Matrose erzählt, die Ladung eines       Frachters wird gelöscht. Das sind Bausteine. So´n Puzzle. Daraus entsteht ´n Bild.

Michel:         Und deshalb stinkst du nicht?

Guy:            Ich komm´ aus ´ner ander´n Ecke. Sportler duschen. Lieben billiges         Duschgel. Cool and fresh. Deostick unter´n Arm und ab die Maus.

Michel:         Und ab die Maus.

Guy:            Yes, Sir.

Inga:            Radikalismus. Islam. Judentum.

Guy:            Wenn er am Abend in den Hafen kommt, hat er die New York Times        gelesen. Faszinierend. Er liest sie jeden Tag. Kennt sich aus.

Michel:         Und stinkt.

Guy:            Michel, man kann nicht alles haben. So läuft das.

Michel:         Michel, man kann nicht alles haben. So läuft das.

Guy:            Wäre auch beleidigt. Verständlich.

Michel:         Danke für das großzügige Mitgefühl.

Inga:            An Bord gibt es Duschen. Wir kaufen ein paar Sachen zum Anziehen.      Zahnbürsten. Rasierzeug.

Michel:         Deostick. Cool and fresh.

Inga:            Meinetwegen. Was hat das mit dem Islam, dem Judentum und dem        Radikalismus auf sich?

Michel:         Ich suche nach Lösungen. Mehr nicht. Gedankenmodelle. In New York     City sitzen die Vereinten Nationen. Ich sehe die Schiffe kommen und gehen und mit den Jahren wechseln die Flaggen dieser Schiffe ihre Bedeutung. Alles wandelt sich. Erst gab es Ost – West, dann Nord – Süd und mittlerweile spielt jeder gegen jeden. Die Weltformel kriegt immer mehr Parameter. Aus Konstanten werden Variablen. Das Schlimmste ist, es blickt keiner mehr durch. Da sind Spezialisten am Werk, die Nobelpreise für ´ne Lösung auf ihrem Spezialgebiet kriegen, aber keiner weiß, was die anderen so machen. Wo man sich zusammentun könnte, um was zu erreichen. Stattdessen sind alle Komkurrenten, weil es um Märkte geht. Ob Rinderwahn oder AIDS, jeder will seine eigene vermarktbare    Lösung. Es geht um Sahnehäubchen. Schokoladencroissants.

Guy:            So geht das tagelang. Klar versteh´ ich, was er meint. Nicht total aber     irgendwie. Was soll´s, ich höre total gern zu. Klingt gut, wenn er in Fahrt ist sogar bombastisch. Absolut überzeugend.

Michel:         Du kannst mich am Arsch lecken.

Guy:            Du mich auch.

Inga:            Dann seid ihr euch ja einig.

Guy:            Ja.

Michel:         Ist es richtig unangenehm? (Riecht an sich.)

Inga:            Nein.

Michel:         Gut.

Inga:            Hast du eine Lösung?

Michel:         (Grinst.) Love, Peace and harmony.

Guy:            Sex and drugs an Rock´n Roll.

Inga:            Im Ernst.

Michel:         Manchmal denke ich, es braucht einfach seine Zeit. Die Sache mit der     Aufklärung, dem Vernunftwesen und so weiter ist mal gerade zweihundert fünfzig Jahre alt. Also wenn wir es schaffen, bis zum kompletten Durchsickern der Theorie am Leben zu bleiben, dann gibt es sowas wie ´ne echte Chance. Dann könnte es sogar paradiesisch werden. Weil es plötzlich sowas wie ´nen Freundlichkeitsgen geben würde.             Freundlich sein wäre dann rein evolutionstechnisch ´nen echter Sprung,  weil gleichzeitig jede Menge Streß abgebaut würde.

 

Inga:            Das ist doch Unsinn.

Michel:         Alles ist Unsinn. Du fängst an zu denken und schon bist du die erste      Runde im Kreis gefahren. Natürlich ist Freundlichkeit kein Argument.   Stell´dir Ghandi in Bosnien vor.

Inga:            Also gibt es keine Lösung.

Michel:         Keine denkbare.

Inga:            Die Welt wird eines Tages untergehen.

Michel:         Oder sie wird zum Paradies.

Inga:            Mit neuen Schlangen.

Michel:         Du kannst es sehen wie du willst. Ja. Nein. Vielleicht. Nunja, das mit dem Paradies kann man wohl vergessen, aber es könnte sein, daß das Fernsehprogramm besser wird.

Inga:            Im Ernst, mich interessiert ob eine Lösung denkbar werden könnte.

Michel:         Alles hängt ab vom Individuum und den katastrophalen Auswirkungen     von unberechenbaren Biorhythmen. Gesundheitszuständen. Nervensituationen. Die wiederum stehen im Zusammenhang mit  gesellschaftlichen Tendenzen. Mit Kohle zum Beispiel, wieviel Geld hat der Einzelne für sein kleines Glück.

Inga:            Es dreht sich alles um materielle Einheiten.

Guy:            Geht das so den ganzen Sommer in Europa?

Michel:         Guy.

Guy:            Schon gut. Kein Problem.

Michel:         Die finanzielle Absicherung ist ein Gefühlseffekt. Sie gibt Sicherheit und             Wohlbehagen. Menschen mit Geldsorgen leiden unter Dauerstreß.  Zumindest in unserer Welt, in der man als Obdachloser irgendwo vor die Hunde geht. Du mußt Miete zahlen und so weiter. Mann. Dazu kommt  der Faktor der individuellen Wertigkeit. Gleichberechtigung. Liberté,  Egalité, Fraternité. Wenn die Dinge parallel ein gewisses Niveau erreichen,  dann könnte es echt lebenswert werden. Natürlich abzüglich der            Arschlöcher und Idioten, die einfach immer und überall rumlaufen.

Inga:            Und was hat das alles mit dem Islam, dem Judentum und dem    Radikalismus zu tun?

Guy:            Du schaust dem Gegner tief in die Augen. Schlägst ihm einfach voll in die          Fresse. Super Wirkung. Bis er wieder aufsteht und dir tief in die Augen         schaut.

Inga:            Ich bewundere Menschen mit Religion, weil sie Prinzipien haben. Fest an etwas glauben. Aufrichtig. Denen ist nicht alles egal. Gleichzeitig finde ich Religion abstoßend. Sie ist brutal und anmaßend.

Guy:            Laß´ gut sein Ella. Du bist wichtig. Die anderen müssen mit sich selbst   klarkommen.

Inga:            Nein, Guy. So einfach ist es nicht.

Guy:            Moment. Du kommst hierher, redest von Europa, davon sich aufzuraffen,           den Arsch hochzukriegen. Alles ganz easy. Und jetzt sagst du, so einfach ist es nicht?

Inga:            Gehen ist eine Seite, verändern eine andere.

Guy:            Inga, Mann, ich bin nicht mehr der von gestern Abend. Ich …

Inga:            Ich …

Michel:         Oh Gott. Wir reden über die Welt und kommen kaum mit uns selbst klar.

Inga:            Doch.

Guy:            Na klar. Was kann schon passieren. Wird mir doch keiner den Platz hier wegnehmen. Wer will schon nachs im Müll sitzen und auf Schiffe schauen. Kann einfach zurückkommen und hier weitermachen. Interessiert doch  niemanden, wo der alte Guy de Maupassant abgeblieben ist.

Inga:            Deine Kinder.

Guy:            Werde Postkarten schicken. Schöne, bunte Postkarten. Verstehst du.

Inga:            Und deine Frau

Guy:            Weiß nicht.

Inga:            (Zu Michel.) Und deine?

Michel:         Bin grad solo. War schon immer solo. Weißt du, ich stinke.

Guy:            Na, jetzt ist es raus.

Michel:         Endlich. Dann können wir ja jetzt fahren.

Guy:            (Sieht den Geist vom Schiff kommen.) Frühstücken.

Der Geist:    Sie haben Glück. Ein Schlaganfall und ein Verkehrsunfall auf dem Weg   hierher. Allerdings sind es nur zwei Einzelkabinen.

Guy:            No.

Inga:            Das bedeutet?

Der Geist:    Einer von Ihnen bleibt hier.

 

Inga:            Das kommt nicht in Frage. Verstehen Sie, wir müssen zu dritt und zwar    ausschließlich zu dritt über den Atlantik.

Der Geist:    Wir leben in einer modernen Zeit. Sie könnten, zum Beispiel, fliegen        Madame.

Michel:         Guy und ich teilen eine Kabine.

Der Geist:    Oh. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich um Dritte    Klasse Kabinen handelt. Nicht sehr geräumig. Fast spartanisch.

Guy:            Wir kommen schon klar.

Der Geist:    Selbstverständlich ist es auf einem Schiff wie der Queen Elisabeth 2 nicht          üblich, auf diese Weise zu verfahren.

Inga:            Sie werden durch uns keinerlei Unannehmlichkeiten erfahren.

Der Geist:    Gut, angesichts der Situation werden wir eine Ausnahme machen. Können. Für die Passage, Service und Verpflegung müssen Sie selbstverständlich einen entsprechenden Betrag entrichten. Bequem wird die Kabine unter diesen Umständen nicht sein, aber das ist Ihre Sache. Die notwendigen Formalitäten werde ich beim Zahlmeister für Sie erledigen. Dazu brauche  ich Ihre Pässe.

Michel:         O.K.

Guy:            Gut.

(Alle drei kramen ihre Ausweise hervor. Michel hat seinen Ausweis im Portemonnaie in der Hosentasche. Inga in der Innentasche ihres Ozelotmantels und Guy in einem Brustbeutel unter seinem Pullover. Inga sammelt die Dokumente ein und gibt sie dem Geist.)

Der Geist:    Merci. Ich werde Sie rufen, wenn alles erledigt ist. Bis später. (Geht.)

 

Inga:            Geschafft.

Guy:            Bin überwältigt. Ein großer Tag.

Michel:         Ich trau dem Kerl nicht.

Inga:            Michel. Sei fröhlich. Wir werden den Atlantik überqueren.

Guy:            Einen kurzen, langen Sommer … (Tänzelt vor Freude. In Boxermanier.)

Inga:            (Zu Guy.) Darf ich bitten. (Faßt ihn an die Hände. Summt den Kaiserwalzer und führt Guy im Walzerschritt. Ruft in den Morgen.) Europa, wir kommen. Wir kommen. (Dreht immer schneller. Läßt los und fällt Michel in die Arme. Faßt ihn mit beiden Händen am Kragen.) Hab’ Vertrauen. Wir werden ehrlich sein. Spaß haben.

Michel:         Inga.

Inga:            Michel.

Michel:         Und die Geschichte macht doch Sprünge. Wäscht ihre Kinder. Ich bin     glücklich. (Lauter.) Ich bin glücklich. (Schreit.) Ich bin glücklich.

Guy:            Hey, Mann.

Inga:            Es ist …

Guy:            Unbeschreiblich. Einfach unbeschreiblich.

(Der Geist taucht oben an der Reeling auf und ruft hinunter.)

Der Geist:    Ihr Abenteuer kann beginnen. Kommen Sie. Die Formalitäten sind erledigt. Ich begrüße Sie an Bord der Queen Elisabeth 2. (Lächelt.)

Guy:            Jesus.

Michel:         Allons enfant …

Inga:            (Schnappt sich Michel, hakt ein und geht auf das Schiff.) Komm, Guy.

