Die Lehrerin hatte es vor den Sommerferien angedeutet. Es kommt eine neue Schülerin, ein Mädchen aus der Stadt, aus Berlin. In der Klasse wurde getuschelt, es gab Gerüchte. Berlin, Drogen, Sumpf, Moloch. Cat hörte die Kommentare in den Pausen, das Flüstern. Merkwürdigerweise war ihr diese neue Schülerin nicht gleichgültig. Von Anfang an nicht, als die Lehrerin, Frau Saalbach, von ihr erzählte. Sie hatte gesagt “Die neue Schülerin heißt Susanne Schuhmacher. Ihre Mutter zieht aus beruflichen Gründen hierher und wir werden Susanne aufnehmen, als hätte sie schon immer in diese Klasse gehört. Ich erwarte Kollegialität, Unterstützung und Freundlichkeit. Ihr wisst, was ich meine. Von Anfang an, keine Spielereien, keine testenden Provokationen. Ihr seid in einem Alter, in dem das möglich sein muss”. Ihre Mutter. Sie hatte gesagt, dass die Mutter aus beruflichen Gründen herzieht. Und der Vater? Hatte Susanne einen Vater? Noch nie waren Cat wegen einer Mitschülerin, sogar wegen einer, die noch gar nicht da war, so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Sie lächelte und ihre Lehrerin fragte gleich “Catherine, ist etwas mit dir?” Die Klasse horchte auf. Sie war angesprochen worden. Würde sie reden? Den Gefallen wollte sie niemandem tun, sie wollte ihr Schweigen nicht brechen, ihre Isolation nicht aufgeben, ihren Panzer, den Schutzraum, das Innere des Igels nicht verlassen.
Cat war aufgeregt. Es war ihr unerklärlich. Sie flog in den Ferien mit ihren Eltern auf die Kanaren. Der Vater hatte von einem Anwaltskollegen, den er aus Studienzeiten kannte, ein Haus am Meer gemietet. Luxuriös mit vielen Zimmern, Pool, Garten und eigenem Weg zu einer kleinen Sandbucht. Cat versuchte, sich abzulenken, nicht an die Neue, an Susanne, zu denken. Es gelang ihr kaum. Ihr Vater war wieder so gut wie nie da. Er nutzte die Gelegenheit, zu golfen. “Das ist für mich die pure Entspannung, wo ich sonst doch immer arbeite und so viel um die Ohren habe. Einmal im Jahr brauche ich das. Ich hoffe, ihr habt Verständnis?” Ihre Mutter nickte. Cat war es egal. Sie wollte eh lieber allein sein. Am Strand, am großen Felsen. Einfach dort liegen und denken. Es war eine neue Situation. Sie entdeckte in sich das Gefühl von Hoffnung. Es könnte sein, dass da ein Mensch kommt, der sie versteht. Der sie beachtet, ihr vielleicht sogar nah sein will. Sie hatte Angst, so zu denken. Es stand zu viel auf dem Spiel. Wenn sie nun ein Konstrukt errichtete, ein übergroßes Gebäude, dass dann zusammenbrechen würde. Was wäre dann? Was würde sie dann tun? Es war nicht auszudenken, allein der Gedanke schmerzte, drohte Risse in ihr Inneres zu treiben.
Nach den Ferien war keine Susanne da. “Sie kommt nächste Woche erst, weil in Berlin die Ferien später begonnen haben.” Sie hielt es kaum aus, war nervös, fahrig, launisch wie nie. Schrie ihre Mutter an, schleuderte einmal sogar ihr Mittagessen vom Tisch, weil ihre Mutter gefragt hatte “Cat, was ist mit dir los?” Sie war weinend in ihr Zimmer gelaufen, hatte sich eingeschlossen und sich so abhängig gefühlt. Von ihrem Inneren, von ihren Wünschen, von ihrer Verletzlichkeit. Sie hatte eine Vorstellung, eine Fatamorgana in sich herein gelassen, hatte wie beim Glücksspiel alles auf eine Karte, eine Zahl gesetzt.
Den Rest der Woche hatte ihre Mutter sie in der Schule krank gemeldet. Cat saß in ihrem Zimmer, schaute aus dem Fenster in den Garten und sah den Septemberregen kommen. Zu allem Überfluss verstärkten tiefe dunkle Wolken über der Stadt die dunkle Stimmung. Sie saß dort, bewegte sich nicht, sah den Regen an den Scheiben runter laufen, aß wenig. “Cat, ich weiß, du willst nicht reden, aber du musst. Was ist los?” Cat schwieg. Sagte kein Wort, blieb einfach teilnahmslos sitzen. Wieder verließ ihre Mutter das Zimmer, weil sie die Spannung im Raum nicht ertrug. Dann kamen die Tränen. Cat weinte und weinte. Warf sich aufs Bett, vergrub sich in den Decken und schlief und schlief.