Besuch von Heinrich

Guten Morgen. Er sagte es, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Mir wurde es kalt und warm, als er plötzlich mitten auf der Wiese vor mir stand, in seinem dunkelbraunen Anzug im Fischgrät-Muster. Heinrich! Meine Stimme war gelähmt. Hinter ihm standen zwei Männer, die ich noch nie gesehen hatte – zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. Das konnte nicht sein, die drei hier an einem Sommertag auf einer Wiese voller Blumen, aufgetaucht aus dem Nichts. Ihre dunklen Augen fixierten mich und sahen mir auf den Grund meiner Seele. Geröntgt, gescannt. Ich konnte ihnen nichts vormachen, sie kannten mich in- und auswendig. Mein Tarnmantel rutschte von den Schultern, meine Schutzmauer aus Beton bröckelte und fiel zu Boden, meine Sätze und Worte der Irreführung blieben mir im Hals stecken. Von einer Sekunde auf die andere transparent, komplett durchsichtig. Sie haben mich durchschaut. Wir standen dort in der Sonne still und unbeweglich wie auf einem Gemälde. Mir war klar, sie stehen dort und sind gleichzeitig in mir, ein Teil von mir, mein Fundament, meine Geschichte. Meine Augen zuckten, versuchten standzuhalten, etwas zu erkennen, sich zu wehren. Der Blick huschte über die starren Gesichter. Hätte ich versucht, ihre Blicke aufzunehmen, sie hätten mich umgeworfen, hypnotisiert. Zu intensiv, zu plötzlich. Was war das? Eine Fantamorgana, ein Trugbild, ein Spiel meiner Psyche, meines Ichs? Gänsehaut überzog meinen Körper, der linke Fuß begann zu zittern. Mir kam der Gedanke, wegzulaufen, der Situation zu entfliehen und gleichzeitig wusste ich, dass die Sache ausgetragen werden musste. Sie würden mich finden, überall, sie waren andere Wesen. Sie brauchten kein Fernglas, kein Telefon, keine Abhöranlagen, keinen Plan, kein Auto oder Flugzeug. Das Zittern des Fußes nahm mir den sicheren Stand und verstärkte die Unsicherheit. Sie standen und standen, fixierten mich und reichten keine Hand. Hätte ich wenigstens sprechen können – frech herausschreien „Was wollt ihr verdammten Idioten hier auf dieser Wiese? Haut ab, lasst mich. Verpisst euch dorthin, wo ihr hergekommen seid.“ Angst stieg in mir auf – merkwürdigerweise nicht vor den Männern, sondern vor mir. Vor mir? Weshalb sollte ich vor mir Angst haben? Fast hätte ich mir in die Hose gemacht, wie peinlich. Als wäre die Situation nicht kurios genug gewesen, stürzte plötzlich ein Bussard vom Himmel und griff mit der Kraft seiner Greifer eine kleine Maus. Meinem Gesicht englitt ein zynisches Lächeln. Ihr glaubt, ich bin eine kleine Maus und ihr könnt mich hier stellen? Meine Seele kontrollieren, mich hopps nehmen, mir rücksichtslos auf den Zahn fühlen? Ich hatte Ihnen nichts getan, niemals. Vielleicht hatte ich sie verraten, aber das war eine Sache des Standpunktes.