Guy:            Moment. (Geht in seine Ecke. Faßt alles nochmal an und verabschiedet sich.) Einen kurzen, langen Sommer … (Geht in Richtung Schiff und schreit seinen Schrei.)

(Während Inga, Michel und Guy auf das Schiff gehen, steht der Geist an der Reeling und lächelt hoffnungsvoll.)

-Vorhang-

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen. Die Rechte der Aufführung liegen bis auf weiteres beim Autor. Dieser Text gilt bis zum Tage der Uraufführung als nicht veröffentlicht im Sinne des Urheberrechtsgesetzes.

 

 

 

WEINEN UM LUCIE

Köln • März 1995

Personen:

Grasberg
Müller
Wächter

Der Ort der Handlung ist ein Zimmer in einem kleinen Haus, wie es in Schrebergärten steht. Das Häuschen befindet sich am Rande einer Kleingartenkolonie, die wiederum am Rande einer großen Stadt liegt. Zu dem Haus gehört ein Kartoffelacker, der ca. einen Viertel Hektar groß ist, und ein angebauter Schuppen.

Die Gärten sind eine Art eingezäunter Oase. Umgeben sind sie von umgepflügten Äckern. Aus der nahegelegenen Wohnhochhaus-Siedlung führt ein asphaltierter Weg quer durch die Felder zur Kleingartenkolonie. Hohe Strommasten führen Kabel über die Felder hinweg in die Stadt. Eine Autobahn und eine Eisenbahnstrecke liegen nicht weit entfernt. Am Horizont ist eine Fabrik (Raffinerie, Kraftwerk) zu sehen, an deren Schornsteinen (Kühltürmen) bei Nacht rote Warnlampen blinken.

Das Zimmer hat zwei Türen und ein Fenster, durch welches ein Teil des Kartoffelackers zu sehen ist. Eine Tür führt nach draußen und hinter der anderen Tür liegt eine kleine Küche und ein noch kleineres Schlafzimmer. Die Einrichtung besteht nur aus dem Notwendigsten. Die Wände sind tapeziert. In dem Häuschen leben Grasberg (eine Frau) und Müller (ein Mann) seit dem Frühjahr. Nun ist Herbst und auf dem Kartoffelacker blüht noch das Kartoffelgrün.

(MÜLLER sitzt in Gedanken versunken in einem Sessel. Er trägt einen längsgestreiften Schlafanzug. Auf dem Tisch stehen eine Teekanne, eine Teetasse und ein Schüsselchen Pudding. Daneben liegt die Tageszeitung. GRASBERG, die schon gefrühstückt hat, möchte gerne abräumen, damit sie spülen kann. Sie will in den Garten.)

MÜLLER: Die Seele, wenn du mich nach der Seele fragst! Sie ist ein Tier. Mit einem warmen Fell und riesigen Krallen. Du Tier. Sie zerbricht das Gesehene in Schmerz und Schrei und hüllt alles Gewesene dann in einen Mantel aus Wolle. Wie fern das Gewesene. Wie nah die Seele. Und gelogen ist die Wahrheit wenn sie vor den Augen erscheint. Ein kurzer Weg voll von Lüge, von schmerzender warmer Lüge.

GRASBERG: Du sollst deinen Pudding essen und aufhören zu faseln.

MÜLLER: Erst die Zeitung lesen, dann den Pudding essen.

GRASBERG: Nein, umgekehrt. Zuerst den Pudding essen, dann Zeitung lesen.

MÜLLER: Wir haben lange nicht mehr miteinander geschlafen. Habe meine Zunge
lange nicht in deinem Bauchnabel vergraben.

GRASBERG: Du hast deine Zunge nie in meinem Bauchnabel vergraben und wir haben nie miteinander geschlafen. Ich bin eine Freundin, keine Geliebte du alter Trottel. Du guckst mir auf den Arsch wenn ich aus dem Zimmer gehe und dann wichst du. Mehr ist nie gewesen.

MÜLLER: Ich habe dir in einem Traum den Kopf in die Möse gesteckt.

GRASBERG: Es gibt kein Zurück und ich frage dich nicht nach der Seele. Ich bin ge-
kommen, weil du mich brauchst und weil ich einen Menschen brauche. Irgendeinen Menschen. Der Nähe wegen. Der Wärme wegen. Gegen die Langeweile. Und ich brauche diesen Menschen, damit er mich in Ruhe läßt. Du sollst nur da sein und deinen Pudding essen. Laß die Seelen. Laß mich. Iß!

MÜLLER: Ich will aber zuerst Zeitung lesen. Will wissen was geschehen ist. Wir leben so zurückgezogen. Ich wollte niemals an den Rand der Stadt. Du wolltest hierher. Weg vom Dreck. Und nun leben wir hier in dem Müll. Du hast uns in die Einsamkeit gebracht.

GRASBERG: Als wir im Frühjahr herkamen blühten die Gärten.

MÜLLER: Und nun ist Herbst, und die Kälte reicht nicht einmal den Boden gefrieren zu lassen. Nur Matsch. Nasser Matsch.

GRASBERG: Du glaubst in der Stadt sei es anders?

MÜLLER: Dort leben Menschen. Man kann ihnen zuschauen, wie sie über die Straßen gehen. Bist du allein, bist du ein Tier. Krümmst dich, zeigst die Zähne. Das Fell verkommt. – Der Sommer war schön. Die Tage auf der Terasse. Die Nächte nackt bei offenem Fenster. Manchmal standen wir auf, der Hitze wegen. Tranken kühlen Wein. Dann begehrte ich dich und wollte deinen verschwitzten Körper lieben. Da lebte ich und die Gedanken hatten die Farben des Sommers.

GRASBERG: Laß!

MÜLLER: Es sind deine Augen. Bei jedem Menschen sind es die Augen. Bei dir sind es Hölle und Erde. Das Moos einer Seele und der Asphalt des Abgrunds. Hebst du die Hand und sagst nur ein Wort, dann fallen die Helden oder ein Schaf verliert mit Freude den Kopf.

GRASBERG: Was auch passiert und was auch alles passiert sein mag, ich habe weder Himmel noch Hölle in mir. Eine Sehnsucht nach Ruhe und Freundlichkeit. Ich würde dich küssen, wüßte ich den Abgrund zwischen uns zu überwinden. Niemals ist ein Mensch zu einem Menschen gegangen. Niemals.

MÜLLER: Ich weiß von der Möglichkeit eines solchen Gangs.

GRASBERG: Du sprichst von uns?

MÜLLER: Vielleicht. Ich weiß es nicht. Das wechselt von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick. Dann fühle ich die Enge meiner Haut, dann die Weite meiner Gedanken. Der Weg zum Wasser ist stets voller Hoffnung.

GRASBERG: Du solltest dich nicht an mich gewöhnen.

MÜLLER: Du solltest stark sein und dir glauben.

GRASBERG: Ich brauche nicht zu glauben. Ich brauche nicht zu denken. Ich habe
nichts zu vergessen. Es ist wie es ist. Und es kommt wie es kommt.

MÜLLER: Wo ist mein Bademantel?

GRASBERG: Am Haken.

MÜLLER: Danke. (Nimmt den Bademantel vom Haken. Zieht ihn an.)
Letzte Nacht habe ich eine Flipperkugel gehört. Sie rollte über die Spielfläche, bekam neue Stöße von den Spielarmen, schlug gegen das Glas und holte eine Menge Punkte. Ich hörte nur die Kugel. Plötzlich spürte ich, daß mein Körper von Erde umgeben war. Es war warm, fast heiß. Dort lag ich im Innern der Erde und versuchte mich zum Licht zu graben.
Die Bewegung geht immer nach oben. Als ich mich aus der Erde gegraben hatte, kam ich in ein Büro, wo mich zwei Männer auf einen Stuhl fesselten. Ich sagte, ich hätte es nicht getan. Wäre nicht dort gewesen. Wäre niemals dort gewesen. Dann nahmen sie einen Stock und brachen mir das Nasenbein. Einer löste mir die Fesseln und einer montierte breite Lederriemen auf einen Holztisch. Ich spürte eine Kraft in mir und schlug dem,
der die Fesseln gelöst hatte, die Faust ins Gesicht. Dem anderen sah ich in
die Augen, zwischen die ich den Stock schlug, mit dem sie mich geschlagen hatten. Zum Schluß tötete ich beide und stopfte sie in das Erdloch, aus dem ich gekommen war.

GRASBERG: Iß jetzt deinen Pudding. Ich will spülen. Der Tag braucht seinen Rhythmus.

MÜLLER: Kannst du nicht einmal versuchen mich zu verstehen? Dich für mich zu interessieren? Wir schüren unsere Einsamkeit wenn wir aneinander vorbeileben. Sag mir, was solche Träume zu bedeuten haben.

GRASBERG: Ich bin nicht mehr einsam. Ich lebe hier mein Leben neben deinem Leben. Du versuchst alles zu erklären, zu benennen. Versuchst in allem einen Sinn zu finden. Wenn du träumst, dann träumt dein Körper und es träumt dein Innerstes. Und sie träumen, weil du sie verwirrst, weil deine Grübeleien alles in dir verknoten. In der Nacht haben sie dann viel Arbeit die Knoten zu lösen, um sich frei zu fühlen. Du arbeitest gegen dich selbst. Dein Körper und dein Innerstes, sie sind am Morgen zu müde dich durch
den Tag zu tragen. So lassen sie dich fallen und du grübelst weiter in
deinem vermeintlichen Unglück.

MÜLLER: Was fühlst du, wenn du mich siehst?

GRASBERG: Trockenheit. Eine Wüste. Die Vorstadt. Alles, was sich nicht ändern läßt.

MÜLLER: Alles läßt sich ändern. Wenn man will.

GRASBERG: Willen ist nicht, wenn man es will. Willen ist, wenn es kommt. Wenn es sich über dich hermacht, um dir zu sagen die Zeit ist reif. Jeden Tag, den wir hier verbringen, in der lausigen Kälte einer Kleingartenkolonie, ist verschenkt, ist ein trostloses Abwarten. Ein Dahinsiechen, ein Ermorden aller Gefühle. Aber wir sind hilflos, weil wir uns ausgeliefert sind.

MÜLLER: Du brauchst nur ja zu sagen. Ich trage dich mit den Kräften meiner Hände.

GRASBERG: Zum letzten Mal, iß jetzt deinen Pudding, oder ich werfe ihn weg.
Ich brauche diese Ordnung um existieren zu können.

MÜLLER: Ich habe dir angeboten dich mit den Kräften meiner Hände zu tragen.
Ich habe dir angeboten …

GRASBERG: Ich habe es dir gesagt. (Hat den Pudding genommen und ihn samt Teller
in den Mülleimer geworfen)

MÜLLER: (Steht auf, geht zum Fenster)
Als deine Schwester gestorben war, hörte es auf in mir zu leben. Da war nichts mehr. Meine Liebe galt einem kalten Stein und der Erinnerung an diesen hölzernen Sarg, den ich nur von weitem sah. Und schon am Tag darauf wußte ich, was das Schlimmste ist am Tod. Es ist die zurückbleibende Einsamkeit. Ich war allein. In allem was ich tat war ich allein.

GRASBERG: Deshalb riefst du mich. Der alten Spießerin doch noch eine Aufgabe
zu geben.

