Cats Zimmer war zu ihrer Zuflucht geworden, nachdem sich Cats Vermutung, dass sie und Susanne Freundinnen werden würden, auf den ersten Blick bestätigt hatte. Susanne verbrachte seither einen Großteil ihrer Zeit in der Villa am Stadtrand. Manchmal schlief sie auf dem großen, alten Jugendstilsofa in Cats Zimmer. Als Susanne das erste Mal in die Klasse kam, eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn, war sie von allen beäugt worden. Die Neue. Sie hasste das Gestarre in dem Augenblick, die oberflächlich bewertenden Blicke, den ersten zählenden Eindruck. Was wussten all diese Augen schon von ihr. Die Lehrerin begrüßte sie, winkte sie nach vorne, um sie der Klasse vorzustellen. „Du bist Susanne Schuhmacher. Darf ich vorstellen, eure neue Mitschülerin. Setz dich vorne zu Catherine und dann komm erst einmal an. Herzlich willkommen.“
Cat hatte nicht gestarrt, hatte nach dem Klopfen an der Tür, dem Öffnen der Tür nur gehört und empfunden. Sie wollte Susanne spüren, sie mit ihrem stärksten Sinn empfangen. Sie brauchte zunächst kein Bild, ihr war es egal, wie Susanne aussah. Sie spürte, dass ihr Susanne nah sein würde. Als sie dann vorne stand, war Cat dennoch von ihrem Äußeren verblüfft. Sie hatte eine andere erwartet, schob den ersten Blick aber beiseite. Ihr war Susannes Äußeres egal. Wirres, abstehendes blondes Haar, intensive blaue, geschminkte Augen, T-Shirt mit einem Bandnamen, eine wilde Kette, Armreifen, schwere Stiefel, kurzer Rock, Umhängetasche. Berlin. Susanne setzte sich neben Cat, sagte „Hi, ich bin Sue.“, gab ihr die Hand und sah sie intensiv an. Cat konnte sich nicht entscheiden, etwas zu sagen oder die Hand zu greifen, ihr Schweigen in der Klasse zu durchbrechen. Sie nahm sich eine halbe Ewigkeit, tauchte in ihr Gegenüber ein, spürte nach, sagte nichts. Susanne schaute zurück, hielt dem Blick stand, wusste den merkwürdigen Blick dieses merkwürdigen Mädchens nicht zu deuten. Der Blick war zu intensiv für ein erstes Aufeinandertreffen, für eine Höflichkeitsphase, in der man sich gegenseitig mit Namen vorstellt. Für sie war es komisch, mit diesem Blick gescannt zu werden und sich nicht unwohl zu fühlen. Sie war auf diesen Blick nicht vorbereitet, sie hatte nicht gewusst, dass dort ein Mädchen sitzen würde, das auf sie gewartet hat. Sie war vollkommen neutral in diese Klasse gekommen. Vielleicht mit einem Hauch Skepsis, mit der Unlust, der von ihr unterstellten unliebsamen Bürgerlichkeit dieser Kleinstadt, dieses netten verschlafenen Nestes, in Berührung zu treten. Sie hatte Berlin nicht verlassen wollen, wäre lieber zu Bob, ihrem Vater, gezogen. Sie hatte Zao suchen wollen, der verschwunden war, den sie nirgends hatte finden können, bevor sie ging. Nicht einmal verabschieden hatte sie sich können. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie mitkommt, dass sie mit ihr Berlin verlässt, um Berlin zu entkommen. In Cats Gesicht zeigte sich keine Regung. Sie starrte nicht, obwohl ihr Blick wie ein Starren aussah. Susanne empfand eine überraschende Intensität, mit der sie an diesem Ort nicht gerechnet hätte. Der Unterricht ging weiter, als sich die beiden immer noch ansahen. Susanne ließ es zu. Zog ihre Hand zurück, hielt dem Blick stand. Deutschunterricht, die Wiedervereinigung, Texte der Bewegung rund um die Leipziger Nicolaikirche.


