Jean Paul Sartre: Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.

Punkt. Doppelte Unterstreichung. Wir befinden uns mitten im Philosophieunterricht der neunten Klasse meines Sohnes Jim. Gestern holte ich ihn nach dem Gitarrenunterricht – den er wegen eines Spaziergangs mit einer Freundin und ihres Hundes verpasst hatte – von der Schule ab. Wir beiden neigen dann dazu, zu diskutieren. Letzte Woche hatte er mir eine Predigt gehalten, weil ich über einen Autofahrer geschimpft hatte, der auf der Autobahn schon in der Auffahrt gedrängelt hatte. „Papa, du machst es nur schlimmer. Du setzt nur Aggressionen in die Welt.“ Danke.

Nun also der Satz von Jean Paul Sartre, der als Symbol des Existenzialismusses in die Geschichtsbücher eingegangen ist: „Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.“ Jim ist jetzt in der neunten Klasse, wird bald 15. Nach antroposophischer Denkart hat sein drittes Lebens-Jahrsiebt begonnen und damit die Phase der Ich-Ausrichtung. Wer bin ich? Was will ich? Er ist jetzt kein Kind mehr, sie sind keine Kinder mehr. Junge Frauen und junge Männer mit zunehmend eigener Weltsicht. Deshalb haben sie nun auch keinen Klassenlehrer mehr, sondern einen Betreuungslehrer und eine Betreuungslehrerin. Neues Personal. Und jetzt geht es plötzlich ans Eingemachte. Jim fliegt die Welt um die Ohren. Dauernd so Fragen, die im Raum stehen, die aus dem Hintergrund kommen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Kunstgeschichte: In einer der ersten Stunden haben sie Höhlenmalerei betrieben. Mit selbst hergestellten Farben auf Tonflächen gemalt. Lascaux. Die Anfänge. Nachfühlbar. Wie haben die Höhlenmenschen gedacht, weshalb haben sie gemalt? Was wollten sie ausdrücken? Jetzt sind sie über Ägypten in Griechenland gelandet. Ontogenese und Phylogenese – die Entwicklung des einzelnen Menschen enthalten in der Entwicklung der gesamten Menschheit.

Wir saßen im Auto und er sagte mir, dass es um Entscheidungen gehen würde. Wir hätten im Grunde nicht die Freiheit zu entscheiden, wir müssten entscheiden. In jeder Sekunde. Stehe ich auf? Bleibe ich liegen? Nehme ich den Zug? Lasse ich ihn fahren? Existenzialismus. Entscheiden wir nicht, wird für uns entschieden. Kant: „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Mein Innerstes wehrte sich, empfand es als unschön, vielleicht unromantisch, die Freiheit über einen Entscheidungszwang zu definieren. Jim ließ nicht los. Ich wollte in eine andere Richtung. Ins Politische. Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern.“

Jim ließ sich nicht drauf ein. Blieb bei Sartre und dem Satz. Recht hatte er. Denn: Die Message ist so zentral. Wir entscheiden! Aktiv. Kein Passiv. Nicht: Ich werde gegangen, sondern ich gehe. Das macht Jim gerade. Er geht. In sein Leben. Gestaltet sein Denken, entwickelt seine Ansichten, sein Fundament, seine Individualität. Entscheidet, was er mit seinem Leben anfangen möchte. Schritt für Schritt. Er leuchtet. Ist von diesen Ideen fasziniert, energetisiert. Wir bogen von der Landstraße ab in Richtung unseres Dorfes. Ich neckte ihn: Wir können nun entscheiden – geradeaus den verbotenen Weg hoch, rechts um die Kurve die erlaubte Strecke oder runter ins Nachbardorf zum Bäcker. Er lächelte und sagte: Tja, da sind wir wohl zur Freiheit verdammt. Also nehmen wir den Bäcker. Ich glaube, der Junge hat den Existenzialismus schon verinnerlicht.

P.S. Beim Bäcker stand unser anderes Auto und Ela und Zoe kamen raus. Sie hatten Brot für das Abendessen gekauft. Und Kuchen! Nur für sich! Erwischt! Jim und ich wollten selbstverständlich Teilchen für alle kaufen. Ela und Zoe meinten, das wäre ja nur für unterwegs gewesen. So! Die Bäckersfrau fragte dann, als Jim und ich reinkamen, ob wir jetzt getrennt einkaufen würden – wir mussten dann petzen, dass die Mädels uns schlicht vergessen haben, weshalb wir das eben selbst in die Hand nehmen mussten. Zwei fette Teilchen. Jim hat Kakao gemacht, Teller hingestellt. Wir saßen am Tisch, aßen Kuchen und sprachen über die Freiheit… Jean-Jacques Rousseau: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“

Möchtet ihr in das Thema weiter eintauchen, findet ihr hierf Infos: Sartre und Rosa Luxemburg.

P.S.

