Als ich bei einem friedlichen Cappuccino im apulischen Maruggio der göttlichen Liebe begegnete

Es war der 14. Juli 2024. Der französische Nationalfeiertag, der Sturm auf die Bastille. Wir stürmten nicht, wir waren von Taranto, von der quirligen Stadt aus, auf dem Weg zum kühlen Meer. Dort, wo der frische Wind wartet, das schöne Meer, das anziehende, einladende. Türkis, klar, wunderschön.

Das Thermometer im Auto sprach von 43 Grad Celsius – vielleicht keine gute Idee, mit einem schwarzen Auto ganz in den Süden Italiens zu fahren. Aus der Stadt raus cruisen, Musik hören, acqua e sale/ Mina e Celentano, die Klimaanlage genießen, die Weinfelder Apuliens, Puglia (Primitivo Puglia) durchfahren. Durch Dörfer, kleine Städtchen. Nur nicht aussteigen bis ans Meer, die Sonne.

Um 12:18 Uhr erreichen wir Maruggio. Wir ahnen nichts, wir denken nichts, wir schauen nur. Entdecker:innen. Deutsche in Italien. Glotzen, starren, bewundern. Sehnen.

Die Sonne steht im Zenit, wir kommen zu einem geschmückten Platz. Der 14. Juli ist ein Sonntag, in der Bar an der Ecke trinken die Musiker einen Wein, ein Bier. Es hatte wohl ein Konzert auf der Piazza del Popolo gegeben, dem Platz des Volkes. Dort, wo man sich trifft. Auf dem Platz ein Werbeplakat für ein Konzert, OHM – Pink Floyd. Deshalb läuft hier im Hintergrund gerade Wish you were here.

„Sollen wir einen Kaffee trinken? Oder lieber gleich ans Meer?“ Ein Parkplatz vor der Bar, rückwärts einparken unter Aufsicht der Männer des Dorfes. Lange Karre hat der Deutsche, mal sehen. Passt.

Aussteigen. Manchmal ist die Sonne ein Hammer, die dich trifft wie der Klöppel die Glocke. Booiiing. Kurze Hose und T-Shirt sind viel zu viel Stoff. Die Männer schauen, machen Platz, lassen uns rein in die Bar, drei Stufen hinunter. Blicke. Wasser, Cappuccino, Cornetti. Ich bestelle zu viel, drei Stück, weil sie so lecker und schön aussehen. Verfressen, diese Deutschen. Später nehmen wir zwei mit für später, zu heiß.

Wir sitzen auf der Terrasse, der Barbesitzer bringt uns alles raus. Ein gut gelaunter Mann, im Wesen von der Sonne des Südens geküsst, über die wir kurz sprechen, mit unserem reduzierten Italienisch. Auf der Tasse in Rot der Aufdruck: make coffee, not war. Bin ich dabei, vor allem, wenn der Kaffee so dermaßen lecker ist. Die Bar hat sich geleert, die Polizei führt die Straße runter eine Alkoholkontrolle durch, Che Guevara schaut mich von der gegenüberliegenden Wand an. Che Guevara, Platz des Volkes, Pink Floyd, make coffee, not war. Gefällt mir, dieses Maruggio.

Jetzt ans Meer?

Es zieht uns in den Ort, in die Seitenstraßen, die menschenleer und ausgestorben sind. An die 40 Grad zeigen ihre Wirkung. Wir treffen auf einen Ort der Botschaften. An die Hauswände sind Zitate aus Gedichten gemalt. Skulpturen säumen den Weg. Was ist das für ein Ort.

In einer Seitengasse Dante, ein Auszug aus der Göttlichen Komödie.

Amor, ch’a nulla amato
amar perdona,
mi prese del costui piacer si forte,
che, come vedi, ancor
non m’abandona

Ich lasse erst Perplexity übersetzen. Nach einigen Diskussionen kommen wir zu folgendem Ergebnis:

Amor, der keinem Liebenden erlässt zu lieben,
erfasste mich mit solcher Macht für ihn,
dass er, wie du siehst, mich noch immer
nicht verlässt.

