Werte Leserinnen, werte Leser. Ich habe es mehrfach angedeutet, aber mich bislang nicht wirklich getraut, darüber zu schreiben. Fast ist es ein Outing, wüssten die meisten Menschen, die hier regelmäßig vorbeischneien, es nicht eh schon: Meine Kinder besuchen eine Waldorfschule. Ich schreibe das in diesem vorsichtigen Stile, weil diese Beichte in der Erfahrungswelt meiner Vergangenheit oft zu Beschimpfungen führte. Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das ich mir mittlerweile so erkläre: Es wird als Vorwurf verstanden. Als Abgrenzung zu den normal üblichen Schulen. Es entsteht eine Verteidigungshaltung, weil, so glaube ich, das Gefühl aufkommt, die eigene Wahl einer staatlichen Schule würde durch die Wahl einer Freien Waldorfschule kritisiert. Hinterfragt.
Deshalb gehe ich dem Thema aus dem Weg und sage anderen Menschen im persönlichen Gespräch nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass meine Kinder eine andere Schule besuchen. Darauf folgt die Frage: Ach ja, welche denn? Dann sage ich es und sehe ein Zucken. Als hätte ich eine moralische Verurteilung ausgesprochen. Ich möchte niemanden verurteilen. Ich möchte mich auch nicht über irgendjemanden stellen. Ich möchte auch niemandes Schulwahl bewerten oder gar verurteilen. Ich möchte nur meine Kinder auf die Schule schicken, die ich für passend empfinde. Passend für sie, für uns.
Heute nun schreibe ich über die Waldorfschule, weil ich ein sehr schönes, bewegendes, intensives Erlebnis hatte. Am letzten Wochenende war der Termin der öffentlichen Vorträge der achten Klasse. Es gehört zum Waldorflehrplan in diesem Schuljahr, eine Biographiearbeit zu schreiben. Der Sinn und Zweck ist es, dem besonderen Lebensalter von 14 Jahren ein besonderes Erlebnis, eine besondere Herausforderung, eine besondere Erinnerung zu geben. Mit 14 wird die Verabschiedung der Kindheit eingeläutet – aus Kindern werden Pubertierende, Erwachsene. An dieser Nahstelle persönlicher Entwicklung ist die Biographiearbeit eine Art Orientierungshilfe.
Die Schüler/innen haben sich im Herbst einen Menschen gesucht, mit dessen Leben sie sich beschäftigten wollten. Jim hat Marie Curie gewählt. Andere Barack Obama, Udo Lindenberg, Walter Röhrl, Anne Frank, Gustav Gründgens, Brigitte Bardot…
Nach den Herbstferien haben die Schüler/innen einen Zeitplan für sich erarbeitet – Recherche, das Schreiben der Arbeit, Entwicklung eines praktischen Teils, Vorbereitung des öffentlichen Vortrags. Zwar haben die in den letzten Jahren mehrere Referate geschrieben und gehalten, aber keines von einem solchen Umfang. Rund 15 DIN A4-Seiten. Abgabetermin war Anfang Februar, die 15-minütigen Vorträge wurden dann letzten Freitag und Samstag gehalten (38 x 15 Minuten!). Im großen Eurythmiesaal. Die praktischen Arbeiten wurden im Mehrzweckraum präsentiert. Jim zeigte ein großes Foto von Marie Curie in ihrem Labor und ein selbst gefertigtes Atommodell (etwa 60 cm hoch) des Elementes Radium, das Marie Curie entdeckt hat. Dafür und für die Entdeckung des Poloniums erhielt sie jeweils einen Nobelpreis. Als erste Frau.
Ich war ziemlich überrascht, als mir Jim sein Radium-Modell erklärt hat. Er war tief eingestiegen in die Materie. Sprach von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung, von Helium4-Kernen, von ionisierender Strahlung, Neutronen, Protonen, Elektronen. Er war so fasziniert und ergriffen. Parallel ließ er auf seinem Laptop eine Powerpointpräsentation mit Fotos und den wichtigsten Stationen der Forscherin ablaufen. Am intensivsten jedoch waren die Vorträge. Es gab eine Bühne mit einem großen Rednerpult. Hier standen die Vortragenden und sprachen fünfzehn Minuten vor über 100 Menschen. Mit 14 Jahren. Sie hatten zu zeigen, was sie über den Menschen, mit dem sie sich beschäftigt hatten, herausgefunden haben. Was da vom Rednerpult herunter kam, war beeindruckend. Meist verschwand nach den ersten Sätzen die Aufregung und Begeisterung für das Thema brach heraus.
Für die Schüler/innen war es ein Sprung ins kalte Wasser. Die hatten richtig Schiss. Verständlich, hätte ich auch gehabt. Aber, sie haben es alle gemacht. Und sie haben sich alle gegenseitig zugehört und so die Biographien von 38 Menschen kennengelernt. Haben Höfen und Tiefen menschlichen Seins erlebt, haben gehört und gesehen, wie es im Leben laufen kann. Besonders eindrucksvoll war die Präsentation eines jungen Mannes, der sich Johnny Cash vorgenommen hat. Der Saal hing an seinen Lippen, es war magisch. Am Ende sang er einen Johnny Cash Song. Den aus dem Gefängnis. St. Quentin. Er sang, spielte Gitarre und ließ sich durch seinen Bruder auf der E-Gitarre begleiten. Wunderbar. Ein Stück sichtbar gewordene Menschwerdung. Das Reifen, Formen, Festigen von Persönlichkeit.
Als Jim seinen Vortrag nahezu ohne einen Blick auf sein Konzeptpapier gehalten hatte, war ich ziemlich ergriffen. Ich weiß noch, als ich ihn nach der Geburt im Arm hielt. Und nun stand er da oben und sprach, als habe er nie etwas anderes gemacht. Mächtig stolz war ich und froh, dass er diese Schule besucht, die ihm diese Möglichkeiten der Wegfindung bietet. Im nächsten Monat wird die Klasse das Theaterstück Die Welle einstudieren. Wieder werden sie an ihre Grenzen gehen und Ängste überwinden müssen. Alle haben eine Rolle. Auch der Mathefreak muss raus auf die Bühne. Jim wird den Lehrer spielen, der sich verleiten lässt und verleitet. Zu unguten Dingen. Dieses Mal werden mehrere hundert Menschen im großen Theatersaal sein und zusehen, wie sich Schüler/innen wieder einen Schritt weiter nach vorne in ihr eigenes Leben bewegen. Ausprobieren, erleben, erfühlen. Sehe ich am Ende der Schulzeit die jungen Menschen auf der Bühne, weiß ich, dass sie gut gerüstet sind. Das gibt mir ein gutes, schönes Gefühl, aus dem heraus mir dieser Text wichtig war.