Heinrich trat einen Schritt vor und verscheuchte den Vogel mit einer winzigen Handbewegung. Vollkommen stolz, selbstsicher ohne einen Hauch des Zweifels, dass der Vogel seiner Anweisung folgen würde. Dann nahm er die tote Maus und warf sie mit einem kurzen Zucken des Handgelenks weit weg. Meine Augen folgten dem Flug des Tieres und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der leblose Körper in dem hoch stehenden grünen Gras verschwand. Heinrich trat zurück, verlagerte sein Körpergewicht auf ein Bein und steckte die Hände in die Hosentasche. Ich erwartete ein süffisantes, herablassendes Grinsen, sah aber weiterhin nichts als Neugierde. Sie untersuchten mich, das war es, sie wollten wissen, was aus mir geworden ist, wie ich in der Welt stehe, ob ich meine Sache gut mache. Ein Tribunal, ein personifiziertes Gewissen. Mein Mut sank, mein Leben lief in ny-Sekunden vor meinem geistigen Auge ab. Wie oft hatte ich versagt, die falschen Entscheidungen getroffen, war nicht mutig und entschieden genug gewesen, meine Pläne zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Zu viele lose Enden, die hinter mir lagen und noch immer die Energie der Konzentration raubten. Einmal war ich ein Held gewesen, in New York auf der 5th Avenue. Auf dem Weg downtown hatte der Bus gehalten und eine alte, wirklich dicke Frau konnte nicht einsteigen. Sie stand, sah auf den Busfahrer, der Busfahrer sah aus seiner Glaskabine auf sie. Alle im Bus sahen abwechselnd auf die Frau und den Fahrer. Nach einem Druck auf einen Knopf senkte sich der Bus, um der Frau den Einstieg zu erleichtern. Nichts tat sich, sie war zu dick und brauchte Hilfe. Eine schier unendliche Zeit in Hilflosigkeit saßen wir in diesem Bus, der sich entschuldigend vor der Welt verneigt hatte. Alle Blicke waren jetzt auf die Frau gerichtet, niemand wagte etwas zu sagen. Der Moment machte uns alle gemeinsam einfach nur klein. Ein Mann stieg aus und ging weg. Verräter. Ich sagte mir, ich tue es und stand auf. Spürte die Blicke auf mich geheftet – noch ein Verräter. Ich stieg aus, ging zu der Frau, fragte sie, ob ich ihr helfen könne und fasste ihr unter den Arm, zählte bis drei und gab ihr den Schwung und den Halt für den Schritt. Es ging ganz leicht und sie stand vor dem Fahrer, zeigte ihm ihre Karte und setzte sich. In der Zwischenzeit war ich durch die hintere Tür wieder eingestiegen und hatte mich auf meinen Platz gesetzt. Leichtigkeit durchzog mich, gab mir ein gutes Gefühl, wie einfach das Leben doch ist. Nur ein Griff. Plötzlich stand ein Mann auf und zeigte mit dem Finger auf mich „Look that young man, he helped the old lady!“ Alle applaudierten und ich zog mich hinter meine Wand aus Beton zurück, blickte wie unbeteiligt aus dem Fenster und sah auf die Rush-Hour der 5th Avenue. Mein Mut versank in den stehenden Autos und die Leichtigkeit des Seins verlor sich in der Schwere der Wolkenkratzer. Trotzdem war ich stolz und lächelte – nur niemand sah es.