Das war der dritte Versuch. Hat mich nicht überzeugt. Deshalb habe ich es mit Claude.ai versucht. Im dritten Anlauf:

Amor, der keinem, der geliebt wird, je erlässt, 
auch selbst zu lieben, 
ergriff mich durch sein Glück mit solcher Macht, 
dass er, wie du nun siehst, mich niemals mehr verlässt

Ich habe Claude dann noch beide Varianten vergleichen lassen. Claude fand sich besser … Ich auch:

„Das Italienische Original hat ja eine besondere musikalische Qualität, die man im Deutschen einfangen möchte. In meiner Version:

„Amor, der keinem, der geliebt wird, je erlässt, auch selbst zu lieben, ergriff mich durch sein Glück mit solcher Macht, dass er, wie du nun siehst, mich niemals mehr verlässt“

… versuche ich, den natürlichen Sprachfluss zu bewahren und gleichzeitig die Intensität der Emotion zu transportieren. Das „je“ gibt dem Vers zusätzliche Zeitlosigkeit, und die Zeilenbrüche lassen den Text atmen.“

Besser kann man das nicht sagen, die KI kann Emotion. Ich bin ziemlich überrascht und beeindruckt.

Heute ist der 19.Oktober 2024, also 3 Monate später. Draußen regnet es. Ich denke zurück an Apulien, den Sommer, das Meer, dieses bezaubernde Städtchen auf der Reise. Die Liebe nach Dante, die bestand hat bis in die Tiefen der Hölle.

Ein interessanter Aspekt. Formuliert um 1300 n. Chr. – sie ist halt zeitlos, die Liebe, die das Leben macht.

Claude hat mir die Passage aus der Göttlichen Komödie auch erklärt:

„Diese berühmten Verse stammen aus dem 5. Gesang des „Inferno“, einem der bewegendsten Momente der gesamten „Göttlichen Komödie“. Sie werden von Francesca da Rimini gesprochen, die Dante im zweiten Kreis der Hölle trifft, wo die Sünder der Wollust bestraft werden.

Francesca war mit Giovanni Malatesta verheiratet, verliebte sich aber in dessen jüngeren Bruder Paolo. Die beiden wurden beim gemeinsamen Lesen der Geschichte von Lancelot und Guinevere vom Ehemann überrascht und getötet. Der literarische Moment, der sie zusammenbrachte, wird in den folgenden Versen beschrieben – sie lasen von einem Kuss zwischen Lancelot und Guinevere, und in diesem Moment küssten auch sie sich zum ersten Mal.

Das Tragische an der Geschichte ist die Unausweichlichkeit dieser Liebe, die Francesca in den zitierten Versen beschreibt: Amor erlaubt keinem, der geliebt wird, selbst nicht zu lieben. Es ist ein Naturgesetz der Liebe, dem sie sich nicht entziehen konnte.

Dante selbst ist von ihrer Geschichte so ergriffen, dass er vor Mitgefühl in Ohnmacht fällt – obwohl er als Christ ihre Sünde verurteilen müsste. Diese Ambivalenz zwischen menschlichem Mitgefühl und moralischer Verurteilung macht die Episode zu einem Schlüsselmoment des Werks.“

Und Claude hat mir auch erzählt, dass Rodin daraus sein Werk „Der Kuss“ geformt hat. Die Skulptur steht im Rodin-Museum in Paris. Eine Kopie in den Tuilerien. Bin bislang an beidem vorbeigelaufen, das muss sich ändern. Mal wieder ein guter Grund, in die Stadt der Liebe zu fahren. Schön, dass sich über unseren Kontinent so ein feines Netz der Liebe spannt, dass die Dinge verbindet.

Die Ursprünge mit dem Wesentlichen, das Leben mit der Kunst, das Gefühl mit dem Bild. Die verwobene Liebe als Trost, Ansporn, Wesentlichkeit. Die unsterbliche Liebe, was immer auch geschieht.

Braeburn

Lächelnd sah er sie an

prall rot und grün

Sie nahm ihn

biss hinein

Braeburn

saftig sauer und süß

Sie tänzelte auf leisen Sohlen

warf das Haar in den Nacken

streckte die Arme

tief in die Sonne

Komm

Komm wir sind frei

gehen hinaus

hinaus in die Welt

und leben

leben

Sein Lächeln

ließ ihn schweben

nun konnte er sein was er ist

ein Mann draußen

Hand in Hand

gingen sie

und froh und

sie flüsterte

frei Adam

endlich frei

jens schönlau, februar 2006

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