MÜLLER: Es ging nur um mich.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Du bist gekommen.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Du wolltest es.

GRASBERG: Ja, ich habe dich gebraucht.

MÜLLER: Weshalb hast du mir niemals gesagt, daß du mich liebst.

GRASBERG: Ich hätte es dir gesagt. Ich hätte es dir so gerne gesagt.
Wie habe ich dich geliebt.

MÜLLER: Ich weiß.

GRASBERG: Ich weiß, daß du es weißt.

MÜLLER: Wir hätten Kinder miteinander haben können, wir hätten das Land verlassen können, uns hätte die Welt zu Füßen gelegen.

GRASBERG: Das ist nicht wahr, und du weißt das.

MÜLLER: Wenn wir beide gewollt hätten, was hätte uns aufhalten können.

GRASBERG: Wir hätten uns aufhalten können, so wie wir uns aufgehalten haben.
Wir haben uns in den Dreck gesetzt, haben Mauern um unser Leben
errichtet, haben die Freundlichkeit ausgesperrt und uns vom Draußen
verabschiedet. Es kommt wie es kommt und es ist wie es ist.

MÜLLER: Aber …

GRASBERG: Kein aber. Keine Alternative. Als du mich damals riefst, da hast du im Dreck gesessen. Warst ein Stück Müll in dem Müll, der dich umgeben hat. Hilflos und feige zwischen den schimmelnden Konservendosen. Wie viel Kraft hast du noch gehabt? Wie weit warst du vom letzten Schritt entfernt? Aber du hattest nicht einmal die letzte Kraft, die sie … (bricht ab, sieht ihn starr an)

MÜLLER: Nein. Nein. Ich hatte den Mut mich nicht umzubringen. Trotz allen Drecks und trotz aller Einsamkeit zum Leben ja zu sagen. Weiß Gott, ich hatte den Strick in der Hand. Den Strick, den sie sich um die Kehle gelegt hat. Und weiß Gott, ich habe diesen Strick aufbewahrt. (holt den Strick aus einer Schublade)

GRASBERG: Wirf ihn weg, bitte wirf ihn weg.

MÜLLER: Ich brauche ihn nicht wegzuwerfen, weil er für mich keine Gefahr ist.
Er ist Erinnerung. Er ist der letzte, der ihre Wärme gespürt hat.
(Nimmt die Zeitung und liest. GRASBERG geht hinaus in den Garten.)

BLACK.

(MÜLLER sitzt alleine im Zimmer. Einige Zeit später. Liest Zeitung. Unzufrieden.
Immer noch in Schlafanzug und Bademantel. Es klopft. Es klopft heftig an der Haustür.)

WÄCHTER: (Stimme von draußen)
Machen Sie doch endlich auf. Los, aufmachen. Ich trete die Tür ein.

MÜLLER: (geht zur Tür, öffnet sie)
Machen Sie nicht so einen Lärm. Stören Sie nicht. Sind Sie wahnsinnig?
Ich lese gerade die Zeitung und bin keineswegs auf Besuch irgendeiner Art eingestellt. Gehen sie.

WÄCHTER: Ich bin nicht wahnsinnig. Ich bin auf der Flucht.

MÜLLER: Sie sind auf der Flucht vor wem?

WÄCHTER: Ich bin auf der Flucht und damit basta. Lassen Sie mich herein und stellen Sie keine Fragen.

MÜLLER: Vorsicht junger Mann, in der Nacht im Traum habe ich zwei Männer mit bloßer Hand getötet.

WÄCHTER: Ich bin anspruchslos und störe nicht.

MÜLLER: Sind Sie bewaffnet?

WÄCHTER: Nur eine Pistole. Wahrscheinlich ist keine Munition mehr drin. Jetzt hören Sie auf zu fragen. Es geht Sie nichts an, es würde Sie nur belasten.

MÜLLER: (neugierig) Kommen Sie doch bitte herein.

WÄCHTER: Danke. (tritt herein, schaut sich im Zimmer um und setzt sich)

MÜLLER: Ich kann ihnen nichts anbieten, ich weiß nicht ob wir etwas im Haus
haben. Es wird auch so gehen.

WÄCHTER: Wir?

MÜLLER: Eine Frau und ich.

WÄCHTER: Was für eine Frau?

MÜLLER: Sie sagt sie sei eine Freundin, keine Geliebte. Sie kümmert sich um mich und dafür falle ich ihr auf den Wecker.

WÄCHTER: Sie lieben sie?

MÜLLER: Sie sind sehr direkt. Wie alt sind Sie? Dreißig? Fünfundzwanzig?

WÄCHTER: Wir hatten uns darauf geeinigt, daß Sie keine Fragen stellen.

MÜLLER: Weil die Polizei oder ein imaginärer Verfolger kommen könnte, dem ich dann erzählen würde, daß ein Sechsundzwanzigjähriger mit einer vielleicht geladenen Pistole bei mir geklopft hat?

WÄCHTER: Siebenundzwanzig.

MÜLLER: Entschuldigung.

WÄCHTER: Macht nichts. Ich weiß, daß ich als jünger empfunden werde, als ich in
Wirklichkeit bin.

MÜLLER: Das ist doch nicht schlimm.

WÄCHTER: Ich habe nicht gesagt, daß es schlimm ist.

MÜLLER: Meine Absicht lag nicht darin Ihnen zu nahe zu treten.

WÄCHTER: Reden wir nicht mehr darüber.

MÜLLER: Schade, gerade wurde es interessant.

WÄCHTER: Sie finden es interessant, daß ich für jünger gehalten werde, als ich tatsächlich bin.

MÜLLER: Nein, das Blitzen in ihren Augen, wenn Sie von sich sprechen.

WÄCHTER: Was wollen Sie?

MÜLLER: Jetzt stellen Sie die Fragen. – Nichts. So einfach ist es zu antworten. Basta.

WÄCHTER: Sie glauben, daß Sie der erfahrenere Mensch sind, daß Sie schon mehr Zeit auf dieser Welt verschwendet haben als ich. Wie alt sind Sie? Fünfundvierzig? Oder älter? Und Sie haben in Ihrem Leben fünf Frauen entjungfert und drei Frauen mit ihrer Langeweile verschlissen. Und Sie haben eine ganze Menge Tage und Nächte gearbeitet und ebensoviele Tage und Nächte darüberhinaus verschenkt.

MÜLLER: Ich bin zweiundvierzig.

WÄCHTER: Sie sehen älter aus.

MÜLLER: Sehen Sie. Und mein Schwanz hat niemals eine Jungfernhaut zerbrochen. Die Arbeit, die ich machte, solange ich arbeitete war durchaus sinnvoll.
Ich war Buchdrucker und Buchbinder. Selbständig. Eine kleine Firma ohne Angestellte.

WÄCHTER: Verheiratet?

MÜLLER: Ich hatte eine Frau. Wir waren verheiratet. Sie hatte um meine Hand
angehalten. Sie hat sich mit diesem Strick erhängt. Sie hat nicht mehr gebraucht als eine Türklinke. So groß kann eine Verzweiflung sein, daß
eine Türklinke reicht. Da setzt man sich hin und läßt sich ein kurzes Stück fallen. Sie hätte nur die Arme zu Hilfe nehmen müssen. Der Steiß schwebte wenige Zentimeter über dem Boden. Wieviel Todeswillen muß in einem stecken.

WÄCHTER: (weint)

MÜLLER: Weinen Sie nicht junger Mann. Es ist über ein Jahr her.

WÄCHTER: Nein, es ist wenige Augenblicke her. (schweigt)

MÜLLER: Wenige Augenblicke?

WÄCHTER: Bevor ich an die Tür klopfte bin ich über die Felder gelaufen. Über die Zäune der Gärten geklettert. Ich sah Rauch aus dem Kamin steigen.
Ich bin vor mir geflohen. Vor dem, was ich getan habe. Vor dem Mord
an Lucie.

MÜLLER: Wer ist Lucie?

WÄCHTER: Wer war Lucie. Sie war meine Geliebte.

MÜLLER: Sie haben sie getötet?

WÄCHTER: Wieviele Kugeln sind in der Pistole?

MÜLLER: (Nimmt die Waffe, zieht das leere Magazin heraus. Zieht den Verschluß
der Waffe zurück, es fliegt eine Patrone in die Luft und fällt zu Boden.)
Eine letzte Kugel.

WÄCHTER: Es waren acht Patronen im Magazin. Ich habe sie getötet.
(Nimmt die Waffe, nimmt das Magazin, nimmt die Patrone. Baut alles zusammen, schaut zur Tür, lädt durch, legt die Waffe hin.)

MÜLLER: Das kann man so nicht sagen. Da müßte ein Arzt den Tod feststellen. Müßte sagen, daß diese Frau tot ist. Manchmal verfehlen Schüße ihr Ziel. Treffen nicht. Oder nicht richtig. Also nicht die Stellen, wo sie töten würden. Das Herz zum Beispiel. Oder mitten durchs Gehirn. Oder wenn Sie die Halsschlagader oder die Bauchschlagader getroffen hätten, dann wäre es möglich, daß sie nun verblutet.

WÄCHTER: Seien Sie still. (schreit) Hören Sie auf.

MÜLLER: Vielleicht können Sie sie noch retten.

WÄCHTER: Es war gleich jemand bei ihr.

MÜLLER: Gut. Vielleicht kann ich ihnen doch einen Tee anbieten. Und Plätzchen.
Vanille-Plätzchen.

WÄCHTER: Nur Tee. Heißen Tee. Danke.

MÜLLER: Ich habe lange keinen Tee mehr gekocht. Ich werde Wasser aufstellen.
(Geht in ein Nebenzimmer. Geräusch fließenden Wassers. Das Scheppern des Kessels und der Teedose. Der Teelöffel fällt zu Boden. Ein ungeübter Teekocher.)

WÄCHTER: Ich auch nicht.

MÜLLER: Es war mir zu mühsam.

WÄCHTER: Ich weiß nicht.

MÜLLER: Sie wissen nicht. Das kann ich gut verstehen.

WÄCHTER: Ich weiß nicht. Heiß. (vergräbt das Gesicht in den Händen, krümmt sich)

MÜLLER: (aus dem Nebenraum) Eigentlich bin ich nie in diesem Raum. Sie kocht.
Sie spült. Sie wäscht. Es ist ihr widerlich, wenn ich mich einmische. Wenn
ich koche, spüle, wasche. Der Mann tauge nicht zur Emanzipation. Und
diese widerliche halbausgegorene Vermengung sei ihr verhaßt. In ihr
haben sich auf eine wundersame Weise Haß und eine mir fremde Art von
Liebe zusammengefunden.

WÄCHTER: Wo ist sie?

MÜLLER: Draußen.

WÄCHTER: Ich habe sie nicht gesehen, als ich kam.

MÜLLER: Sie ist hinter dem Haus auf dem Feld. Wir haben einen kleinen Acker.
Einen viertel Hektar Land. In der Hauptsache Kartoffeln. Verschiedene
Sorten. Frühe, späte, kochfeste, mehlige. Sie kümmert sich darum.

WÄCHTER: Lucie wollte auch aufs Land.

