Wie sollte sie reagieren? Cat fühlte sich verraten, vor den Kopf gestoßen. In Momenten der Krise öffnet die Seele die Schotten, lässt alles passieren, die Vorurteile, gefärbten Erinnerungen, unschönen Konstruktionen. Die zu Anklagen formulierten Hypothesen, die sich wie junge Staatsanwälte auf ihre Gegenüber werfen, um ihnen die Klauen des Rechts, der Moral in die ungeschützten Flanken zu rammen. Die Farben ändern sich, aus Annahmen werden Gewissheiten. Cat legte sich ins Bett, sagte ihrer Mutter, sie sei krank, habe Fieber, eine Erkältung, Kopfschmerzen, ihre Tage und überhaupt. Ihre Mutter ließ sie. Brachte frischen Orangensaft, mundgerecht geschnittenes Obst, kümmerte sich, genoss es. Drei sorgfältig auf einen kleinen Teller dekorierte Zwiebacke dokumentierten den Status anerkannte Krankheit.
„Mama, kannst du mir aus dem Atelier Papier und einen Kohlestift mitbringen? Einen breiten für dicke Striche.“ Ihre Mutter stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie oft hatte sie versucht, Cat zum Malen zu bringen, sie in die Kunst einzuführen, in ihr Atelier einzuladen. Sie hatte es bereits aufgegeben, hatte sich mit der Enttäuschung abgefunden. Cat wollte die im Gegenlicht der tief stehenden Wintersonne schwarz gefärbten Zweige vor ihrem Fenster malen. Dieses dunkle Labyrinth, das ineinander lief, sich verhedderte, grelles Licht durch Öffnungen fielen ließ, das Schwarz an Überschneidungen in ein weit finstereres Schwarz verwandelte, das Himmel und Erde verband. Sie suchte eine Metapher, einen Ausweg. Ihren Gedanken glaubte sie nicht. Sie wollte Sue nicht verurteilen, ihr nichts Böses an den Hals wünschen, auch wenn die innere Stimme ihr das einzureden versuchte. Ihre Mutter freute sich still, brachte ihr eine große Unterlage, eine Auswahl an Papier und einen kompletten Kasten voller Kohlestifte und ließ Cat allein. Mit sich, ihren Fragen, ihrem Unmut, ihrer Enttäuschung, den Zeichenutensilien. Breite Striche zogen sich langsam über das Papier, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Zweigen draußen hatten. Cat war keine Zeichnerin, hatte Zeichnen nicht wirklich gelernt. Es half ihr. Als würden diese dunklen, breiten Linien direkt aus ihr heraus laufen, als hätte sie einen Graben nach draußen geschaffen. Aus den dunklen Straßen, den Zweigen, wurde ein Gesicht. Hilflos verfremdet, fern jeder Realität und doch intensiv. Sie zeichnete Sue, dachte an Sue, vermisste Sue. Schon jetzt, nach nur einem Tag. Vielleicht würde es besser. Sie wusste es nicht, konnte ihre Verworrenheit nicht einschätzen. Vielleicht würde sie die Sehnsucht verlassen, mit dem Kohlestaub auf dem Papier aus ihr heraus fließen. Sie sah Sue auf dem Sofa sitzen, ihr gegenüber. Sie kannte Sues Gesten, ihre Bewegungen, als hätte sie sie studiert, in sich aufgezeichnet. Sie musste lächeln und weinen, versuchte es neu und anders.
Sie ließ The Cure laufen, Sue hatte ihren Stick vergessen. War nach Cats Aufforderung aufgestanden und wortlos gegangen. Die Musik mischte sich mit den Sonnenstrahlen, die der helle Wintertag mit blauem Himmel in das Zimmer fallen ließ. An der Wand tanzten die Schatten der Zweige im leichten Winterwind. Cat musste lachen, um wie viel besser die Natur sich selbst zeichnen, lebendig inszenieren konnte. Sie legte ihre Suezeichnungen zur Seite, nahm einen breiten Kohlestift und bannte die Schatten auf die Wand um die Tür herum. Ein dickes Geflecht schwarzer Adern entstand. Immer wieder ging sie einige Schritte zurück und schaute, welche Zweige sie wollte und welche nicht. Sie stieg auf ihren Stuhl, führte die Linien in Bögen, fügte kleine Zweige ein. Mit Bedacht wählte sie kleine und große Äste, suchte nach einer Form, die mit wenigen Bögen und Linien eine Harmonie entstehen ließ, zugleich filigran und authentisch kraftvoll. Eine Krähe landete draußen im Baum, im Bild, schickte ein Krächzen hinein, der Flügelschlag des Davonfliegens zog sich als Schwarz-Weiß-Filmsequenz quer über die Wand. Zwischendurch schoben sich Wolken ins Bild, die den Schatten wegräumten, die Vorlage tilgten. Sie nahm sich einen großen Bogen, warf das bereits Entstandene als Skizze aufs Papier und probierte. Konzentrierte sich, versuchte in Kopfbildern, nahm das Konstrukt des Schattengeflechts in ihren Schädel. Die Gedanken an Sue verschwanden für einen Moment, Cat fühlte eine produktive