Am Sonntag vor dem großen Tag, dem ersten Schultag Susannes in ihrer neuen Schule, dem Tag, an dem Cat sie das erste Mal sehen würde, löste sich Cats Verkrampfung. Die Schnur zog sich von ihrem Hals, sie hatte das Gefühl, wieder frei atmen und denken zu können. Die Lethargie war eingeschlafen, hatte sich in die Höhle zurückgezogen. Beim gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern lächelte sie still. „Bist du wieder da?“, fragte ihre Mutter zögerlich. „Ein wenig.“ Mehr konnte und wollte sie nicht sagen. „Wieso, wo war sie denn?“ „Lass. Bitte. Lass. Es ist gut so.“ Ihr Vater verstand nichts, wollte vielleicht nichts verstehen, konnte nichts verstehen.
Den Nachmittag über räumte sie ihren Kleiderschrank aus und ein. Probierte jede Hose, jeden Rock, jedes Kleid, jede Bluse, jedes Hemd. Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Hatte in den vielen Kunst-, Design- und Fotobüchern ihrer Mutter jenen nüchtern androgynen Stil entdeckt, der Farben reduziert, auf Arabesken verzichtet und aus jeder Naht eine definierte Linie macht. Für ihre Mutter war es nicht leicht, mit ihr einzukaufen. Kaufhäuser, Jeansläden, H&M und all die Ketten und Shops, wo sich Menschen ab der Pubertät mit ihrem Styling versorgen, passten nicht. Cat kaufte in Boutiquen. Die kleinsten Größen, 34 und 36, passten ihr. Sie war mittelgroß und schlank mit langen, dünnen Armen und Beinen. Ihr dunkelblondes Haar trug sie kurz mit steifem Seitenscheitel. Streng durchgestuft, keine wirren Strähnen oder aus der Form hervortretenden Haarbüschel. Ihre bevorzugte Farbe war schwarz. Schwarze Blusen, schwarze V-Pullover, schwarze T-Shirts. Immer in strenger Form, ohne Schnörkel, keine Muster, keine Überflüssigkeiten. Klar in Form und Farbe. Zu streng für ihr Alter, zu anspruchsvoll, zu wenig bereit, Kompromissbereitschaft auszudrücken. Ihre Mutter ließ sie gewähren, lief mit ihr durch die Boutiquen, hätte ihr gerne Ratschläge gegeben oder kommentiert. Einmal hatte sie eine farbige Bluse gesehen, hatte sie genommen und Cat in die Umkleidekabine gereicht. „Schatz, probier die doch mal. Nur mal probieren. Die ist so schön und würde das Blau deiner Augen hervorheben.“ Cat hatte sie aus der Kabine rausgeschleudert. Auf den Boden. Eine sündhaft teure Bluse irgendeines bekannten Labels. Die Verkäuferin hatte sie aufgehoben. Schweigen im Raum, stille Peinlichkeit, unausgesprochenes nicht miteinander Können.
Sie hatte den großen Spiegel unten im Flur, direkt rechts neben der Freitreppe, von der Wand abgehangen und in ihr Zimmer geschleift. Ihre Mutter hatte helfen wollen, aber Cat wollte alleine schleppen. Der morgige Tag war für sie der wichtigste in ihrem Leben, glaubte sie. Deshalb wollte sie es richtig machen. Wollte bei ihrem ersten Aufeinandertreffen passend aussehen. Sie wählte eine einfache, sündhaft teure Jeans und eine enge, körperbetonte Bluse in schwarz. Sie versuchte ein wenig so auszusehen, wie andere Mädchen ihres Alters auch. Sie wollte sich nicht abheben, sondern diesen ersten Kontakt auf gleicher Ebene, Auge in Auge geschehen lassen. Sie würde ein ganz wenig Make-up auftragen. Sie würde einen teuren, dezenten Duft ihrer Mutter tragen, den sie an sich ausprobiert hatte, der ihr das Gefühl gab, dem Draußen ein wenig von ihr selbst zu erzählen.