MÜLLER: Wir sind hier nicht auf dem Lande. Am Rande der Stadt. Am Rande der Vorstadt. Noch vor der Grenze. (kommt mit einem Tablett zurück. Darauf stehen zwei Tassen. Er hat sich doch für Teebeutel entschieden. Und ein Teller mit Plätzchen.) Wir leben hier im Dreck. Über alles legt sich ein feiner schwarzer Film. (Pause) Sie haben sie getötet?

WÄCHTER: Ja, ich denke ja.

MÜLLER: Weshalb nur haben Sie sie getötet?

WÄCHTER: Der Tee ist gut. Heiß.

MÜLLER: Sie war Ihre Geliebte?

WÄCHTER: Sie war mein Leben. Ich nehme mir einen Keks.

MÜLLER: Ja, nehmen Sie. Nur zu.

WÄCHTER: Danke.

MÜLLER: Lassen Sie diese Höflichkeitsfloskeln. Die sind hier draußen nicht nötig.

WÄCHTER: Entschuldigung.

MÜLLER: Entschuldigen Sie sich nicht.

WÄCHTER: Ja. Werden Sie die Polizei rufen?

MÜLLER: Die Polizei. Nein. Nein. Keine Polizei.

WÄCHTER: Gut. Ich werde einige Tage hierbleiben. Werde mich verstecken.
Zur Ruhe kommen.

MÜLLER: Sie wollen hierbleiben? Zur Ruhe kommen. Das geht nicht, Sie können nicht hierbleiben.

WÄCHTER: Ja, zur Ruhe kommen.

MÜLLER: Wie können Sie glauben, daß Sie zur Ruhe kommen. Sie haben eine Frau getötet. Vielleicht die Frau, die Sie lieben. Die Sie geliebt haben.
Wahnsinn. Sie könnte noch leben. Könnte hier sein, könnte Ihren Hals
streicheln. Und Sie haben sie erschossen. Grundlos niedergestreckt.
Es gibt keinen dümmeren Selbstmord.

WÄCHTER: Ich mußte es tun.

MÜLLER: Nein. Nein.

WÄCHTER: Ich kann es nicht erklären.

MÜLLER: Und nun wollen Sie hierbleiben. Für einige Tage. Das halte ich nicht aus.
Den Tod im Haus. Gehen Sie.

WÄCHTER: Nach mir wird gefahndet. Man wird mich einsperren.

MÜLLER: Man wird uns einsperren, weil wir einem Mörder Unterschlupf gewähren.

WÄCHTER: Ich bin kein Mörder. (schreit – Grasberg kommt ins Haus.
In der Hand hat sie einen Korb mit frischen Kräutern. Stellt ihn ab.)

GRASBERG: (schaut auf Müller, dann auf Wächter)
Du hast Tee gemacht? Wer sind Sie?

MÜLLER: Frag ihn nicht. Schick ihn weg. Sag ihm, daß er gehen soll. Sofort.

GRASBERG: Wer immer Sie sein mögen, verlassen Sie unser Haus.

WÄCHTER: Ich habe Lucie erschossen.

MÜLLER: Schweigen Sie.

WÄCHTER: Ich habe ihre Schönheit nicht ertragen. Ihre Nähe. Ihre Existenz. Ihre Träume. Ja, ihre Träume. Von einem besseren Leben. Einem glücklicheren Leben.

GRASBERG: Sie haben Lucie erschossen?

MÜLLER: Mit sieben Schüssen niedergestreckt.

WÄCHTER: Ihr Optimismus war ein Traumbild. Eine traurige Lüge. Sie wäre niemals glücklich geworden. Nicht wirklich. Dazu fehlten die Möglichkeiten.
Das Geld, der Mut. Die Lust. (Pause.)

GRASBERG: Das ist kein Grund.

WÄCHTER: Es gab keinen Ausweg.

GRASBERG: Es gibt immer einen Ausweg.

MÜLLER: Er soll gehen. Er soll den Tod nehmen und gehen.

GRASBERG: Sag du nicht, daß er gehen soll. Nicht du. (Pause)

MÜLLER: Er hat hier nichts verloren. Er gehört nicht hierher. Ich ertrage ihn nicht.

GRASBERG: Doch, du erträgst ihn. Wir haben genügend Platz. Deine Einsamkeit ist ein großes Bett. Wir werden neue Laken brauchen.

MÜLLER: Und wenn man ihn hier findet?

GRASBERG: Hat man dich gefunden?

BLACK.

(Am Morgen des nächsten Tages. Grasberg und Wächter sind im Zimmer. WÄCHTER sitzt unter einer Decke im Sessel, in welchem er die Nacht verbracht hat. MÜLLER schläft noch. Auf dem Tisch liegt eine aktuelle Tageszeitung. Grasberg hat Tee gemacht.)

GRASBERG: Das Schlimmste ist überstanden. Wir müssen jetzt einige Tage abwarten, dann ist die akute Gefahr vorüber. Die Polizei hat am Morgen die Befra-
gungen in der Siedlung eingestellt.

WÄCHTER: Das Schlimmste wird noch kommen. Dann werde ich eines Tages auf-
wachen und begreifen, was ich getan habe. Ich bin voller Angst. Mich hätte ich erschießen sollen.

GRASBERG: Für solche Überlegungen ist es jetzt zu spät.
Es ist geschehen was geschehen ist.

WÄCHTER: Sagen Sie nicht, daß das Leben immer weiter geht.

GRASBERG: Nein, das Leben geht nicht immer weiter. Wir sterben jeden Tag. Verlieren ein Stück Atem. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann besteht sie darin zu kämpfen. Sich zu überwinden, die fatale Konsequenz aufzuheben. Wer Glück hat, rettet sich am Ende in eine bloße Erträglichkeit.

WÄCHTER: Ihr Tee ist gut.

GRASBERG: Ich habe ein kleines Beet mit Kräutern. Die Kräuter sind mir die Liebsten. Sie sind robust, blühen und duften. Jedes Kraut hat seine eigene Wirkung. Ich stelle Mischungen zusammen, experimentiere.

WÄCHTER: Eigentlich haben Sie es hier schön. Es liegt so nah an der Siedlung und trotzdem ist es hier schön.

GRASBERG: Für ihn ist es eine Müllhalde. Ein stinkender Haufen Müll am Rande der Stadt. Sein Bademantel steht Ihnen gut. Er läßt Sie zufrieden aussehen.

MÜLLER: (ruft aus dem Nebenzimmer) Wo ist mein Bademantel?
(kommt ins Zimmer) Ich habe ihn gestern Abend … Sie? Sind noch hier?

WÄCHTER: Sie hat es mir erlaubt.

MÜLLER: Was erlaubt?

WÄCHTER: Zu bleiben. Für eine Weile.

MÜLLER: Ziehen Sie den Bademantel aus. Ziehen Sie ihn sofort aus. Mir ist es kalt.
(Wächter zieht den Bademantel aus und gibt ihn Müller)

GRASBERG: Ich habe ihn ihm gegeben.

MÜLLER: Weshalb?

GRASBERG: Ihm war es kalt.

MÜLLER: Als hätten wir nicht schon genug Probleme. Wir können ihn nicht durchfüttern. Es reicht kaum für uns.

GRASBERG: Wir haben ein wenig gespart und wir haben den Garten.

MÜLLER: Im Garten gibt es nur Kartoffeln.

GRASBERG: Es ist Herbst, wir können bald ernten. Wir brauchen nicht viel und es ist genügend da.

MÜLLER: Du willst wirklich, daß er bleibt?

GRASBERG: Ja.

MÜLLER: Dann gehe ich.

GRASBERG: Du kannst nicht gehen.

MÜLLER: Ja. (geht in das andere Zimmer zurück)

WÄCHTER: Weshalb kann er nicht gehen?

GRASBERG: Ihnen kann ich es sagen. Er wird von der Polizei gesucht.

WÄCHTER: Was hat er getan?

GRASBERG: Was er getan hat weiß ich nicht. Nachbarn fanden seine tote Frau entkleidet auf dem Küchentisch.

WÄCHTER: Sie hat sich erhängt.

GRASBERG: Hat er Ihnen das erzählt?

WÄCHTER: Gestern Abend, als ich gekommen war, sagte er, daß sich seine Frau an einer Türklinke erhangen hätte.

GRASBERG: Ja.

WÄCHTER: Sie glauben ihm nicht.

GRASBERG: Die Polizei hat nach ihm gefahndet, weil er abgehauen ist. Er hat ein paar Sachen zusammengepackt und ist verschwunden. Ihr Körper begann zu stinken. Da wurden die Nachbarn aufmerksam. Der Beerdigung hat er per Fernglas beigewohnt. Sagt er. Nach einem halben Jahr rief er mich an und bat um Hilfe. Ich wollte ihn ausliefern, wollte den Mörder meiner Schwester bezahlen sehen für das, was er getan hat.

WÄCHTER: Sie haben die Polizei nicht gerufen.

GRASBERG: Er gab mir eine Adresse, wo ich ihn abholen sollte. Ich fand ihn im Keller eines Rohbaus, an dem gerade nicht gebaut wurde. Sein Zustand war erbärmlich. Ich schlug ihm ins Gesicht, in den Magen. Trat ihn, trat immer wieder auf ihn ein.Dann nahm ich ihn mit zu mir. Wir saßen eine Nacht beisammen. Er konnte mir nicht in die Augen sehen, sah immer nur auf den Tisch und stammelte unzusammenhängende Dinge.

WÄCHTER: Sie haben ihm vergeben.

GRASBERG: Ich weiß es bis heute nicht. Er tat mir leid. Ich mietete dieses Häuschen
und brachte ihn hierher in Sicherheit. Seitdem leben wir hier.

WÄCHTER: Schlagen Sie mich. Treten Sie mich.

GRASBERG: (schlägt ihm ins Gesicht) Das muß reichen. Mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun. Sie haben Lucie erschoßen, Sie müssen da rauskommen. Ich habe damit nichts zu tun.

WÄCHTER: Wie hat er es geschafft?

GRASBERG: Ich weiß nicht ob er meine Schwester tötete.

WÄCHTER: Trotzdem, er mußte den Tod seiner Frau überwinden.
Den Tod der Geliebten.

GRASBERG: Er hat nichts überwunden. Schauen Sie ihm in die Augen.

WÄCHTER: Wie lange ist es her?

GRASBERG: Eine Ewigkeit.

WÄCHTER: Ich hatte gute Gründe es zu tun. Sie war nicht für diese Welt geschaffen. Diese Welt ist zu schlecht für sie. Diese Siedlung. Diese Trostlosigkeit und ein ganzer Winter vor der Tür. Der Blick auf die Felder. Nur umgepflügte braune Erde. Kein Grün. Und alle hundert Meter ein Strommast. Ihr Hals, ihr weicher Hals. Ich schloß die Augen, fuhr mit der Nase an ihrem Hals entlang, küßte sie …

GRASBERG: (laut) Ziehen Sie sich an und räumen Sie die Tassen weg. Wir holen den Liegestuhl aus dem Schuppen.

WÄCHTER: Ja. (Pause.) Vielleicht sollte ich doch gehen. Ich falle Ihnen zur Last.

GRASBERG: Wohin wollen Sie denn gehen? Sie würden nicht weit kommen.
Sicherlich kennt man Sie in der Gegend.

WÄCHTER: Lucie hätte niemals Selbstmord begangen, sie wäre nicht einmal auf die Idee gekommen. Ihre Leidensfähigkeit war zu groß.

