“Fucking Gitarrenladen!”

Zahnarztbesuche stehen bei mir auf der Beliebtheitsskala weit oben. Nein, ich bin kein Masochist, aber ich liebe gutes Entertainment. Mein Zahnarzt ist, glaube ich, nicht in erster Linie Zahnarzt. Er ist eine Mischung aus Freak, Hippie, netter Typ und trockenem Humor. Heute Morgen hatte ich das Vergnügen, 90 Minuten mit ihm zu verbringen – einen Aufenthalt in Spielfilmlänge. Als er kam, saß ich schon im Stuhl und hatte erste Abdrücke in irgendwelchen Kaugummimassen hinterlassen. Zwei Minuten mit so ‘nem Riesen-Metallförmchen und den Fingern der Assistentin im Mund. Schluck.

Auftritt Zahnarzt: “Morgen, ihr Freaks!” Da stand er vor mir, den Körper leicht nach links geneigt, das Strahlen der aufgehenden Sonne im Gesicht, die Haare mit einem Jesus-Lederbändchen zusammengebunden, die Finger zum V-Zeichen gespreizt und eine riesige Stones-Zunge auf dem edlen Designer-T-Shirt vorne drauf. Gute Laune. Während er mir meinen Kopf mit Narkotikaspritzen benebelte, erzählte er von seinem gestrigen Frisörbesuch, dem Schneiden von Spitzen, so wie er sich das vorgestellt hat, und der Atmosphäre im Frisörladen, die einfach super war. Und mit Frisöratmosphäre kenne er sich aus, weil er aus einer Frisörfamilie komme. Kein alter Zahnarztadel mit automatisierter Praxisweitervererbung von Eltern zu Kind zu Enkel und Urenkel und hundert Jahre später und so weiter.

Ich schwieg die ganze Zeit, weil ich entweder einen Bohrer, ganze Hände oder Förmchen im Mund hatte. Meine größte Sorge war, dass mir etwas entgehen könnte. Wir sahen raus in die Natur. Die Sonne ging auf und warf ihre Strahlen durch die Blätter der Buchen und die riesigen Fenster zum Garten auf unsere Gesichter. Kleinstadtgarten, alte Villa. Er sprach von hundertprozentig der schönsten Praxis Deutschlands und ich versuchte ein “Adelie” (übersetzt: Atelier – ich wollte sagen, das Licht wäre wie in einem Atelier) einzuwerfen. Er nahm den Ball auf. Lächelte. Mein Zahnarzt ist Musiker. (Geheim: Er neigte sich zu mir, schaute, ob wir im Gesprächsdunst allein waren und flüsterte mit verschwörerischem Blick: “In ein paar Jahren wird das Tonstudio. Korrekt.” Ein Abwarten in seinem Blick, die Erwartung einer Antwort. Zwei Männer, die sich im tiefen Verständnis mit Millimeterbewegungen zunicken. Alles klar, so machen das Eliteagenten. Heldenkommunikation am Morgen. Weiter.)

Das Wort Atelier hatte sein Herz geöffnet und er erzählte von der Bandprobe letzte Woche, als plötzlich “irre Dinge” geschahen und Songs klappten und sich entwickelten und überhaupt. Gigantisch. Leider liegt einer seiner Bandkollegen ausgerechnet jetzt in dieser Phase mit Lungenentzündung im Krankenhaus. Kreative Pause. “Sie sind doch Texter?” “Mmmajnh!” Er deutet es als Ja. Richtig. “Meine Songs schreibe ich morgens vorne in der Anmeldung. Eine Tasse Kaffe und los. Abends kann ich nix. Morgens in der Anmeldung. Mit meiner Martin in der Hand.” Die Martin ist eine Westerngitarre in schwarz. “Wunderschönes Instrument!” Der Bohrer schreit in meinem Kopf, ich spüre Zahnpartikel fliegen. “Morgens in der Anmeldung.”

Zwischendurch Kontakt zu seiner Assistentin. “Hast du ein Zungenpiercing?” – “Ja” – “Seit wann?” – “Seit einem Jahr!” – “Oh!” Ich kann gerade gut nachfühlen, wie es mit Metall im Mund ist. Er runzelt die Stirn. Weiter. “Meine letzte Gitarre hab ich in Frankfurt gekauft. In so ‘nem bekannten Laden im Rotlichtviertel in der Nähe vom Bahnhof.” Da hätte schon John Lennon – damals – eingekauft. Den Laden gibt es seit 100 Jahren – von Eltern zu Kind zu… “Und letztes Jahr wollte Garry Moore dort eine spezielle E-Gitarre kaufen, die dem Besitzer gehört. Unverkäuflich. Da hat Moore gesagt: Fucking Gitarrenladen.” Wir sind bei den Abdrücken und ich soll den Mund entspannt halten und darf bei “Fucking Gitarrenladen!” nicht lachen, damit sich die Paste nicht wild in meinem Mund verteilt. Herrje – das ist absolute Körperbeherrschung. Fuck.