Das berühmte Zitat von Jean-Paul Sartre lautet im Deutschen korrekt:
„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“
Im französischen Original heißt es:
„L’homme est condamné à être libre.“

Die wörtliche Übersetzung des französischen Originals ins Deutsche wäre tatsächlich „verurteilt“ und nicht „verdammt“. Das Verb „condamner“ bedeutet im Französischen „verurteilen“. Daher ist die korrekte deutsche Übersetzung „zur Freiheit verurteilt“.
Dieses Zitat stammt aus Sartres Werk „L’existentialisme est un humanisme“ (Der Existentialismus ist ein Humanismus) von 1946. Es bringt einen zentralen Gedanken von Sartres Existenzphilosophie zum Ausdruck: Der Mensch ist frei, aber diese Freiheit ist zugleich eine Last, der er sich nicht entziehen kann. Er ist gezwungen, ständig Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Obwohl manchmal auch die Variante „zur Freiheit verdammt“ zu finden ist, ist dies keine exakte Übersetzung des Originals. Die korrekte und gebräuchlichere Formulierung im Deutschen ist „zur Freiheit verurteilt“.

Ich habe mich entschieden, meinen „Fehler“ beizubehalten, weil der Blogartikel das seinerzeit so verfasst hat und ich gerne zu meinen Fehlern stehe. Andererseits gefällt mir verdammt besser, weil so die Konnotation in Richtung Schicksal geht, nicht Richtung Strafe. Da dieser kleine Blog keinen Einfluss auf Forschung und Historie hat, erlaube ich mir diese „Ungenauigkeit“.

10 Antworten auf „Jean Paul Sartre: Der Mensch ist zur Freiheit verdammt.“

  1. Hallo Jens,

    schön, daß ihr beide gut miteinander philosophieren könnt.Erwachsen werden, sich selbst finden, wichtige Schritte. Ich wünschte, das wäre auch mit meinem Sohn möglich. An seinem „Innenleben“ läßt er andere nur äußerst schwer teilhaben. Manchmal müssen aber für ihn schwierige Punkte angesprochen werden., z.B. angemessenes Sozialverhalten, nicht unbedingt sein Lieblingsthema. Und da ist mein Sohn nicht frei, zu tun was er will. Er muß sich an Regeln halten. Er wird verfolgt von der Drohung „Rausschmiss“. Und das, obwohl er sich jetzt entschlossen hat, das Abitur anzustreben. Der Mensch möchte frei sein, aber er ist nicht grenzenlos frei.

    Viele Grüße

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      die grenzenlose Freiheit wäre recht unsozial. Die Freiheit, die sich ein einzelner nimmt, kann die Freiheit des anderen kosten. Sich für das Abitur erntschieden zu haben, ist doch scon einmal ein super Weg. Auch wenn das für deinen Sohn eine Herausforderung ist, weil er anders in der Welt steht und vermutlich ein ganz eigenes Sehen und Fühlen hat. Es wäre schön, wenn da Menschen wären in der Schule, die da gut mit umgehen können und die ihm seinen Raum geben, den er nun einmal braucht. Drücke die Daumen. Freiheit im persönlichen Kontext. Im sozialen Kontext. Im Miteinander. Freiheit ohne Miteinander ist dann letztlich doch Unfreiheit, weil wir dann in Einsamkeit gefangen sind. Es ist komplizierter mit der Freiheit, als wir denken.

      Liebe Grüße

      Jens

      P.S. – Jim und ich diskutieren nicht immer nur, manchmal streiten wir auch. Das Schöne ist – unsere Wortgefechte nehmen wir uns nicht übel. Am Ende des Streitgesprächs herrscht Frieden, da können wir gegenseitig drauf vertrauen. Das hat sich so entwickelt. dadurch sind die Gespräche und Diskussionen manchmal sehr intensiv:)

      1. Hallo Jens,

        lockere, muntere Gespräche gibt es auch manchmal, aber Streitgespräche sind Kampf und hinterlassen bei meinem Sohn einen zeitweiligen Zorn, weil es ihm sehr schwer fällt, andere Meinungen hinzunehmen oder zu akzeptieren.
        In der Schule hat er seinen Raum, wo er sich entwickeln kann. Sein „Spiel“ in der Schule beherrscht er jetzt gut, weil er sich an die Grenzen hält. Für ihn steht die Schule für Lernen, stoffmäßig, wobei ihm das Tempo zu lahm ist. Ich hoffe, daß ihm sein Elan noch lange erhalten bleibt.

        Viele Grüße

        Annegret

        1. Hi Annegret,

          ist sicherlich nicht einfach, weil Streitgespräche natürlich auch wichtig sind. Wenn sie aber nachschwingen, ist das anstrengend. Im Abi das tempo zu lahm ist natürlich ein Luxus!