GRASBERG: Und Sie? Weshalb ertragen Sie die Leiden?

WÄCHTER: Ich bin ein schlechter Mensch. Bin es immer gewesen. Ich leide nicht,
weil ich nichts anderes gewöhnt bin. Meine Eltern sind, wie man so sagt, einfache Leute.

GRASBERG: Was sagt das schon.

WÄCHTER: (bestimmt) Sie sind einfache Leute. Sie haben sich an die Anspruchs-
losigkeit gewöhnt, haben sich in die Ecke treiben lassen. Das Gerede von
Moral und Anstand, das Unterdrücken aller Bedürfnisse. Unerträgliche
Selbstkontrolle und Angst. Sie sind voller Angst. Eingeschüchtert.

GRASBERG: Vielleicht sieht das nur so aus. Vielleicht sind sie in ihrer Liebe
aufgehoben.

WÄCHTER: Ja. (Pause) Vielleicht. Wahrscheinlich sind sie tot.

GRASBERG: Haben Sie keinen Kontakt zu ihren Eltern?

WÄCHTER: Nein. Wozu?
GRASBERG: Gefühle.

WÄCHTER: Vater ist Tierpfleger im Zoo. Oder er war es, ist im Ruhestand, ich weiß es nicht. Wenn ich ihn im Zoo besuchte, dann machte er die Käfige sauber.
Da stand dann der kleine Mann mit dem Schlauch in der Hand und
spritzte die Scheiße weg.

GRASBERG: Was ist daran schlimm?

WÄCHTER: Das entstandene Bild. Der Mann im Käfig. Und es war nicht einmal sein eigener Käfig und es war nicht einmal seine eigene Scheiße.

GRASBERG: Sie spielen sich auf, verurteilen. Wahrscheinlich waren Sie die Last ihrer Eltern, ihr Unglück.

WÄCHTER: Nein.

GRASBERG: So wie Sie Lucies Unglück waren.

WÄCHTER: Ich habe alles für sie getan.

GRASBERG: Alles. Was mag für Sie schon alles sein.

WÄCHTER: Ich war für sie im Gefängnis und ich wäre wieder für sie ins Gefängnis gegangen.

GRASBERG: Vielleicht ist das nicht die Wahrheit, daß Sie für sie gesessen haben.

WÄCHTER: Es ist die Wahrheit. Ich habe alles versucht sie glücklich zu machen,
sie aus der Siedlung rauszuholen. Weg aus der dreckigen Vorstadt.

GRASBERG: Hinaus aufs Land. Aufs schöne Land, wo die Wiesen so grün sind, und die Luft so luftig ist. Da wachsen dir die Früchte in den Mund und gebratene Hähnchen fliege zum Fenster herein.

WÄCHTER: Wir hätten eine Chance gehabt.

GRASBERG: Einbruch? Diebstahl? Erpressung?

WÄCHTER: Ich ging durch die Straßen. Ohne Grund. Die Pistole in der Tasche.
Da kam ich zu einer Post. Ich hatte Lust, sie zu überfallen. Das Geld
rauszuholen und das Leben zu ändern. Sie war geschlossen. Mittagspause.
Da ging ich in die Bäckerei neben der Post, zog die Waffe und verlangte
nach dem Geld. Plötzlich kam ein kahlgeschorener Mann von hinten aus
der Backstube. Er hatte einen Karabiner auf meinen Kopf gerichtet. Bereit
zu töten. Wir sahen uns, die Waffen aufeinandergerichtet, in die Augen.
Er kam auf mich zu, erwartete meinen Schuß. In seinen Augen der um-
gelegte Hebel. Was sollt’ ich tun. Nur ein Zucken meiner Augen, er hätte geschossen.

GRASBERG: Und Lucie würde noch leben.

WÄCHTER: Hören Sie auf.

GRASBERG: Nein.

WÄCHTER: Sie wollen mich quälen. Darum geht es ihnen. Nun können Sie doppelt Rache üben. Was Sie ihm zufügen, das können Sie jetzt auch mir zufügen. Aber die Rechnung geht nicht auf. Nein. Das Spiel läuft ohne mich.
(nimmt die Waffe aus der Schublade und zielt auf GRASBERG.
MÜLLER kommt aus dem Nebenzimmer.)

MÜLLER: Legen Sie die Waffe weg. (schreit) Sie sollen die Waffe weglegen.

WÄCHTER: (zielt auf Müllers Kopf.) Merken Sie es nicht, sie will Sie zugrunde richten. Sie übt langsame, qualvolle Rache. Diese Räume sind ein Ort des Schreckens und sie ist ein Rachemonster. In ihren Augen sehe ich, daß sie eine Schwester Lucies ist. Sie will nicht verstehen, daß es keinen Ausweg gab.

GRASBERG: Nun beruhigen Sie sich doch. Das Rachemonster bin nicht ich. Es steckt in Ihnen. Der Schmerz ist unerträglich, aber es ist Ihr Schmerz, Ihr eigener gottverdammter Schmerz.

(Wächter legt die Waffe zurück.)

WÄCHTER: Ich halte es nicht aus, halte diesen Schmerz nicht aus. (Pause)

MÜLLER: Ich ging aus dem Haus und lief davon. Rannte und rannte um eine Entfernung zu ihrem toten Körper herzustellen. Unter dem Arm eine Sporttasche, in der ich einige Fotos und den Strick mitgenommen hatte. Wohin sollte ich gehen. Es gab plötzlich keine Vergangenheit mehr. Ihr Leben und mein Leben ausgelöscht. Meine Gedanken trieben in einer Zwischenwelt, in einem Teil meines Wesens, das ich bisher nicht gekannt
hatte. Die fremde Welt draußen und die fremde Welt in mir. Ich mußte in
Bewegung bleiben, durfte mich nicht hinsetzen. Sonst wären die Gedan-
ken so schwer geworden, daß sie mich erdrückt hätten. Dann stieg ich in
einen Zug, ging die Gänge entlang. Da lag ein Mann blutend am Boden.
Er war zusammengeschlagen worden und zitterte. Es sah aus, als würde er
sterben. Er trug einen Anzug. Er trug ein Hemd und Krawatte, und er trug
Joggingschuhe. Ich schüttelte ihn, er sah mich an, fuhr mir mit der Hand
durch mein Haar und küßte mich auf den Mund. Da sprang ich auf,
rannte den Gang entlang. Der Zug hielt, ich riß die Tür auf und stolperte
hinaus. Dieses Riesenplakat, riesige weiße Zähne eines männlichen
Lächelns. Ich drehte mich um, sah den blutenden Mann in der Tür des
Zuges und …

GRASBERG: … lief davon.

WÄCHTER: Ich bin leer. In mir ist nichts. Um mich herum ist nichts. Wahrscheinlich
war da nie etwas. Es waren alles Hirngespinste. Einbildung.

(WÄCHTER geht nach draußen um den Liegestuhl zu holen.)

MÜLLER: Wir müssen unser Leben ändern. Von Grund auf ändern. Es sind die in uns angelegten Sackgassen die alles zunichte machen. Die uns abtöten. Weil wir dem, was mit uns geschieht blind gegenüber stehen. Dann sind wir nur noch halbwegs funktionierende Chemiefabriken. Wir führen alles ein. Vitamine, Proteine, Fette. Egal, es muß nur irgendwie laufen. Calcium dazu. Vitamin B 12 baut auf. Es läuft, es läuft. Und den Sondermüll schwitzen wir aus und den Normalmüll scheißen wir aus, und unsere
Schwänze sind Abwasserrohre die sich in Kloaken ergießen. Und wenn wir
tot sind bleibt ein einziger Haufen Leichengift, der luftdicht unter der Erde
entsorgt wird. Oder wie Müll verbrannt wird. Oder wir werfen uns ins
Meer um noch ein paar Fische mitzunehmen.

GRASBERG: Das sind Hirngespinste.

MÜLLER: Es sind Hirngespinste und es ist die Wahrheit.

GRASBERG: Es ist nicht die Wahrheit.

MÜLLER: Du glaubst in deinem Leben wäre alles in Ordnung, weil du alles aufs einfachste reduziert hast. Weil du glaubst frei von Ballast zu sein. Weil
dein Kartoffelacker frei von jeglichem Chaos ist. Weil du dir keine Ge-
danken machst. Du hast alles in schwarz und weiß aufgeteilt. Ich bin der
Dreck und du glaubst die Normalität zu sein. Du funktionierst nur, weil du denkst, daß du ein kleines Stück größer bist als ich. Du irrst dich. Du bist leer.

GRASBERG: Du hast dich niemals für mich interessiert. Als ich dich holte hüllten wir
uns in dein Schweigen. Du hättest gerne mit mir geschlafen. Das war
alles.

MÜLLER: Ja, ich hätte manches Mal gerne mit dir geschlafen. Na und. Wir wären uns vielleicht ein wenig nah gekommen.

GRASBERG: Du redest und redest. Von Gedankenwelten und Veränderungen. Und
wenn wir es getan hätten wärst du einfach über mich drübergerutscht.

MÜLLER: Hör auf.

GRASBERG: Das erträgst du nicht. Wie war es denn wenn du mit ihr geschlafen hast?
Hat sie gestöhnt? Vor Lust gewimmert? Hast du sie vorher gestreichelt
und nachher zärtlich in die Arme genommen oder hast du einfach zum Taschentuch gegriffen? Hast du es ihr auch weggemacht oder bist du gleich eingeschlafen?

MÜLLER: Wir hatten keinen Sex mehr.

GRASBERG: Dann hast du’s dir für mich aufgespart.

MÜLLER: Alles was ich wollte war Nähe. Eine Zuneigung. Einen Ort, an dem andere Gesetze gelten.

GRASBERG: Gesetze. Glaubst du nicht, daß du dieses Wort nicht benutzen solltest.

MÜLLER: Ich kann es so nennen und ich kann es so nennen. Die Namen sind egal. Als ich sie kennenlernte, da war das ein unbeschreibliches Gefühl. Übermächtig. Und ich dachte, daß das nur der Anfang sei. Daß sich das Gefühl weiterentwickeln würde. Wir waren frei. Begannen zu leben.

MÜLLER: Ich kann es so nennen und ich kann es so nennen. Die Namen sind egal. Als ich sie kennenlernte, da war das ein unbeschreibliches Gefühl. Übermächtig. Und ich dachte, daß das nur der Anfang sei. Daß sich das Gefühl weiterentwickeln würde. Wir waren frei. Begannen zu leben.

GRASBERG: Ich weiß.

MÜLLER: Sie war voller Ideen, voller Verrücktheiten. Ich kannte sie drei Tage, da klaute sie ein Auto und wir fuhren an den Atlantik. Wir hatten nichts
dabei, außer die Klamotten, die wir am Körper trugen. Es war himmlisch.
Eine Reise in die Freiheit. Ich spürte Dinge in mir, von denen ich vorher
nicht zu träumen gewagt hätte. Grenzenlosigkeit. Schwerelosigkeit. Sie
mußte nach Paris. Wir tranken Sekt am Montmatre und schliefen im Bois
de Boulogne. Am Himmel die Lichter der Stadt. Mir war so warm an ihrer
Seite und ich spürte sie in jedem Winkel meines Körpers. Das war die
Leichtigkeit.

GRASBERG: Das Geld hatte sie mir gestohlen. Ich hätte es gebraucht. Es war verplant.

