Privacy!

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Paris!

Nun. Die Welt fliegt umher wie ein Hühnerhaufen. ALARM! Durchsuchen, kontrollieren, jagen, reagieren. Das Primat der schnellen Reaktion. Stärke zeigen, handeln, antworten. Vergeltung.

Ich habe die Nachrichten ignoriert. Fast. Der Sog war groß. Hinschauen. Wie viele Tote? Wie? Wo?

Nicht weit von dort, wo Viveka und ich für Silvester eine Wohnung gemietet haben. In Paris. Wir werden fahren.

Wie all dem Schrecken und Chaos noch gerecht werden? Die Fronten verhärten sich. Als Kind dachte ich: Wann wird dieser Wahnsinn in Nord-Irland aufhören? Es hat gedauert. Frage ich mich jetzt, wann dieser Westen-Islamismus-Wahnsinn aufhört, dann weiß ich: Es wird sehr lange dauern. 20 Jahre? 30 Jahre? Eine Generation, zwei Generationen? Und noch sind wir in der Phase der Eskalation. Viele Menschen tragen mit Wonne dazu bei, den Kessel am Kochen zu halten. Öl ins Feuer zu gießen. Es ist Hochzeit für Hassende.

Gestern Abend sind wir durchs Dorf gelaufen. St. Martin. Von Haus zu Haus. „So helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittre Frost mein Tod. St. Martin mit dem Schwerte teilt, den warmen Mantel unverweilt.“ Ah. Es gab dann Süßigkeiten und Geld für die Kinder, Drinks für die Erwachsenen. Am Ende haben sich alle im Dorfhaus versammelt. Kakao und Kuchen für die Kinder, Drinks für die Erwachsenen. Hui.

Das Leben ist schön. Das Leben geht weiter.

Das Leben ist schön in Frieden und Gemeinschaft. Wo kein Frieden, da kein schönes Leben. Ach nee.

Heute haben Viveka und ich uns Herrn Cooper geschnappt und sind raus auf die Höhen. Südwind-Sturm. 5,6 Windstärken in Böen, tanzende Starenschwärme am Himmel. Schauspiel. Ich hatte seit langem mal wieder meine alte Matrosenjacke angezogen. Dunkelblau, acht goldene Knöpfe mit Anker, Wolle mit Pferdehaarfutter. Sehr warm. Baujahr 1973, ein Schätzchen.

In der linken Tasche waren zwei Zettel, denen ich keine Beachtung schenkte. Zunächst. Unterwegs erzählte ich Viveka die Geschichte, als ich mit der Jacke in einem chinesischen Laden eine Dose Bier gekauft hatte. New York 1999. Es war spät an jenem Abend damals, ich kam von einer Theaterpremiere. Irgendwie war ich einer der wenigen Männer unter vielen Frauen an diesem Abend. Ich war in der New Yorker Lesben-Szene gelandet. Das Stück war gut, intensiv gespielt, es war zufälligerweise die ausverkaufte Premiere. Zu Beginn meiner New York-Woche hatte ich Theatergutscheine in einem Büro am Times Square gekauft und gleich Vorstellungen gebucht, für die Vouchers galten. Off-off-Broadway. Und noch ein Off zusätzlich.

Nach der Premierenfeier, das Stück wurde in einem öffentlichen Gebäude unweit von Greenich-Village gezeigt, schlurfte ich die Straße entlang und ging in besagten chinesischen Laden. Ich nahm eine Dose Budweiser aus dem Kühlschrank und ging zur Kasse. Zwei Männer, ein junger und ein älterer Chinese auf einer Art Podest. Beim Jüngeren kam ich schnell an die Reihe. Zuvor traf mein Blick den Blick des älteren Chinesen. Wir sahen uns kurz an. Er sah mir in die Augen. Keine Ahnung weshalb. Ich hatte diese Matrosenjacke an und einen Hut auf, den ich mir am Times Square gekauft hatte. Als ich bezahlen wollte, sagte der ältere Chinese: „Give him two for one.“ So ging ich mit zwei Dosen Budweiser aus dem Laden raus. Die Geschichte habe ich schon öfter erzählt und bis heute frage ich mich: Weshalb hat er das gesagt? Weshalb hat er mir ein Bier ausgegeben?

Als wir vom Spaziergang nach Hause kamen, habe ich die Zettel aus der rechten Tasche genommen. Einer war ein U-Bahn-Ticket aus Köln. August 1998. Seit dem 1. September 1998 wohne ich hier auf dem Land in der Alten Schule in Nosbach. Der zweite Zettel ein Busticket. 26. März 1999. Ich konnte mich an den Tag erinnern. Mein Vater ist am 26. März geboren. Übrigens: Viveka ist auch am 26. März geboren. Am 26. März 1999 habe ich ihn aus New York angerufen. Aus einer U-Bahnstation. Von einem Fernsprecher. Ich hatte mir eine entsprechende Telefonkarte besorgt. Im Hintergrund spielten Straßenmusiker. Und so habe ich ihm gesagt: „Papa, hier, ein Ständchen für dich aus New York. Herzlichen Glückwunsch, alles, alles Liebe.“ Der Moment war wieder da, als ich das Ticket und das Datum sah.

Auf dem Bild oben seht ihr meine Mutter und sehr klein Jim, Zoe und eine schlafende Viveka auf einem Boot in Indonesien im Jahr 1996. Da erwartete sie ihr erstes Kind, während ich im Begriff war, das erste Mal Vater zu werden.

Vom Kleinen auf das Große schließen. Von der Ontogenese zur Phylogenese. Vom Individuellen zum Gesellschaftlichen, zum Globalen. Was bedeutet es, Mensch zu sein? Ein fühlendes Wesen?

Ticket 99

2 Antworten auf „Privacy!“

  1. Hallo Jens,

    ja, es ist eine sehr unruhige Zeit. Aber wir dürfen uns von all dem Wahnsinn nicht niederdrücken lassen. Gerade solche Erinnerungen, die Du beschrieben hast, sind es, die diese dunklen Tage ein wenig erhellen.

    Was bedeutet es, Mensch zu sein?

    Ich weiß nicht, was mir hier gefällt,
    In dieser engen, kleinen Welt
    Mit holdem Zauberband mich hält.
    Vergeß ich doch, vergeß ich gern,
    Wie seltsam mich das Schicksal leitet,
    Und ach, ich fühle, nah und fern
    Ist mir noch manches zubereitet.
    O wäre doch das rechte Maß getroffen!
    Was bleibt mir nun, als, eingehüllt,
    Von holder Lebenskraft erfüllt,
    In stiller Gegenwart die Zukunft zu erhoffen!
    Johann Wolfgang von Goethe

    Viele Grüße
    Annegret

    1. Liebe Annegret,

      sehen, was Wert und Wichtigkeit hat. Nicht in Panik verfallen, Mensch bleiben, leben. Erhellen. Hell bleiben.

      Danke für das Gedicht vom guten Johann Wolfgang.

      Herzliche Grüße

      Jens

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