Orte. Bedeutung. Sehnsucht. Erinnerung.
Gestern Abend war ich mit David essen. Wir wollten erst woanders hin, was dann nicht funktioniert hat wegen Öffnungszeiten und so haben wir spontan überlegt und ich habe in mich gehorcht und eine Antwort bekommen: Café Sehnsucht. Köln. Ehrenfeld.
Einer der Lieblingsorte meines Lebens. Wir sind nach Köln gefahren, sind in die Gutenberg-Straße eingebogen und haben vor dem Büro geparkt, in dem Ela und ich unsere gemeinsame Selbständigkeit mit einer Freundin gestartet haben. Im April 1996. Büro für Grafik + Text. Aufregende Zeiten. Ich hatte das Theater hinter mir gelassen, hatte ein Texterpraktikum in einer Agentur absolviert und hatte begonnen, zu schreiben. Auf einem alten MAC IIci. Ela und ich hatten neben dem Büro eine Altbauwohnung vom selben Vermieter.
Wir fuhren nach Venedig, kamen als werdende Eltern zurück. Plötzlich hatte ich einen kleinen Jungen auf dem Arm, der nach der Geburt nicht schrie, sondern sich ruhig die Welt anschaute. Die Augen bewegten sich langsam von rechts nach links. Dann nur ein kleiner Schreier. Zurück in die Wohnung mit Kind. Auf dem Tisch standen alle Geschenke zur Geburt unseres Kindes. Unten im Büro Arbeit ohne Ende. Kurz nach der Geburt hat Ela wieder im Büro gesessen. Eine Anzeigenkampagne für einen Kunden, für den wir nach vielen Jahren jetzt wieder arbeiten. Fiftyfifty. Babyfon. Arbeitszeiten, Kinderzeiten. Ich schrieb “Weinen um Lucie” (findet ihr rechts unter Theaterstücke). Ein letzter Versuch, den Kontakt zum Theater zu halten. Fast wäre es am Staatstheater Darmstadt aufgeführt worden. Der Regisseur zog zurück.
Zwischendrin immer wieder ins Café Sehnsucht. Um die Ecke. Gestern Abend also am Büro vorbei, in dem Licht brannte und ein Mann telefonierte. Kurzer Augenkontakt, kurze Irritation. Vorbei an der Wohnung mit den weißen Fenstern im ersten Stock. Um die Ecke ins Café Sehnsucht. Da saßen wir. Aßen und redeten und tranken und redeten und redeten.
Es geschehen gerade merkwürdige Dinge. Das Leben wird intensiver. So, als würden die Farben kräftiger, die Geschmäcker intensiver und die Worte bedeutungsvoller. Ich spüre, ich habe Platz. Ich atme tiefer. Kann mich einlassen. Bin nicht mit einem Teil von mir woanders. Und plötzlich entstehen Gespräche, die unter die Haut gehen. Wir saßen da bis kurz vor Eins. Als Letzte. Die Kellnerinnen gaben uns noch zehn Minuten. (In der Zeit hätten wir vom Münchener Flughafen…)
Ich habe David nach Hause gebracht und bin um zwei Uhr glücklich im Bett gelandet und sofort weggepennt. Vier Stunden Schlaf. Sechs Uhr. Ich hatte Kinderdienst, plötzlich stand Ela da. Hat mir einen Cappuccino ans Bett gebracht. Sie war schon wach. Wir brauchen jetzt beide weniger Schlaf. Ich habe dann übernommen, die Kinder zum Bus gebracht, mit ihnen Pausenfrühstück beim Bäcker gekauft. Danach waren Ela und ich joggen und nun ist in meinem Kopf eine Leichtigkeit, die ich nicht kenne. Es sind merkwürdige Zeiten. David zeigte mir gestern auf dem Weg über die Autobahn zwei Sterne am Nachthimmel. Planeten, genau genommen. Übereinanderstehend auf einer Linie. Venus und Jupiter. Eine seltene Konstellation. Die beiden haben einen weiten Weg, um sich zu treffen. Ein schönes Himmelsbild. Schaut mal, heute Abend.
Hallo Jens,
ja, wenn der Stein an die Seite geschoben werden konnte, lebt es sich leichter, man kann wieder richtig durchatmen. Es lebt sich auch intensiver, bewußter. Deine gestrigen Worte haben mich zum Nachdenken gebracht. Eine schöne Deutung von Dir. Und wie ich nachlesen konnte, auch sehr anregend.
Genieße den wunderbaren Frühling.
LG
Annegret
Hi Annegret,
der Schlussstein. Haruki Murakami. Kafka am Strand. Eine Assoziation. Ich habe hier viele Steine liegen. Schwere. Aus Italien. Die sind bedeutungsvoll:) (Jedenfalls tue ich so, als wäre das so… Auch nur so eine Einbildung. Die Story hinter den Dingen). Ich habe dich zum Nachdenken gebracht? Ich hoffe im Sinne von positiver Inspiration, nicht Verunsicherung.