MÜLLER: Sie sagte, ich solle nicht nach dem Geld fragen. Ich tat es nicht.

GRASBERG: Sie hat es mir nie zurückgegeben. Nicht einmal entschuldigt hat sie sich.

MÜLLER: Wir haben die Welt ein Stück reicher gemacht.

GRASBERG: Ihr hattet eine Hypothek aufgenommen, der ihr nicht gewachsen ward.

MÜLLER: Du weißt nicht wovon du sprichst.

GRASBERG: Es gibt verschiedene Wege sich dem Leben zu nähern. Und es gibt viele Wege das Leben zu verschenken.

MÜLLER: Ich habe es nicht verschenkt.

GRASBERG: Was wurde aus dem Sekt am Monmatre und was wurde aus dem Lichterhimmel über der Stadt? Alle Leichtigkeit ist verflogen. Sie ist tot
und du bist so schwer wie ein alter Mann.

MÜLLER: Hätten wir Kinder gehabt oder vielleicht nur einen Hund.

GRASBERG: Vielleicht wären die dann jetzt auch tot.

MÜLLER: Hör auf mit diesen ewigen Anschuldigungen. Ich kann es nicht mehr
hören.

GRASBERG: Ich werde dir einen neuen Bademantel kaufen. Frottee. Längsstreifen.
Möchtest du? (weint)

MÜLLER: Ja. Das wäre schön. Farben. Bunte Längsstreifen.

GRASBERG: Ich werde Tee machen. Eine neue Mischung.

WÄCHTER: (WÄCHTER kommt von draußen. Er schleppt einen Klappliegestuhl.)
Im Schuppen steht ein Wagen.

GRASBERG: Warten Sie, ich helfe Ihnen.

MÜLLER: Du wolltest Tee machen.
(MÜLLER hilft WÄCHTER den Liegestuhl aufzubauen. Beide wollen sich reinsetzen.)

WÄCHTER: Der Wagen ist fast neu. Fährt bestimmt. Zugelassen ist er auch.

GRASBERG: Das ist mein Auto.

WÄCHTER: Ein schöner Wagen.

MÜLLER: Ein Auto.

GRASBERG: Immerhin ist er mit Katalysator.

MÜLLER: Dann dauerts ein wenig länger bis die Welt hopps geht.

WÄCHTER: Wir könnten fliehen.

MÜLLER: Ich muß nicht fliehen.

WÄCHTER: Wir müssen nicht, aber wir könnten.

MÜLLER: Sagen Sie nicht wir. Wohin?

GRASBERG: An den Atlantik, mit Frühstück am Montmatre.

WÄCHTER: Nein, das wird kein Abiturienten-Abenteuer.

GRASBERG: (schaut zu Müller) So. (geht ins Nebenzimmer Tee kochen)

WÄCHTER: Was hält uns hier? He? Was haben wir jetzt noch zu verlieren?

MÜLLER: Hier gibt es was klarzustellen, ich habe keinen Grund zu fliehen.

WÄCHTER: Sie fühlen sich wohl in dieser Baracke.

MÜLLER: Das geht Sie nichts an.

WÄCHTER: Hören Sie, hier ist kein Ort an dem man bleiben sollte. Das spüre ich.

MÜLLER: Es ist ein Ort an dem ich meine Ruhe hatte bis Sie kamen.

WÄCHTER: Sie sollten keine Feindschaft zu mir aufbauen. Wir sitzen im selben Boot. Sie werden genauso von der Polizei gesucht wie ich.

MÜLLER: Mich interessiert die Polizei nicht.

WÄCHTER: Die Polizei sollte Sie interessieren. Das Versteck wird nicht ein Leben lang halten. Die Menschen sind neugierig und die Menschen schwatzen. Irgendjemandem wird auffallen, daß sie mehr Lebensmittel einkauft, als
sie alleine verbrauchen kann.

MÜLLER: Das glauben Sie doch nicht wirklich. Niemand interessiert sich für niemanden. Sie würde noch leben wenn es anders wäre.

WÄCHTER: Wir müssen weg. So schnell wie möglich. Ihr traue ich auch nicht. Wie sie mich anschaut. Sie hat etwas in ihren Augen. Ich weiß nicht, aber ich möchte nicht dahinterkommen.

MÜLLER: In ihren Augen ist Kraft und Ehrlichkeit.

WÄCHTER: Sie verehren sie.

MÜLLER: Ich liebe sie.

WÄCHTER: Das ist nicht wahr.

MÜLLER: Es geht Sie nichts an und es ist auch unwichtig.

WÄCHTER: Sie machen einen Fehler wenn Sie bleiben. Hier gehen Sie vor die Hunde.

MÜLLER: Ich bin schon zu oft gegangen.

WÄCHTER: Lassen Sie diese billigen Filmfloskeln. Hier haben Sie keine Chance und
das wissen Sie. Ihnen bleibt kaum genug Platz zu atmen. Wir können neu anfangen. Wir bringen die Grenze hinter uns und beginnen mit dem Vergessen.

MÜLLER: Sie sollen nicht wir sagen.

WÄCHTER: Ob Sie wollen oder nicht, wir sind miteinander verbunden. Ihre Frau ist tot und Lucie ist es auch. Basta. Lassen Sie uns noch heute Nacht verschwin-
den. In fünf Stunden sind wir an der Küste. Wir nehmen die erste Fähre
am Morgen.

MÜLLER: Wohin wollen Sie?

WÄCHTER: Nach Skandinavien. Nach Schweden.

MÜLLER: Aber der Winter kommt.

WÄCHTER: Umso besser. Niemand wird auf die Idee kommen uns in der Kälte des Nordens zu suchen.

MÜLLER: Auf den Fähren werden sie die Pässe kontrollieren.

WÄCHTER: Wir werden im Kofferraum sein und sie wird fahren.

MÜLLER: Ich denke Sie trauen ihr nicht.

WÄCHTER: Was bleibt mir anderes übrig. Wenn sie mich verraten will, dann kann sie
es hier wie dort tun.

MÜLLER: Sie wird nicht mitkommen.

WÄCHTER: Hätte sie eine Alternative, sie lägen noch immer im Keller des Rohbaus.
Sie hat Sie gerettet, weil sie eine einsame Frau war. Im Rudel der Wölfe
wäre sie das Leittier. Aber wir sind Menschen und deshalb ist sie allein
gewesen bis zu dem Zeitpunkt, als Sie in die mißliche Situation gerieten
auf sie angewiesen zu sein.

MÜLLER: Sie reimen sich da was zusammen. Der Kartoffelacker ist für sie wichtiger als alles andere. Ohne geerntet zu haben wird sie nicht gehen.

WÄCHTER: Ohne sie haben wir nicht die geringste Chance. Wir werden Geld
brauchen und sie hat ein wenig gespart. Verstehen Sie doch.

MÜLLER: Des Geldes wegen. Sie würden sie des Geldes wegen mitnehmen.

WÄCHTER: Nicht nur, aber in erster Linie schon.

MÜLLER: Weshalb Schweden?

WÄCHTER: Es ist ein leeres Land. Dort gibt es Platz genug für jeden. Es ist nicht so fürchterlich überfüllt wie hier. Und Sie lieben dort die Natur. Sie haben
Zeit und Raum die Natur zu lieben. Zumindest hat Lucie das gesagt.

MÜLLER: Lucie wäre sicherlich gerne mit ihnen nach Schweden gegangen.

WÄCHTER: Lucie lebte nur in Träumen. In einer unzugänglichen Welt. Jeden Tag wäre sie gerne woanders gewesen, um nur nicht dort zu sein wo wir lebten. Jeder Tag machte sie ein Stück unglücklicher. Ich habe das nicht mehr ertragen.

MÜLLER: Und wenn Sie mit ihr einfach gegangen wären, wenn Sie sie an die Hand genommen hätten und wären losgegangen, so wie Sie nun mit mir los-
ziehen wollen.

WÄCHTER: Ihre Kraft hätte nicht gereicht. Sie hatte eine teuflische Angst vor dem Leben, vor den Dingen die passieren konnten. Die Wohnung zu verlassen um einkaufen zu gehen war für Lucie eine große Überwindung. Sie ertrug die Menschen mit ihren lauten Stimmen nicht.

MÜLLER: Es gibt auch Menschen mit leisen Stimmen.

WÄCHTER: Wenige.

GRASBERG: (kommt herein mit einem Tablett mit Teetassen, Teekanne und Keksen)
Der Tee ist fertig, ich hoffe die Gemüter haben sich beruhigt.
(stellt die Tassen hin) Was ist aus den Fluchtplänen geworden?
Werdet ihr Casablanca noch heute Nacht verlassen?

MÜLLER: Es ist kein Scherz. Gib mir bitte Tee. Die Lage ist ernst. Eigentlich wissen
wir das schon lange. Er hat recht, eines Tages werden sie uns finden.
Wir müssen gehen. Ich kann mich hier nicht immer verstecken, mich
einsperren wie in einem Gefängnis.

GRASBERG: Dann geh zur Polizei und lös deinen Fall auf. Sag ihnen, daß du es nicht warst, daß es Selbstmord war.

MÜLLER: Sie würden mir nicht glauben. Dazu ist es zu spät.
Nicht einmal du glaubst mir.

GRASBERG: Wie kann ich dir glauben, wenn du mit mir niemals darüber gesprochen hast. Als ich dich holte, da sagtest du, daß du es nicht getan hättest und, daß du niemals mehr darüber sprechen wollest. Daran habe ich mich gehalten, auch wenn es mir oft schwerfiel. Ich weiß nicht, was wirklich geschehen ist.

WÄCHTER: Lassen Sie ihn doch zufrieden. Die Vergangenheit ruht und die Zukunft ruft. Aber eine Zukunft ist nur eine Zukunft, wenn man sich bewegt. Wieviel Geld haben Sie gespart? Und wo ist das Geld?

GRASBERG: Hast du dich mit ihm verbündet? Sag ihm doch wo das Geld ist, dann könnt ihr gemeinsam verschwinden.

MÜLLER: Ich würde niemals ohne dich gehen. Ich bekomme noch einen neuen Bademantel von dir. Du hast es versprochen.

WÄCHTER: Kommen Sie mit uns. Fahren Sie uns in eine neue Welt.
Es ist nicht zu spät mit einem neuen Leben zu beginnen.

GRASBERG: Trinken Sie ihren Tee.

MÜLLER: (steht auf) Schweden.

GRASBERG: Meine Kartoffeln.

WÄCHTER: Wir werden in der Dunkelheit einen Zentner ernten und mitnehmen.

GRASBERG: Die Kartoffeln sind noch nicht soweit. Ich kenne niemanden in Schweden und außerdem wird dort bald Winter sein.

MÜLLER: Ja, richtiger Winter.

WÄCHTER: Und wen kennen Sie hier? Wer wird Ihnen eine ehrliche Träne
nachweinen?

GRASBERG: Ich vermute niemand.

MÜLLER: Dann komm mit. Auf nach Schweden.

GRASBERG: Trink deinen Tee.

MÜLLER: Ja. (setzt sich)

WÄCHTER: Sagen Sie nicht ja. Sie wird Sie umstimmen.

MÜLLER: Du wirst nicht mitkommen?

GRASBERG: Nein.

WÄCHTER: Sie machen einen großen Fehler. Aber wir werden es auch ohne sie schaffen. Wo ist das Geld und wo sind die Wagenschlüssel.