Die Gedanken an das Buserlebnis gaben mir halt, das Zittern im Fuß hatte aufgehört und mein Stand wurde sicherer. Mein Atem fand zurück in einen angenehmen, ruhigen Rhythmus. Mein Blick wurde weicher und wärmer, die Angst verließ mich und es war mir egal, was jetzt passieren würde. Ich hatte den ersten Schritt getan und war drauf und dran, mich umzudrehen und die drei stehen zu lassen. Der Situation war die Schärfe genommen, ich hatte meine Handlungsfähigkeit zurückerlangt und fragte unvermittelt: „Was wollt ihr?“ Sie lächelten, tatsächlich, sie lächelten. Heinrich kam auf mich zu, seine Augen begannen zu leuchten und sein Gesicht verlor die Spannung. „Wir haben uns überlegt, dass wir dich besuchen. Ich wollte dich sehen und den beiden vorstellen.“ Ich konnte es kaum fassen, hatte ich gerade noch an das Schlimmste gedacht, war es nun wie eine Verabredung zum Sonntagskaffee – gute alte Freunde bei Apfelkuchen mit Sahne zu Besuch. „Schön dich zu sehen, Heinrich, auch wenn es mich überrascht. Und das du die beiden mitgebracht hast. Kaum zu glauben.“ Dieses Grinsen hatte ich nie zuvor bei ihm gesehen. Früher war er ein alter Mann voller Jähzorn, um Kontrolle und Macht bemüht. Unzufrieden mit dem Augenblick und gequält von der eigenen Energie. Vor Sonnenuntergang war er immer zum Teich gegangen. Drei Kilometer bei jedem Wetter und im Winter in der tiefen Dunkelheit. Dann hatte er sich ans Ufer auf seinen Stuhl gesetzt und hatte die Ruhe genossen – die Ruhe in sich. Einen Augenblick Frieden mit der Welt, um dann zurückzukehren in den Alltag der Mühen. Er legte seine früher von Erde geschwärzten Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Tränen liefen herunter als er sagte „Ich habe dich vermisst“. Er rief die beiden anderen zu sich, um mich anzuschauen. „Los kommt, ihr müsst ihn sehen, schaut ihn euch an.“ Jetzt kamen mir die Tränen und ich musste Heinrich packen, ihn umarmen, ganz fest drücken, schütteln. Mehr als eine Ewigkeit hatte zwischen uns gelegen und noch einiges mehr. Jetzt fiel es von mir ab. Wie konnte es sein, dass das geschieht. Ich hatte es mir nicht gewünscht, hatte den Zustand als gegeben hingenommen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich jemals etwas daran ändern lassen würde. Nun hatte es sich geändert. Heinrich hatte die beiden mitgenommen, weil er sonst den Mut nicht gehabt hätte. Deshalb hatte er mich so lange angesehen, weil er nicht wusste, ob ich ihn bei mir haben wollte. Die beiden kamen hinzu und schüttelten mir die Hand. Fritz und August, Ziegelmeister und Maurer. Starke Hände, gerader Rücken, starker Stand. Wie nah sie mir waren. Heinrich schüttelte den Kopf und begann zu lachen. Er konnte selbst nicht glauben, was er sah. Hätte ich gewusst, dass ich ihm auch nur ein klein wenig wichtig bin, ich hätte ihn nicht so gehen lassen.

Wir setzten uns in Gras und erzählten einander, was geschehen ist in all den Jahren. Tauchten ab in die alten Zeiten und sie nahmen mich mit in eine Welt, die ich nicht kennen konnte. August holte eine Flasche mit klarem Wasser aus der Tasche und reichte sie rum. Ich trank das Wasser, als sei es das Wasser des Lebens. Nun waren wir verbunden, für immer verbunden. Sie sagten, sie müssen nun gehen, wir umarmten einander und im nächsten Moment waren sie so lautlos verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich wäre gerne bei ihnen geblieben, mit ihnen gegangen, wo immer sie auch hingegangen sind. Ich legte mich auf die Wiese, sog die Sonnenstrahlen in meinen Körper und schlief ein. In der Nacht erwachte ich durch die Feuchtigkeit, die sich in meine Kleidung gezogen hatte. Ich ging und begann, die losen Enden zu verknüpfen.

nOVEMBER 2006

P.S. – Liebe Annegret, beim Suchen alter Gedichte bin ich auf diesen Text gestoßen. Der lag noch im Archiv. Als Ausgleich der nun fehlenden Lyrik, dieser Text. Als kleiner Ausgleich.

4 Antworten auf „Besuch von Heinrich“

  1. Hallo Jens,

    nein, nein, Du bist famos! So ein schöner Text!!!! Heinrich, war das nicht einer Deiner Großväter? Wenn er diesen Text hätte lesen können, wäre er super-stolz auf Dich gewesen!!!

    Danke.

    Annegret

    1. Hi Claudia,

      danke. Freut mich sehr. Das ist so eine Geschichte, die aus dem eigenen Leben kommt. Dann wird alles intensiver.

      Ich habe auch deine Gedichte sehr genossen. Sehr modern, lebendig, voller Bilder. Ich gebe mal hier den Link zu deiner Seite, weil sich die wirklich lohnt: http://jaywalkingthemoon.wordpress.com/

      Thanx und liebe Grüße

      Jens

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