          Liebe Grüße

          Jens

  2. Guten Morgen Jens,

    eine schöne Philosophiestunde. Die Freiheit haben, sich Freiheit nehmen, Freiheit brauchen oder Freiheit suchen… wir haben die Freiheit, es nicht zu tun, wenn wir es nicht wollen, aber manchmal ist es genau das (zu tun, was wir nicht wollen), was uns die Freiheit gibt, den nächsten Schritt zu gehen…

    Einen sonnigen Tag
    Tine

    1. Hi Tine,

      ist doch schön, aus dem Philosophieunterricht einer neunten Klasse ins Philosophieren zu kommen. Was ist doch Schule für ein Luxus! Sich den ganzen Tag mit spannenden Themen beschäftigen. Hätte ich früher mal so sehen sollen:) Freiheit, Möglichkeit, Verantwortlichkeit, Eigenverantwortlichkeit. Wie viel Freiheit nehme ich mir? Was lasse ich geschehen und wo nehme ich mir die Freiheit, Leben und Weg selbst zu gestalten. Richtung zu bestimmen. Herausgehen aus der selbstverschuldeten Unfreiheit. In jedem Augenblick entscheiden, was gut ist, was Sinn macht. Und dabei möglichst den Überblick bewahren und gute Entscheidungen treffen. Herrje.

      Liebe Grüße

      Jens

  3. Hallo Jens,

    als ich diesen Blog gelesen habe war ich beeindruckt. Ich muss momentan meine Arbeit für das mündliche Abi vorbereiten und habe eben Jean Paul Sarte als Thema. So gebündelt dies hier alles zu lesen ist unglaublich interessant und hat mir neue Blickwinkel nahe gebracht, welche ich in meinen Vortrag einbauen kann. Dafür danke ich, und ich hoffe, dass auch andere junge Menschen mal mehr zu der Philosophie in dem Sinne finden, und nicht nur saufen.

    Liebe Grüße, Stefan

    1. Hi Stefan,

      danke! Beeindruckt höre ich natürlich gerne. Und Support fürs Abi liefere ich natürlich auch gerne. Philosophie, Kunst – wichtige Themen. Leider in ihrer Wirkung auf Mensch und Gesellschaft und Entwicklung unterschätzt. Deshalb immer irgendwie ehrfürchtig angesehen und doch dann wieder belächelt. Drücke dir die Daumen und freue mich über dein Interesser…

      Liebe Grüße

      Jens

  4. Hat mich gefreut, bei Ihnen Sartre wiederzufinden. Aber er schreibt sich, bitte, mit doppeltem ‚r‘, also wie in der Überschrift: eins vor dem ‚t‘ und eins danach. Sodann lautet das Zitat, auf das Sie sich beziehen (und das wirklich zentral ist): „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ und nicht: verdammt.
    Sie mögen das vielleicht als kleinlich ansehen, aber bedenken Sie, dass Übersetzer*innen stunden-, manchmal tage- und wochenlang darüber nachdenken, ob es nun „verurteilt“ oder „verdammt“ heißen muss. Und wenn man es genau nimmt, dann ist es ja auch tatsächlich nicht der gleiche Sinn.

    1. Hallo, guten Tag. Herzlichen Dank für den Kommentar und die Unterstützung bei Rechtschreibung und Inhalt. Ich habe gegoogelt und die KI gefragt, weil ich selbst tatsächlich nicht tief im Thema bin. Perplexity hat geantwortet:

      Das berühmte Zitat von Jean-Paul Sartre lautet im Deutschen korrekt:
      „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“
      Im französischen Original heißt es:
      „L’homme est condamné à être libre.“
      Die wörtliche Übersetzung des französischen Originals ins Deutsche wäre tatsächlich „verurteilt“ und nicht „verdammt“. Das Verb „condamner“ bedeutet im Französischen „verurteilen“. Daher ist die korrekte deutsche Übersetzung „zur Freiheit verurteilt“.
      Dieses Zitat stammt aus Sartres Werk „L’existentialisme est un humanisme“ (Der Existentialismus ist ein Humanismus) von 1946. Es bringt einen zentralen Gedanken von Sartres Existenzphilosophie zum Ausdruck: Der Mensch ist frei, aber diese Freiheit ist zugleich eine Last, der er sich nicht entziehen kann. Er ist gezwungen, ständig Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen.
      Obwohl manchmal auch die Variante „zur Freiheit verdammt“ zu finden ist, ist dies keine exakte Übersetzung des Originals. Die korrekte und gebräuchlichere Formulierung im Deutschen ist „zur Freiheit verurteilt“.

      Manchmal ist die Variante „verdammt“ zu finden. Da bin ich auf eine dieser Varianten seinerzeit wohl gestoßen. Und deshalb möchte ich das so auch lassen – ich werde einen Hinweis einbauen. „Verdammt“ gefällt mir besser, weil es für mich so viel bedeutet wie „vom Schicksal gezwungen“. Verurteilt dagegen ist so etwas wie von einer höheren Macht bestraft. Ist es eine Strafe, die Freiheit wählen zu müssen? Oder ist es ein Schicksal? Da dieser Blog keinerlei Auswirkung auf die Sartre-Rezeption hat, lasse ich die ursprünglich „falsche“ Übersetzung. Auch, weil der fiftyfiftyblog damit auf Google gut rankt:)

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