Es wird zeitlich eng. Es hat lange gedauert, mit Bohren, Abdrücken, Erzählen. “Fang schon mal den nächsten Patienten ein und hau das Unterhaltungsprogramm raus. Das ganze Programm: Eierlaufen, Sackhüpfen.” Prust. Die Auswahl der Farbe für meine Krone hat er dann an seine ganze Assistentinnen-Schar delegiert. Er meinte “Ich hab da meinen Favoriten, aber was meint ihr?” Über mir drei Gesichter, sechs Augen und ein Zugenpiercing. Abwechselnd verschiedene Latexfinger im Mund – in meinem Mund. Schauen, denken, überlegen, abwägen. Augen. Menschen. Wunderschön. Sie sind anderer Meinung als mein Zahnarzt und einigen sich mit mir. O.K. Anfang Oktober wird dann das Provisorium gegen die Krone getauscht. Ich freue mich drauf: Freakshow Part two. Menschen, Menschen, Menschen sind einfach besonders. Prall, voll.

Die besten Geschichten schreibt das Leben, heißt es. Schaut mal hin. Vielleicht begegnen euch heute ein paar gute Stories. Genießt. Jens.

Eine Frau

Eine Frau
auf einer Wiese
auf einem Zeh
die Augen
freuen sich

Sie weiß schon
was jetzt kommt

Ihr gerader Rücken
neigt sie den Kopf
leicht nach links
dreht ihre
rechte Schulter ein

Der Flügelschlag der
weit gestreckten Arme

Da hebt sie ab
nimmt ihre Hände vor die Brust
dreht sich
in der Luft

Dann steht sie still
stürzt runter
Kopf voraus

Sie breitet Ihre Arme aus
streift mit der Nase kurz
den Boden

Den Bauch schiebt sie
nach vorn
sie kennt den Trick
und zieht den Kopf zum Himmel

Die Arme legt sie an den Körper
von ihren Schultern wirft sie
den Ballast

Jetzt steigt sie hoch und höher
im Bauch ein Kribbeln
ansonsten voller Glück

jens schönlau, februar 2006

Irgendwie warm ums Herz

Kennt ihr das Gefühl, wenn Tage anders sind. Weicher, verletzlicher. Wenn der Blick auf die Welt durch einen Weichzeichner geschieht, der auswählt, schönt und die Sinne empfindlicher reagieren lässt? Bei mir ist heute so ein Tag. In der letzten Zeit habe ich viele Gedichte gelesen – von Annegret in den Kommentaren, von filomena in ihrem Blog und auf einer neuen Lieblingsseite, auf die ich über Twitter gestoßen bin: liebesenden. Wenn ich das richtig interpretiere, verarbeitet dort ein Mann, ein Lyriker eine zurück gewiesene Liebe. Schön, sehr schön. Sehr gefühlvoll und tief.

Nun leben wir nicht gerade in romantischen Zeiten. Die Romantik oder das Emotionale wird nur all zu oft in der Werbung verbraten. Ein Wort wie “Melancholie” liegt im Giftschrank, ist nicht mehr anwendbar. Zumindest für mich. Da ich selbst Werbetexter bin, der auch mit Emotionen arbeitet und spielt, habe ich oft zugesehen und mit Schrecken erlebt, wie Wörter verbrennen. Untauglich werden. Belastet sind, besetzt. Der Kommerz als stärkste Kraft nimmt sich, was er braucht. In der Geschwindigkeit unseres Seins mit Wachstumsraten, Finanzdynamik und Globalisierungsspeed wird das Innehalten schwierig. Ein Unterfangen, als wolle man mit bloßen Händen eine Flut aufhalten.

Welche Aufgaben nun haben die, die Gedichte schreiben? Sich dagegen stellen? Den Blick zurückschweifen lassen und verklären, Wörter wie gestrandete Katzen wiederbeleben und mit der Flasche großziehen? Oder die Zeit dokumentieren, sie festhalten in Bildern, die aus Geschwindigkeit entstehen? Für mich kaum erträglich, das Sein, das wir als Realität, als Wirklichkeit annehmen, in Gedichte zu packen. Fluchttendenzen. Sehnsucht nach Ruhe, Entschleunigung. Gleichzeitig die Faszination des Mitgaloppierens, des Eintauchens in aufregende Zeiten, in denen sich stündlich die Welt verändert.

Es ist ein Leben im Stop-and-Go-Verfahren. Ein Hineilen und Suchen nach Parklücken, Ruhebuchten, wo der Wind leise wird und streichelt. Die Sehnsucht gleichsam nach Innerlichkeit und Körperlichkeit, der Wunsch, dem Menschen nah zu sein. Ihn zu fühlen im Täglichen. Den anderen dort drüben. Auf der anderen Seite. Menschen, wo seid ihr hin? Da stehen wir voreinander und unser Innerstes ist wie vom CERN in kleinste Teilchen aufgelöst und in die vielen Segmente unserer weltlichen Individualität verteilt. Vielleicht können Gedichte vereinen. Transmitter. Ach, diese Tage, an denen die Welt so ist. Entschuldigt.

