Smoke on the water

Wir waren Kinder, Brüder und verbrachten die großen Ferien gemeinsam mit unseren Eltern am Thuner See in der Schweiz. Für den Abend – es war der Nationalfeiertag des Landes, hatte die Hotelbesitzerin, eine wohlgenährte Französin mittleren Alters mit entsprechendem Akzent, ein Feuerwerk für die Gäste des Hauses angekündigt – „Isch abe die Ehre, Ihnen ’eute Abend, eine gewaltige Feuerwerk über die See’immel anzukündigen!“ Der gedämpfte Applaus ging in der pürierten Spinatsuppe „Potage du Jackson“ unter. Wir tauschten Blicke unter verschworenen Brüdern, ließen das Menü unbeachtet passieren und verzichteten in gespannter Erwartung und Vorfreude auf die Ereignisse des Abends auf das Dessert – Crepes mit pürierten Himbeeren und zartbitteren Schokoladenflocken. Wir eilten raus auf die Liegewiese unten am See, auf der Urs – Gärtner, Portier, Hausmeister, Chauffeur und Barkeeper in einer Person – die Vorbereitungen traf. Mit gekrümmtem Rücken und monotoner Langsamkeit trug der mindestens Siebzigjährige Kisten und Werkzeug aus der Orangerie am Rande des Hotelgartens. Wie gerne hätten wir geholfen, die Raketen, Böller, Sonnenräder, bengalischen Lichter auszupacken. Sein Blick traf uns ins Mark und wir wussten, er wollte uns bei seinen Vorbereitungen nicht dabei haben. Kleine Jungen und Feuerwerk, eine zu gefährliche Mischung. Also nahmen wir das Boot, ruderten auf den See und erzählten uns, was wir an den Himmel werfen würden. Allein unsere Ouvertüre hätte das Land der Banken und schweigenden Konten in eine finanzielle Staatskrise gebracht – unser Finale, von einem lyrischen Entree langsam einschwenkend in ein Lichter-Stakkato bis zu einem bombastischen Höhepunkt geführt, wäre noch in Sydney zu sehen gewesen.
Urs hatte scheinbar ein anderes Konzept und wir waren gespannt, was er sich hatte einfallen lassen. Aus heutiger Sicht kann ich das kurz auf den Punkt bringen: Nichts. Rein gar nichts. Kein Gedanke an ein Konzept. Nach dem Abendessen hatten wir uns auf die Wiese geschlichen und nicht mehr als einige behelfsmäßig zusammen gezimmerte Dachlatten sowie eine ganze Batterie geleerter Baron Rothschild Flaschen als Raketenabschussbasen entdecken können. Ein Skandal! Dann kam es, wie es kommen musste. Wir hatten keinerlei Vertrauen in Urs. War er ansonsten vielleicht ein handwerkliches Universaltalent, ein Feuerwerker war er mitnichten. Wir hatten uns auf dem Balkon des Salons in der zweiten Etage wie Stadler und Waldorf aus der Muppet Show verbarrikadiert, während alle anderen Hotelgäste Champagner schlürfend von der Terrasse aus zusahen. Zum Auftakt fuhr Urs die Hotelbesitzerin im offenen Bentley, ein herunter gekommenes Modell aus dem Jahr 1913, auf die Wiese und übergab ihr im Schein des Mondes die brennende Fackel. Dann ging alles sehr schnell. Die erste Rakete zündete und warf im Davonzischen die zweite und dritte Rakete samt Baron Rothschild Flaschen zu Boden. Uns war sofort klar, was jetzt geschehen würde. Am Anfang des Super GAUs stand die Auslösung einer Kettenreaktion. In den nächsten 60 Sekunden entzündete sich der gesamte pyrotechnische Vorrat für ein zwanzigminütiges Feuerwerk. Urs hatte definitiv versagt. Als erstes musste der Bentley mehrere Raketentreffer einstecken, was ihn im Handumdrehen in Flammen aufgehen ließ. Während Madame und Urs verfolgt von bengalischem Feuer in letzter Sekunde den rettenden Sprung in den Thuner See wagten, um von dort das Einschlagen der Raketen im Bootshaus mitzuerleben, was das Ende des geparkten Mahagonibootes eines befreundeten Industriellen aus Interlaken bedeutete, erlebten wir die schönsten und wohl aufregendsten Sekunden unseres Lebens. Alles war in ein Lichtermeer lyrischer Schönheit getaucht. Dann war alles vorbei – der Rest ist Schall und Rauch. Niemand wurde verletzt, ein Wunder, und auch das Hotel blieb gänzlich verschont, obwohl uns im Schutze des Balkongeländers die Raketen nur so um die Ohren flogen. Ein Volltreffer zauberte hunderte Sterne an die Hotelfassade, blieb ansonsten aber ohne Folgen. Es dauerte Stunden, bis die Einsatzkräfte den Ort des Geschehens verlassen hatten. Mein Bruder und ich waren einer Meinung: Besser hätten wir es auch nicht inszenieren können. Seither denke ich bei jedem Feuerwerk, und sie können mir glauben, ich lasse keines aus, an diesen Abend und – wer hätte das gedacht – einen wahren Feuerwerkgott namens Urs.

4 Antworten auf „Smoke on the water“

  1. Hallo Jens,

    Du hast aber mächtig aufgefahren. Im Angebot: viel Lyrik und Geschichten. „Smoke on the water“ mit Feuerwerkgott Urs hat mir am allerbesten gefallen. Schööööne Geschichte! Daran mag man sich gerne erinnern.

    Vielen Dank fürs Präsentieren.

    Annegret

    1. Hi Annegret,

      einige alte Sachen, die auf der Festplatte nur Staub ansetzen und hier vielleicht gerne von jemandem gelsen werden. Also raus damit. Macht Spaß, da so zu kramen und sich zu erinnern, was das für zeiten waren und woher was kommt. Der Urlaub in der Schweiz – „Smoke on the Water“ – war ziemlich genial. Da habe ich windsurfen gelernt und die Berge lieben. Die Geschichte ist übrigens in einer Kundenzeitschrift erschienen. Da ging es um feuerwerk und der Auftraggeber hat mich gefragt, ob ich einen ungewöhnlicheren Text schreiben könnte. Aber gerne.

      Liebe Grüße

      Jens

    1. Hi Claudia,

      tatsächlich eine wahre Begebenheit – allerdings erzählerisch ein wenig dramatisiert. Tatsächlich saßen mein Bruder und ich auf dem Balkon, sahen in den Garten und erwarteten, jeden Augenblick getroffen zu werden. Nix ist passiert, obgleich nicht alle Raketen dort landeten, wo sie hin sollten. Auf jeden Fall war es ein eindringliches Kindheitserlebnis.

      Danke und liebe Grüße

      Jens

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