Wie würde Susanne sein? Ein ganz normales Mädchen, eines, wie die anderen ihrer Klasse? Eine, die sich nicht für sie interessieren würde? Sie hatte den Spiegel die Treppe wieder hinuntergetragen und musste ihre Mutter bitten, ihr beim Aufhängen behilflich zu sein. Sie wusste, dass ihre Mutter sich fragte, was sie da oben gemacht hat und hoffte inständig, dass sie nicht dieses verschwörerische Mutter-Tochter-Lächeln der Kategorie Ich-weiß-Bescheid aufsetzen würde. Sie tat es nicht. Die Kleidung für den nächsten Tag hatte sie fein säuberlich auf einen Stuhl gelegt. Mit der Hand war sie darüber gefahren als wollte sie sagen „Wir schaffen das schon.“ Sie lächelte, setze sich an ihr Fenster, blickte in den Garten und versuchte sich Susanne vorzustellen. Gerne hätte sie geträumt, hätte sich Bilder einer Freundschaft ausgemalt, hätte einen Kitschfilm Mädchenfreundschaft in ihrem Kopf ablaufen lassen. Aber es kamen keine Bilder, kein Film. Ihr wurde warm und kalt, sie bekam Angst. Wenn Susanne sie einfach nicht beachten würde. Wenn sie einfach von den anderen der Klasse umringt und auf deren Seite gezogen würde. Wenn sie nicht stark genug wäre, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen. Sie wusste, sie würde sprechen müssen. Am nächsten Tag musste sie aus ihrer Hülle raus und in die Welt treten. Was sie nicht wusste, war, wie die anderen in der Klasse reagieren würden. Ob es heißen würde „Wow, hört mal, es kann sprechen.“ Sie versuchte sich vorzubereiten, mental zu rüsten. Ihre größte Sorge war es, dass sie in Tränen ausbrechen würde.
Die Nacht über konnte sie kaum schlafen, weil zu viel auf dem Spiel stand. Dieser kommende Tag würde über so vieles entscheiden, da war sie sich sicher. Es wäre die Entscheidung zwischen Erlösung und fortdauernder Verzweiflung, zwischen einem Hauch Glück und einem langsamen, stetigen Untergang. Irgendwann in der Nacht stand sie auf, ging die Treppe herunter, um sich in der Küche einen Saft aus dem Kühlschrank zu holen. Aus dem Atelier ihrer Mutter kam Licht, die Tür stand einen Spalt geöffnet. Cat ging hin, sah ihre Mutter am Schreibtisch sitzen. Wie gerne hätte sie sie angesprochen, hätte gesagt „Mama“. Sie konnte nicht, sie wusste nicht, wie. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihre Mutter ansprechen sollte. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, schloss ihn und ging ohne Saft zurück in ihr Zimmer, um sich hinzulegen und sofort einzuschlafen.
Guten Morgen, Jens,
Du nimmst uns mit, läßt uns in der „Hochspannung“ stehen und wir wissen immer noch nicht, wie es weitergeht. Wunderbar.
Die „kalte“ Atmosphäre, in die wir hineintauchen, erinnert mich ein wenig an Murakami, den ich gerade lese. In seinem neuesten Werk, in dem Geschichten parallel laufen, verzichtet er auch auf den Ich-Erzähler.
Ich bin begeistert von Deinem Elaine-Projekt. Nur weiter so.
Ich wünsche Dir einen guten Wochenstart, auch wenn die Sonne nicht so durchkommen kann.
Viele Grüße
Annegret
Hi Annegret,
ja, die Hochspannung muss noch bleiben. Da gibt es erst noch andere Dinge zu klären. Stück für Stück. Jetzt hatte ich 5 schon geschrieben, aber der Text gefiel mir nicht. Jetzt wird es kompliziert und aufwändiger. Ich hoffe, mir gelingt es, die Fäden in der hand zu halten und die Geschichte gut voran zu bringen. Jetzt werden die Grundlagen gelegt, da darf ich nicht schludern. Die ganze Zeit spukt mit Projekt Elaine durch den Kopf.
Ich wünsche dir auch eine schöne Woche
Jens
nun hat Cat ein Gesicht, etwas das greifbar, nicht mysteriös oder gar fremd ist, vor allem dann nicht, wenn man 2 Mädchen mehr schlecht als recht durch die Pubertät gebracht hat.
Herzlich
Gitta
P.S. Hmmm Sie hat zu – wie heißtn diese Magersuchtläden Pumkin oder so gehen müssen. In diese Klamotten passe noch nicht einmal ich hinein und das will schon was heißen :-))))
Hi Gitta,
danke für den Kommentar. So Stück für Stück wird sich hoffentlich alles finden. Die Geschichte ist im Aufbau. Ich glaube dieser bunt, grell, kreischende Klamottenladen heißt Pimkie. Ich schätze, das wird mal was für Zoe. Sie mags besonders grell und wild. Bin gespannt.
Liebe Grüße
Jens
na ja ob Pumpkin oder Pimkie :-))… nein, Du hast recht, Pimkie, danke
Stimmt, is egal. Aber ich muss mich allmählich darauf vorbereiten. Bevor sie alleine shoppen geht, muss ich ja vielleicht mal mit rein. Uaahhh!