Ich wünsche euch heute viele direkte menschliche Kontakte – richtig mit sprechen, anfassen, einander in die Augen sehen. Ich wünsche euch ein Fühlen, Berührtsein, Empfinden. Und natürlich einfach viel Spaß mit dem, was auf dem Programm steht. Jens.

Landschaft innen

Kraft
in Unsicherheit

Schwebendes Glück
im Dunkel
Atemlosigkeit
auf dem Weg

Hände
vorsichtig
flirrende Sinne
Gänsehaut

Nicht genug
Wörter

Alleingelassene
Gedanken

Drehen, drehen
fallen
fühlen
stillstehn

Fülle
Fülle
so weit

jens schönlau, september 2010

Tanz im Hochregallager und Fifty-fifty-Weekend

Das Wochenende begann mit dem Blick in den IKEA-Katalog. Ela blätterte Freitagabend darin und ganz so, wie der Katalog das will, entstand in ihrem Kopf eine Einrichtungslösung für unseren Flur. Dort steht das Telefon auf einem weißen Kasten mit Schiebedeckel. Dahinter ist eine weiße Wand, die durch das Anlehnen während des Telefonierens schon seit geraumer Zeit nicht mehr weiß ist. Kommt man in die Wohnung rein, fällt der Blick genau dort hin.

Ein weiteres Problem dieses Flures ist seine Kargheit. Wir richten sehr spartanisch ein, weil wir wenig Zeugs rumstehen haben wollen. Viele fragen, wo unsere Sachen sind (Ganz ehrlich? Auf dem Speicher!). Nun hatte Ela am Freitag in besagtem schwedischen Möbelhaus (bei der WM 2006 sangen die deutschen Fans im Spiel gegen Schweden provokativ “Ihr seid nur ein Möbellieferant!”) eine Magnettafel in weiß entdeckt. Format 77 x 37. Daran lassen sich beispielsweise Familienfotos und andere Farbtupfer magnetisch befestigen. Wir haben uns auf den Weg gemacht – nach Siegen. Denn gleichzeitig waren da noch neue Vorhänge für unser “Paradezimmer” im Katalog. Wir haben uns vorgenommen: Nur die Sachen und dann ist gut!

Im Möbelhaus kam natürlich fast alles anders. Die Vorhänge (solche zum Schieben in einer Aluleiste) hatten die falsche Farbe und für Zoes Zimmer tauchte plötzlich eine Lösung für ihre neue Musikanlage auf. O.K. Dann fanden doch noch, neben den Magnettafeln, wieder ein paar Kleinigkeiten den Weg in den Korb. Naja. Als wir unten ins Hochregallager kamen, brauchten wir einen Wagen für Zoes neues Regal. Regal drauf, Zoe drauf und los. Im Hintergrund spielte ein netter Popsong und Zoe und ich tanzten mit dem Wagen durch die hohen Gassen (da war doch was mit Wilhelm Tell: Durch diese hohle Gasse…). Als ich den Wagen nach einer eleganten Drehung gerade in Fred Astaire-Manier losließ und die Hände nach oben warf, war Ela deutlich zur Seite getreten (die gehören nicht zu mir) und einige andere Besucher/innen starrten uns an. Sie haben wirklich gestarrt. Ich musste dann schnell den rollenden Wagen samt Zoe und Regal vor dem Einschlag in einen Kartonstapel retten. Is noch Mal gut gegangen. Wir haben und ein wenig gehen lassen.

Sonntag war großer Montagetag, nachdem Ela und ich am Samstag rund fünf Raummeter Holz auf Ofenlänge gesägt und in den Keller transportiert haben. Ela an de Kreissäge, ich an der Schubkarre. Fifty-fifty. Sonntagmorgen hat mich Zoe mit Krach in ihrem Zimmer geweckt. Sie hat ihr Regal mit Inbusschlüssel montiert. Ela hat sich dem Flur angenommen und ihn weiß gestrichen, währen Jim und ich Ravioli mit Pfifferlings-Parmesan-Füllung hergestellt haben. Die Pfifferlinge hatte ich morgens im Wald gesammelt. Während Jim die Füllung zubereitet hat, habe ich den Teig gefertigt und die Nudelmaschine aufgebaut. Nach dem Essen war der Flur getrocknet und Jim und ich haben die Magnettafeln angebracht. Ein kulinarisch, brennholz- und einrichtungstechnisch äußerst erfolgreiches Wochenende. Und über die kleine IKEA-Showeinlage werden Zoe und ich wohl noch länger gemeinsam schmunzeln. Hi.

Ich wünsche euch eine konstruktive Woche mit guten Erlebnissen. Viel Spaß und Freude. Jens.