GRASBERG: Hören Sie, weder den Wagen noch das Geld werden Sie von mir bekommen.

WÄCHTER: Wir werden den Wagen und das Geld aber brauchen.

MÜLLER: Ich kann nicht mitkommen.

WÄCHTER: Sehen Sie. Letztendlich werden Sie ihn der Polizei ausliefern.
Das wollen Sie doch nicht, oder?

GRASBERG: Es ist mir egal.

WÄCHTER: Dann werden Sie alleine sein. Einsam.

GRASBERG: Was wissen Sie denn schon von Einsamkeit. Seien Sie doch endlich still.
Ich hätte Ihnen keine Gastfreundschaft anbieten dürfen, Sie sind es nicht wert.

MÜLLER: Laß ihn.

GRASBERG: Sei still.

MÜLLER: Zu gehen ist seine letzte Chance. Gib ihm das Geld und gib ihm das Auto.

GRASBERG: Seine letzte Chance war Lucie.

WÄCHTER: Das ist nicht wahr.

GRASBERG: Sie haben es doch gar nicht ausprobiert.

WÄCHTER: Ich habe alles für sie getan.

GRASBERG: Alles. So. Und haben Sie ihr auch Zeit gegeben? Wie alt sind Sie denn?

MÜLLER: Er ist siebenundzwanzig.

GRASBERG: Und wie alt war Lucie?

WÄCHTER: Im Sommer wäre sie zweiundzwanzig geworden.

GRASBERG: Ich sollte die Polizei rufen. Sie sind krank.

WÄCHTER: Es war die Angst in ihren Augen. Ich habe es nicht mehr ertragen.

GRASBERG: Sie hätten sich erschießen sollen.

MÜLLER: Grasberg, laß ihn. Du wirst ihn in den Tod treiben.

GRASBERG: Er ist genauso feige wie du, sonst hätte er sich erschossen und nicht Lucie.

MÜLLER: Du urteilst und verurteilst. Du hast Lucie nicht gekannt. Woher willst du wissen, wie es um sie stand.

GRASBERG: Und woher soll dieser Junge das gewußt haben? Sag mir das.

MÜLLER: Es gibt Dinge auf dieser Welt von denen wir nicht einmal eine Vorstellung haben.

GRASBERG: Und dann nehmen wir eine Pistole und halten sie in das Zentrum dieser unvorstellbaren Dinge.

WÄCHTER: Hätte es eine andere Lösung gegeben, ich hätte es nicht getan.

MÜLLER: Hat sie es gewollt?

WÄCHTER: Ich sah ihr in die Augen. Da war nur Leere. Sie starrte in den Lauf. Es war ihr egal.

GRASBERG: Übermorgen oder in zehn Jahren wäre es ihr vielleicht nicht mehr egal gewesen.

WÄCHTER: Was wissen Sie denn schon. Sie sind ja so erfahren. Wahrscheinlich sind
Sie in ihrem Leben niemals einem Menschen wirklich nahe gekommen.
Ich kann es weder ihnen noch irgendwem erklären. Nur Lucie und ich
wissen, daß es richtig war. Sie sind kalt und starr. Sie würden es niemals
verstehen können. Das kalte Herz trübt den Blick.

GRASBERG: (weint) Sie machen es sich sehr einfach.

MÜLLER: Lassen Sie uns jetzt bitte allein.

WÄCHTER: (geht ins Nebenzimmer) Alle Last liegt auf meinen Schultern.

MÜLLER: Du bist weder kalt noch starr. Er kennt dich nicht.

GRASBERG: Das ist es nicht. (Pause)

MÜLLER: Was ist es dann?

GRASBERG: Wir können niemals entkommen. Wohin wir auch gehen, in welchem Loch wir uns auch verstecken, das Böse kommt und holt uns aus der Ruhe und der Freundlichkeit. Es wächst niemals Gras über unsere Wunden. Irgendjemand kommt sie wieder aufzureissen. Ich dachte hier würde ich Ruhe finden, würde mich mir und den Kartoffeln widmen können.

MÜLLER: Er wird gehen und du wirst deinen Frieden haben.

GRASBERG: Was du da redest.

MÜLLER: Du traust mir nicht. Wir werden einander niemals nah kommen. Ich bin dein kleiner Junge. Du machst mir Tee, kochst für mich, wäschst die Wäsche. (Pause) Sprich mit mir. Sag mir was in dir vorgeht, was dich beschäftigt, woran du denkst.

GRASBERG: Ich denke nicht.

MÜLLER: Das ist nicht wahr. Du sprichst im Schlaf, manchmal schreist du sogar.
Dann gehe ich zu deinem Bett, halte deine Hand und streichle dir über
den Kopf. Hinter der Stirn sehe ich diese dunkle Welt liegen die dich martert. Hab Vertrauen.

GRASBERG: Das sagt sich so einfach. Dir geht es doch nicht um mich. Du brauchtest Hilfe, die habe ich dir gegeben. An nichts anderem warst du interessiert.
Es ist in Ordnung, du bist mir nichts schuldig.

MÜLLER: Ich war am Boden und fast hätte mir die Kraft gefehlt mich am Leben zu halten. Mich hat nichts mehr interessiert. Du hast mich gerettet und dafür werde ich dir immer dankbar sein, aber trotzdem bist du mir was schuldig.

GRASBERG: Und das wäre?
MÜLLER: Ehrlichkeit.

GRASBERG: Als hätte ich dich belogen.

MÜLLER: Du hast geschwiegen.

GRASBERG: Was willst du damit sagen?

MÜLLER: Möchtest du noch Tee?

GRASBERG: Ja. (MÜLLER schenkt ihr ein)

MÜLLER: Ich habe sie bei ihr gefunden. Sie muß sie kurz vor ihrem Tode gelesen haben.

GRASBERG: Du solltest sie niemals zu Gesicht bekommen.

MÜLLER: Ich habe die Briefe gelesen. Ich habe sie alle gelesen.

GRASBERG: Jedes Wort, jeder Buchstabe nichts als Fiktion.

MÜLLER: Du hast ihr die Liebe zu mir nicht gegönnt, deshalb wolltest du diese Liebe zerstören.

GRASBERG: Diese Briefe habe ich ihr nicht gegeben, sie hat sie sich genommen.
Sie war bei mir zu Besuch und suchte nach Fotografien aus unserer
Kindheit. Dabei hat sie die Briefe gefunden und eingesteckt. Daß die
Briefe weg waren, habe ich erst nach ihrem Tod bemerkt. Ich dachte mir
nichts dabei.

MÜLLER: Das glaube ich dir nicht. Die Briefe waren als Geschäftspost getarnt an mich adressiert.

GRASBERG: Fast hätte ich sie abgeschickt.

MÜLLER: Ich habe niemals etwas Zärtlicheres gelesen als diese Briefe.

GRASBERG: Mir tat alles weh vor Liebe. Tag und Nacht dachte ich an dich. Für dich gab es nur sie. Da saß ich mit meinen Gefühlen. Kein Weg. Keine Möglichkeit. Du gehörtest ihr und sie war meine Schwester. Ich versuchte alles dich zu vergessen, doch je größer die Mühe, desto größer der Schmerz. Die Reise nach Italien war eine Flucht vor dir. Ich blieb länger als ich ertrug, weil ich Angst hatte vor der Rückkehr. Da waren Männer, die mir halfen dich aus meinen Gedanken fernzuhalten. Viele Männer. Mich ekelte vor ihnen.

MÜLLER: Ich verstehe das alles nicht. Wir sind uns nie nahgekommen, haben nie mehr miteinander gesprochen als unbedingt nötig.

GRASBERG: Es ist … Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht war es deine Weichheit.

MÜLLER: Du hast nichts preisgegeben.

GRASBERG: Sie hat es mir verboten.

MÜLLER: Sie hat es gewußt?

GRASBERG: Sie kannte mich, wie ich sie kannte. Sie wußte es bevor ich es gewußt habe. Kam ich nur in deine Nähe, strafte sie mich mit Blicken, die ich nie vergessen werde.

MÜLLER: Sie war nicht eifersüchtig. Immer wieder sagte sie, ich solle mit anderen Frauen schlafen, solle mich nicht auf sie fixieren.

GRASBERG: Wir waren Schwestern und es wäre nicht um eine Nacht gegangen.

MÜLLER: Was ist aus der Liebe geworden?

GRASBERG: Ein Kartoffelacker. Du hast sie nicht getötet?

MÜLLER: Nicht in jener Nacht.

GRASBERG: Weshalb bist du fortgelaufen?

MÜLLER: Der Formalitäten wegen. Der Banalitäten wegen. Man hätte mich gefragt wie es dazu gekommen ist und wo ich war als es geschah. Das hätte ich nicht ertragen. Als ich sie fand war der Körper noch warm. Ich war in der Werkstatt und machte einen Auftrag fertig. Der Kunde hatte am Morgen gedrängelt, weshalb ich bis in die Nacht arbeitete. In der Wohnung war es dunkel. Ich dachte sie würde schlafen. Ich öffnete die Schlafzimmertür, aber da lag etwas im Weg. Als ich das Licht anmachte sah ich ihre leblosen Beine. Die Füße waren merkwürdig nach außen verdreht. Die Tür ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Da hing sie an der Türklinke. Ich löste die Schlinge und trug sie in die Küche, legte sie auf den Tisch neben ihre Tasse und die Briefe. Die einzelnen Blätter waren zerfleddert, mit Kaffee bekleckert. Sie muß sie immer und immer wieder gelesen haben.

GRASBERG: Du glaubst die Briefe waren schuld? Ich bin schuld an ihrem Tod?

MÜLLER: Wenn ich wüßte wer an ihrem Tod schuld ist. Ich habe mit ihr zusammen-
gelebt, war ihr Mann, ihr Geliebter. Sie zog sich in sich zurück, lächelte
und wehrte ab. Das Leben langweilte sie. Ich hatte meine Bücher an die
ich glaubte, die Arbeit, den Umgang mit Menschen. Sie hatte Ideen, die
sich nicht verwirklichen ließen. Hoffnungen, Phantasien, Utopien. Ich
wollte ein Buch mit ihr machen. Sie wollte das nicht, wollte ihre Welt
für sich behalten. Diese Welt hat sie mit in den Tod genommen. Ich
konnte ihre Tagebücher nirgends finden. Sie hat sie verschwinden lassen,
weil sie wußte, daß sie geht. Es war alles geplant. Sie hat ihr Leben
komplett ausgelöscht.

GRASBERG: Das alles macht mir Angst.

MÜLLER: Vielleicht sollten wir doch nach Schweden gehen.

GRASBERG: Wäre ich mit dir nach Italien durchgebrannt, das hätte Sinn gegeben.
Sie würde noch leben und wir hätten eine Verrücktheit begangen, die
uns das Leben heute erträglicher machen würde.

MÜLLER: Du meinst wir wären ein glückliches Paar.

GRASBERG: Nein. Vielleicht wären wir glücklich geschieden und hätten allen Grund unser Alleinsein zu genießen.

MÜLLER: Ich liebe dich.

GRASBERG: Du brauchst mich.

MÜLLER: Brauchst du mich?

WÄCHTER: (kommt herein) Ich halte es nicht mehr aus.

MÜLLER: Lassen Sie uns allein.