Ja, sehr anstrengend. Murakami. Der Stein wird manchmal sehr schwer, dass er kaum zu tragen ist. Desto größer muss die Konzentration sein. Nun kann ich ausprobieren, was ich gelernt habe. Erst der Tod meines Vaters, jetzt die nächste Prüfung. Lehrstunden. Nur Gerede oder Wirklichkeit? Trägt es? Bislang ja. Weiterhin: Kein Alkohol, wenig essen, meditieren, den Geist in der Konzentration halten. Gehe an die Orte, die du fürchtest. Mache ich gerade jeden Tag. Den Dämonen gefällt das nicht, weil sie nicht gefüttert werden. ich wünsche mir, dass sie vertrocknen. An den Ecken sind sie schon welk:)
Ich genieße. Tatsächlich.
Liebe Grüße
Jens
Hallo Jens,
Deine gestrigen Worte waren mir eine Bestärkung meiner Wahrnehmung, keine Verunsicherung. Ich freue mich, daß bei Dir die Trennung, das Aus, so schnell, so anders (positiv !) geklappt hat. Ich bin erst jetzt in der Lage, es zu genießen, intensiver zu leben, intensiver zu denken. Vorher waren da nur Grenzen. Positivste Nebenwirkung: Ich fahre bei Dunkelheit, ohne Probleme, ohne Panik, denn ich habe die Ruhe. Ja, ich habe die Ruhe, die ich in der Ehe nicht hatte. Ich war innerlich immer getrieben. Ruhe und intensives Erleben sind ein guter Antrieb. Die Machine läuft.
Danke.
Annegret
Hallo Jens,
Es gibt einem ein richtig gutes Gefühl zu lesen wie gut es dir anscheinend geht. Manchmal ist die Schwere (oder der Stein) der von der Seele fällt etwas unglaublich befreiendes. Man schiebt jahrelang einen ganzen Bauchladen voller Steine vor sich her und bemerkt gar nicht wann man damit angefangen hat und das die Steine immer größer werden. Wenn die Steine dann durch eine Katastrophe wegbrechen, merkt man erst welch enorme Lasten man all die Jahre geschleppt hat.
Deine Texte stoßen bei mit momentan viele (positive) Impulse an. Gestern sind zugleich mehrere schreckliche Dinge passiert (ein sehr lieber, naher
(Uppsala zu flinke Finger):
… Mensch verstorben, mein Onkel plötzlich Herzinfarkt und Notoperation) und ich war tatsächlich in der Lage einen Moment innezuhalten, meine Gedanken kommen und gehen zu lassen und kann jetzt eine wirkliche Hilfe für meine Familie sein.
Sonnige Grüße
Julia
Hi Julia,
es freut, zu hören, dass du mit den Texten und Infos konkret was anfangen kannst. So ein Tod ist schockierend. Als mein kleiner Bruder Anfang Februar anrief und mir mit Tränen in der Stimme sagte “Der Papa ist gerade gestorben, da war das schon heftig.” Selbst dann ruhig zu bleiben und sich nicht allem Schmerz hinzugeben hilft. Das geht so schon tief genug. Ich wünsche Herzliches Beileid und denke an dich. Wenn du Stütze sein kannst, ist das toll für alle. Halt ist dann so wichtig.
Mir geht es trotz gelegentlicher Zwischentiefs recht gut. Ich freue mich über so nette Freunde und die Erfahrung, nicht unterzugehen. Trotz allem. Dieser Stein war wirklich lähmend. Habe ich vorher so auch nicht gewusst. Gar nicht so einfach, zu wissen, wo man steht. Da geht doch einiges im Alltag unter. Jetzt ist es gut wie es ist.
Dir auch sonnige Grüße
Jens
Hi Jens,
Ja, es hilft tatsächlich wenn man es schafft sich nicht einfach in das Loch im Boden fallen zu lassen, dass sich bei einer so schrecklichen Nachricht vor einem auftut. Irgendwie habe ich dann gestern aber ganz automatisch anders reagiert. Es scheint, als wäre ein Schalter umgeklappt, der mir die Möglichkeit gibt mal auf eine andere Weise an diese Situation heranzugehen. Natürlich bleibt der Schmerz der Gleiche, aber ich kann ihn einfach akzeptieren.
Ich danke dir für dein Mitgefühl und für deinen sehr offenen Umgang mit deinen Erfahrungen in der letzten Zeit. Ich glaube ja nicht an Zufälle. Es hatte einen Sinn warum ich deinen Blog entdeckt habe, obwohl ich momentan fast nie im Netz unterwegs bin…
Julia
Hi Julia,
das ist der Punkt: der Schmerz bleibt der gleiche. Es kommt nur darauf an, was du daraus machst. Die reaktion wiederum bestimmt, wie du dich danach und später in einer ähnlichen Situation verhälst. Ausliefern, einsinken, oder standhalten und weitergehen. Es liegt an uns, Erfahrungen zu sammeln, die das Leben erträglich machen. Sonst haut uns alles um. Letztlich können wir uns nicht dagegen wehren, das Shit happens.
Das mit den Zufällen, das sind meiner meinung nach die Zeichen auf dem weg. Coelho hat da immer wieder drüber geschrieben. Die Zeichen erkennen. was glaubst du, wie oft du schon an ähnlichen Zeichen vorbeigegangen bist? Die zeit muss reif sein, du musst reif sein. So weit, dass du das willst. Die andere Sicht. Erst einmal ist die komplizierter, fremder. Aber letztlich hilft sie immens. Momentan kann ich sagen, dass ich aus eigener Erfahrung spreche.
Dir ein schönes Wochenende
Jens