Mir blutet das Herz. Gestern saß ich den ganzen Tag am Twitter-Ticker und habe die Geschehnisse in Stuttgart verfolgt. Kürzlich erst hatte ich Brecht zitiert, als ich über Lyrik schrieb. Bertolt Brecht: “Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist – weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?” Nun müssen wir über Bäume sprechen, die heute Nacht unter Polizeischutz gefällt wurden. Tausende Menschen harrten in der Nacht vor Ort und skandierten “Schämt euch!”. Darunter, wie Spiegel-Online berichtet, nicht alleine die gerne genannten Chaoten, auf die sich so einfach alle “Schuld” schieben lässt.
Nein, es war ein Proporz, ein Abbild der Bevölkerung. Ein Zitat aus einem Spiegel-Bericht vom Morgen: “Die Gruppe ist bunt gemischt. Eine Frau stammelt “oh nein, oh nein”, mit Tränen in den Augen. Wenige Meter weiter stehen Alfred und Ingrid Funkel, ein Rentnerpaar. Sie seien früher nie auf die Idee gekommen zu demonstrieren, sagen beide. “Aber das hier ist eine Sauerei.” Unter den Protestierenden sind viele ältere Menschen.” Und sie schreien die ganze Nacht. Pfeifen und skandieren “Schämt euch!”.
Nun schreibe ich wieder über Politik. Eigentlich gegen meinen Willen, weil ich mein Leben in Frieden leben möchte. Gerne erinnere ich mich an die deutschen WM-Bilder – ein Volk in Harmonie und Feierlaune. Aber dann lasse ich mich reinziehen. Höre von Kindern, die mit Schlagstöcken von der Polizei verprügelt wurden. Ich denke an Jim und Zoe, die mit blutigen Köpfen nach Hause gekommen wären. Ja, ich spüre Zorn. Ich sehe einen Ministerpräsidenten Mappus, der am gleichen Tag erst zum Bauerntag geht und sich zur Solidarisierung mit den Agraökonomen ein Maß Bier reinpfeift, um dann zur Attacke zu blasen. Mit aller Härte, um Recht und Ordnung durchzusetzen. Kinder schlagen lässt, um mit einer “Law- and Order-Wahlkampfstrategie” alles auf eine Karte zu setzen.
Das Demonstrationsrecht gehört zu den zentralen Eckpfeilern einer Demokratie. Wer bereit ist, Kindern, die ihre politische Meinung lautstark kundtun, das “Demonstrationsrecht auszuprügeln”, der überschreitet eine Grenze. Gestern war ein rabenschwarzer Tag für die Demokratie in Deutschland. Gleichzeitig hat das, was in Stuttgart passiert ist, hoffentlich aufgerüttelt. Es ist nur so wenig, was genügt, Demokratie auszuhebeln. Ein Ministerpräsident entscheidet letztlich, das Volk zu verprügeln. Das geht nicht! Überhaupt nicht. Ich rufe laut mit den Demonstrierenden in Stuttgart “Schämt euch!”
Wenn es in einer Demokratie Auseinandersetzungen wie in Stuttgart gibt, dann stimmt an dem politischen Vorhaben etwas nicht. Da ist etwas faul im Staate Dänemark. Demokratie geht sicherlich den falschen Weg, wenn sie Meinungen mit Gewalt durchsetzt. Für mich ist das Projekt Stuttgart 21 gestorben. Einen Bahnhof, an dem Blut klebt, will ich nicht. Einen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, an dessen Fingern Blut klebt, auch nicht. Ich bin froh, dass das Thema im Bundestag besprochen wird und Demokratie hoffentlich zeigen kann, was in ihr steckt. Die Bäume sind gefällt, vielleicht glauben die politisch Verantwortlichen, sie hätten gesiegt. Ich sage, das haben sie mitnichten. Dümmer hätten sie sich nicht anstellen können. Es kommt alles zurück. Nichts bleibt ohne Antwort – im Guten wie im Schlechten.
Heute Morgen hatte ich über einen schönen Abend mit der Familie schreiben wollen. Über einen kleinen Zeitraum Idylle. Ich hatte mir schon alles geistig zurechtgelegt. Aber dann konnte ich es nicht. Ich musste über Stuttgart schreiben und meinen Blog politisieren. Ich hoffe, das muss ich jetzt nicht dauernd. Ich wünsche euch einen Tag, an dem ihr euch für Demokratie einsetzt, eine Meinung kundtut, euch einmischt. Ciao.