Harmonie, fühlte sich ausgelastet, gut. Als würde sie mit jedem Kohlestrich auf Papier und Wand ein Stück weit Frieden schließen. Mit Sue und mit vielem mehr. Sie begann, ihre Welt zu gestalten, sich auszudrücken, eine Form zu finden, die ihr entsprach, die ihr Klarheit gab. Sie räumte den Schrank zur Seite, um Platz an der Wand zu schaffen. Sie lief ins Atelier, holte sich Pinsel und schwarze Ölfarbe. Ihre Mutter blieb im Hintergrund, beschäftigte sich in der Küche, obwohl sie darauf brannte zu sehen, was Cat in ihrem Zimmer veranstaltete. Sie sagte nichts, rührte sich nicht. Spürte den Moment, wollte nichts im Keim ersticken, es nicht vermasseln. Cat wusste nicht, wie sie mit Ölfarbe malen, umgehen sollte. Sie probierte aus. Langsam, drückte die Farbe auf ein Tellerchen, das ihre Mutter zum Mischen benutzte. Mit kleinen Pinseln zeichnete sie Kohlelinien nach. Schaute, wie die Farbe dicker wurde und Aststrukturen auf der Wand entstanden. Zur Decke und zu den Seitenwänden hielt sie Abstand. Ihr schwebte ein Ausschnitt vor, den sie in ihrer Vorstellung Zweig für Zweig komplettierte. Mittlerweile hatte sie die Grundzeichnung auf einen großen Papierbogen übertragen, auf dem sie Größenverhältnisse und Astpositionen zunächst mit Bleistiftlinien, die sie wegradieren konnte, und dann mit Kohlestrichen ausprobierte. Hatte sie einen Zweig gefunden, übertrug sie ihn mit Ölfarbe auf die Wand. Sie nahm sich Zeit, genoss die innere Ruhe, die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollte. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, dem Impuls, mit Farben zu arbeiten, nachzugeben, um Kontraste zu setzen, Blicke zu führen. Sie blieb beim Schwarz, der Nichtfarbe. Als die Sonne am Nachmittag unterging, lieh sie sich von ihrer Mutter einen Scheinwerfer aus dem Atelier. Sie verpasste das Abendbrot, hörte Sues Stick komplett durch, fühlte sich in ihr Bild an der Wand gezogen, in die Schatten und Zweige. Tief in der Nacht war ihr Bild, ihr Wandgemälde fertig. Gerne hätte sie Sue angerufen, hätte es ihr gezeigt. Sie legte sich in ihr Bett, schaute auf die vom Scheinwerfer angestrahlte Wand und war fast wieder gesund.
Hallo Jens,
großes WOW. Ich habe nicht mehr die komplette Geschichte im Kopf. Wenn ich mich richtig erinnere, war am Anfang alles in Weiß, und ein rotes Leuchtes des Anrufbeantworters. Und jetzt – Elaine 13 – kommt Schwarz, in filigranen Verästelungen. Haben wir es hier mit Ying und Yang zu tun?
Ich bin beeindruckt. Und leider auf dem Sprung.
Neugierige Grüße
Annegret
Hi Annegret,
nicht mit Ying und Yang, mit Cat:)
Liebe Grüße
Jens
Hallo Jens,
natürlich mit Cat. Aber wie Ying und Yang. Du bringst mich durcheinander, Herr Autor.
Annegret
Hi Annegret,
das ist ja wohl meine Aufgabe. Würde ich für Ordnung sorgen, wäre ich beim Ordnungsamt beschäftigt und trüge eine Binde: Ordner. Von Leitz. Sprachspiel, musste sein. Sehr geehrte Frau Leserin, ich kann hier offen bekunden, nicht an Ying und Yang gedacht zu haben. Mir geht es tatsächlich einzig und allein um Cat.
Liebe Grüße
Jens
Hallo Jens,
da Du Dich ja so gar nicht auf meine Einwürfe einläßt – wozu Du als Autor das Recht hast – spiele ich die Geduldige, nehme meine Ahnungen zurück und trinke Tee.
Viele Grüße
Annegret
Liebe Annegret,
sorry. Nur, während des Schreibens der Story will ich nich den Außenblick. Das bedeutet, ich lasse mich da auf nix ein:) Sturer Kerl, aber auch. Es ist so schon eine heikle Sache, ein Buch in der Öffentlichkeit zu schreiben. Und ja, ich hoffe, es wird ein Buch. In meinem Kopf ist es eines, das noch über einige Kapitel bis zu einem Schluss läuft. Dank des leichten Schubsers von filo, besten Dank an dieser Stelle, bin ich wieder dran und habe hier einige Zeitfenster genutzt. Ich schreibe hier zwischen Texten zu Schaltschränken und Softwarelösungen. Kommt jetzt auch noch Ying und Yang hinzu, verkraftet der zarte Schreibergeist den Input nicht und es kommt zum smashing Overload. Das wollen wir ja nicht. Der Ärmste. Also lassen wir ihn in seinem Verließ, in seiner Raumkapsel vor sich hin schweben und ihn ganz in Ruhe spielen – mit seinem kleinen Baukasten mit den 26 Steinchen, die er so gerne in mehr oder weniger sinnvollen Reihenfolgen aneinanderlegt. Liebe Annegret, ich danke dir für deine herrliche Beharrlichkeit und deinen sehr wertgeschätzten Humor.
Liebste Grüße
Jens