WÄCHTER: Ich kann jetzt nicht allein sein. Es ist schlimmer als im Gefängnis.

GRASBERG: Es ist wie es ist.

MÜLLER: Wir können es ändern. Erinnere dich an die Briefe.

WÄCHTER: Was für Briefe? Ich kann nichts mehr ändern.

GRASBERG: Seien Sie doch endlich still.

WÄCHTER: Ich habe siebenmal abgedrückt.

GRASBERG: Die Vorstellung, daß Sie Lucie umgebracht haben ist unerträglich.
Ich sollte Sie erschießen. (WÄCHTER nimmt die Waffe.)

WÄCHTER: Ich sollte Sie erschießen, dann wäre der Weg frei.

MÜLLER: Sie müßten uns beide erschießen. Mit einer Kugel. Sollen wir uns hintereinander stellen? (stellt sich vor Grasberg) So?

WÄCHTER: Machen Sie sich nur lustig. Es könnte passieren, daß ich Sie mit bloßer Hand erschlage. Mir kann es gleichgültig sein, ob zu der Toten eine Tote und ein Toter hinzukommt. Das sind nur Zahlen.

(GRASBERG und MÜLLER stehen immernoch hintereinander.
Wächter hat die Pistole auf MÜLLERS Brust gerichtet.)

GRASBERG: Du lächerlicher Schlappschwanz. (GRASBERG tritt zur Seite)

WÄCHTER: Provozieren sie mich nicht. Ich warne Sie.

(WÄCHTER zielt weiterhin auf MÜLLERS Brust.)

GRASBERG: Du lächerlicher Schlappschwanz.

WÄCHTER: Sie wollen mich in die Katastrophe treiben. Ihn soll ich umbringen, für Sie umbringen, (richtet die Waffe auf GRASBERG) damit Sie freie Bahn haben. Ich habe Sie durchschaut, von Anfang an durchschaut. Er ist für
Sie ein Spielzeug, eine Art Teddybär, den Sie nur für sich haben, weil er
nicht weg kann. Weil er auf Sie angewiesen ist. Wären wir zu dritt nach Schweden gegangen, dann hätte er seine Freiheit zurückbekommen.
Das wollten Sie nicht. Ihr Lieblingsspielzeug hergeben. Und nun ist hier
ein neues Spielzeug, eine neue Marionette. Welch ein Glücksfall. Wieder
kann das Tierchen nicht weg, kann nicht um Hilfe schrei´n. Wie praktisch.
Zum täglichen Zeitvertreib gibt es die Zeitung und Tee und Kekse. Ab und
an ein neues Mäntelchen. Und wie ist das Tierchen im Bett? Hat es ein
schönes langes steifes Rohr? Na, ist er gut? (schaut auf Müller, senkt die Waffe) Sie lassen das alles mit sich machen. Ich hätte Sie befreit, wäre wie ein Bruder zu Ihnen gewesen. Ich bin geschickt, kann organisieren. Ein ganz neues Leben hätte auf uns gewartet. Es ist nicht zu spät. Wir nehmen ihr die Schlüssel und das Geld ab, erschießen sie und fahren los. In zehn Minuten könnten wir fertig sein und im Auto sitzen. Dann wäre Schluß
mit diesem Loch hier. Das Leben würde beginnen, die Freiheit. Wie lange wollen sie denn noch Kartoffeln fressen und auf ihre Befehle hören.

GRASBERG: Ihre Rechnung geht nicht auf. Er hat keinen Grund fortzugehen, weil er kein Mörder ist.

WÄCHTER: Hören Sie nicht hin. Sie lügt. Mir hat sie etwas ganz anderes erzählt.

MÜLLER: Er hat recht.

WÄCHTER: Ja, mir können Sie vertrauen. Ich bin bereit sie zu erschießen.
Kein Problem.

MÜLLER: Hier halte ich es nicht mehr lange aus. Der Winter steht vor der Tür.

GRASBERG: Was willst du tun? Mich erschießen? Dich in die Hände dieses Wirrkopfs begeben?

MÜLLER: Grasberg, wir könnten ihn erschießen und dann nach Schweden gehen. (grinst)

GRASBERG: Schweden.

WÄCHTER: Das werden Sie bereuen. Ich habe ihnen meine Freundschaft angeboten.
Das werden Sie bereuen.
(läuft zur Eingangstür hinaus, die Waffe in der Hand)

GRASBERG: Er wird dich verraten.

MÜLLER: Na und.

GRASBERG: Wir müssen etwas unternehmen.

MÜLLER: Laß uns miteinander schlafen.

GRASBERG: Und dann?

MÜLLER: Sehen wir weiter.

BLACK.
(Es ist dunkel im Raum. GRASBERG und MÜLLER schlafen im Nebenzimmer. Durch das Fenster hindurch sieht man, daß der Kartoffelacker brennt. Von draußen hört man einen Schrei. MÜLLER kommt aus dem Nebenzimmer. Er hat eine Schlafanzughose an, der Oberkörper ist frei. Vom Haken im Zimmer nimmt er den Bademantel und zieht ihn über. MÜLLER geht vor die Tür und kommt nach einer Weile wieder herein. In der Hand hält er einen leeren Benzinkanister. Inzwischen ist GRASBERG ins Zimmer gekommen. Sie hat ein Nachthemd an.)

MÜLLER: Er hat den Acker mit Benzin übergossen und angezündet. Die Pflanzen stehen in Flammen.

GRASBERG: Er kann sie nicht alle angezündet haben, der Acker ist zu groß.

MÜLLER: Ich habe ihn noch weglaufen sehen. Hoffentlich kommt keine Polizei.

GRASBERG: Über den Pflanzen liegt der Nachttau. Sie werden nicht lange brennen. – Und wegen der Polizei mach dir keine Gedanken. Ein Verrückter hat den Acker angezündet. Das ist alles.

MÜLLER: Ebenso könnte der Verrückte das Haus anzünden. Er sagte, daß wir es bereuen würden.

GRASBERG: Nichts bereue ich. Im Gegenteil. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir mit ihm gegangen wären. Er ist es, der für diese Welt nicht gemacht ist. Um sich das nicht einzugestehen hat er Lucie umgebracht.
Sie war die Hündin, die er getreten hat.

Müller: Der ist irre. Draußen läuft ein Irrer herum, der es auf uns abgesehen hat.

GRASBERG: Die Waffe. Er hat die Waffe mitgenommen als er hinauslief.

MÜLLER: Er hat noch einen Schuß.

GRASBERG: Vielleicht wird ihm der verbrannte Acker genügen.

MÜLLER: Er hat nichts mehr zu verlieren. Wir sind die Einzigen auf dieser Welt, zu denen er noch eine Beziehung hat. Und diese Beziehung hat reichlich merkwürdige Formen angenommen.

GRASBERG: Laß uns heute Nacht wachbleiben.

MÜLLER: Den Kartoffelacker hat er angezündet, weil er wußte, daß er
dein Liebstes ist.
GRASBERG: Das ist nicht wahr. Der Acker ist nicht mein Liebstes. Die Arbeit auf dem Feld hat mir Ruhe gegeben. Mit den Händen in der Erde wühlen und das Grün wachsen sehen. Erst sind die Pflanzen klein und zerbrechlich. Dann wuchern sie und bekommen Blüten. Man fühlt sich verantwortlich. Zupft Unkraut, besorgt Mist. Für die Pflanzen ist man wichtig, weil sie auf Hilfe angewiesen sind.

MÜLLER: So wie ich.

GRASBERG: Bei dir ist es anders.

MÜLLER: Du hast mich auch aufgepeppelt und umsorgt. Wie ein kleines Kartoffelpflänzchen. All der Tee und all die Pflänzchen.

GRASBERG: Du wirst albern.

MÜLLER: Ich fühle mich neu. Befreit.

GRASBERG: Ich brauche dich, nicht irgendeinen Menschen. Früher haßte ich mich für meine Einsamkeit, so wie ich sie vor ihrem Tod haßte, weil sie glücklich
war. Glücklich zu sein schien. Deine und ihre Welt war mir fremd und verschloßen. Ihren Tod verstand ich nicht, genausowenig, wie ich dein Verschwinden verstand.

MÜLLER: Es läßt sich nicht erklären.

GRASBERG: Dein Anruf gab mir eine Ahnung davon, wie groß eine Verzweiflung sein kann. Wie unwichtig, wie klein erschien mir dagegen meine Einsamkeit.

MÜLLER: Dieser albernen Einsamkeit wegen hat sie sich das Leben genommen.

GRASBERG: Ihr seid zu zweit gewesen. Zusammen.

MÜLLER: Wir hatten eine Wohnung, ein Konto und ein gemeinsames Bett. Aber wir waren uns fremd, kannten uns nicht. Ich war zufrieden mit meinem
Leben, mit unserem Leben. Sie war es nicht. Ihr fehlte Nähe, Wärme.
Unsere Gedanken haben sich niemals gefunden. Ihre Kräfte schwanden
von Tag zu Tag. Sie zog sich zurück, in sich zurück. Ich merkte es viel zu
spät, weil ich zu sehr mit mir beschäftigt war. Das Geschäft, die Ideen,
meine Utopien, Spinnereien. Ich war blind, sah nur mich.

GRASBERG: Ich hatte niemals irgendwelche Ideen.

MÜLLER: Jeder Mensch hat Ideen.

GRASBERG: Ich nicht. Hätte ich welche, es wäre alles anders.

MÜLLER: Es ist wie es ist.

GRASBERG: Für den Augenblick ist es so und dann ändert sich wieder alles.

MÜLLER: Ich habe sie geliebt, aber ich habe sie niemals verstanden.

GRASBERG: Ich habe mir ein Leben lang gewünscht geliebt zu werden. Aber ich habe
am Leben nicht teilgenommen. Habe nur beobachtet, zugeschaut. Stand draußen vor der Tür und sah durch einen winzigen Spalt. Ich hatte nicht den Mut hereinzutreten. Mich auszuliefern. Ja zu sagen. Draußen vor der Tür steht man im Regen. Da wird man naß, aber nicht dreckig.

MÜLLER: Hast du uns auch beobachtet?

GRASBERG: Dazu fehlte mir der Kontakt. Sie hielt mich von dir fern. Dir konnte das nicht auffallen, weil du mich nicht wahrgenommen hast. Ich wollte das nicht ändern. Es hätte dir selbst auffallen müssen.

MÜLLER: Du schriebst die Briefe.

GRASBERG: Ich habe sie nicht abgeschickt.

MÜLLER: Aber du hast sie geschrieben.

GRASBERG: Möchtest du Tee?

MÜLLER: Ob ich Tee möchte. Es ist jetzt alles so anders. Du hast mich immer
gefragt, ob ich Tee möchte. Und nun reden wir miteinander. Die Dinge überschlagen sich. Ich weiß nicht was ich tun soll, was ich sagen soll.

GRASBERG: Wir müßten lernen zu sprechen.

MÜLLER: Müßten?

GRASBERG: Du kannst jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ich habe die Tür
geöffnet. Ich liebe dich.

(draußen fällt ein Schuß. MÜLLER läuft hinaus. Kommt wieder herein.)

MÜLLER: Er hat sich erschoßen. Die Kugel durch den Kopf.

GRASBERG: Und nun?

MÜLLER: Laß uns gehen.

BLACK.

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