Heinrich, der Gärtner

Heinrich war nicht groß, er war eher ein kleiner Mann. In der Erinnerung sehe ich ihn im abgewetzten Anzug mit kurz geschorenen Haaren. Er ist 1904 geboren und lebt leider nicht mehr. Heinrich ist mein Großvater. Mein Opa mütterlicherseits. Heute Morgen habe ich mit ihm die Autobahnausfahrt verpasst und musste einen Umweg von 25 Kilometern fahren. Manchmal bin ich so in Gedanken, so verstrahlt, dass die Welt draußen von mir unberührt vorbei fliegt.

In der Schule musste ich uns in Listen für den Elternsprechtag Ende des Monats eintragen. Dadurch konnten wir länger schlafen, weil ich die Kinder mit dem Auto zur Schule gebracht habe. Diese Woche bin ich dran mit Kinderdienst am Morgen. An solchen Tagen ist dann von Anfang an alles anders, was sich scheinbar auch in meinem Denken niederschlägt. Ich sollte morgens keine Zeit alleine auf der Autobahn verbringen. War es das Licht? Der Nebel am Horizont im Osten, durch den die Morgensonne hindurch lugte? Ich weiß es nicht. Da saß er irgendwie neben mir und ich war in einer Szene Anfang der achtziger Jahre. Ich war in den Sommerferien zu Besuch in der Gärtnerei meiner Großeltern. Opa saß im Rollstuhl vor dem Gewächshaus (wegen diese Gewächshauses liebe ich Goethes Satz aus Torquato Tasso – Der Gärtner deckt getrost das Glashaus der Orangen und Zitronen zu), ich saß auf der Treppe vor der alten braunen Holztür mit abgewetztem Eisengriff.

Er erzählte, was selten vorkam. Opa und Enkel im Gespräch. Er war ein offener und gleichzeitig introvertierter Mann. Die Morgenstunden verbrachte er in der Natur an seinem Karpfenteich, zu dem er zwei Kilometer lief. Er lief – vor der Arbeit, die um sechs Uhr begann. Ein fleißiger Gärtner, einer, der eine große Gärtnerei nach einem Gartenbaustudium in Berlin aufgebaut hat. Er erzählte vom Krieg. Er ist zum Ende hin eingezogen worden als Flakhelfer vor den Toren Kölns, um die Bombardements der Stadt abzuwehren. Meine Mutter schreibt gerade über ihre Ängste aus jener Zeit, als sie in den Keller musste und als sie ihren Vater im Krieg besuchte. Hier im Dorf haben mir die Menschen erzählt, dass der Feuerschein des brenenden Kölns 1944 bis hierher zu sehen war.

Er erzählte ruhig und es ging nicht um Schrecken. Er war sehr feinfühlig, wenn er gegenüber seinen Söhnen auch ziemlich aufbrausend sein konnte. Mir hat er von seiner Zeit in der Gefangenschaft berichtet, als er in Andernach auf den Rheinwiesen lag. Er spielte Fußball gegen ein Team der Alliierten, obwohl er nicht Fußballspielen konnte und es eigentlich auch nicht mochte. Dann kam ein Tag, an dem Männer entlassen wurden. Alle drängelten, er stand abseits und ließ das Schicksal gewähren. Ein Soldat, ein Engländer oder Amerikaner, zeigte auf ihn und ließ ihn gehen. Mein Opa lächelte, als er das sagte. Er hatte ein sehr sympathisches Schmunzeln, das ich bis heute liebe und schätze.

Als ich so mit ihm in Gedanken in Kriegs- und Nachkriegszeiten unterwegs war, sah ich plötzlich die übernächste Autobahnausfahrt. Wie bin da hingekommen? Tempo 150 und plötzliche Rückkehr ins Jetzt. Natürlich mit offenen Augen. 15 Kilometer Autobahn nicht mitbekommen. Im Radio lief der aktuelle Song der Kings of Leon, die nächste Woche ihre neue Platte rausbringen. Da war Heinrich plötzlich weg, verschwunden aus dem Auto, aber mir immernoch ganz nah. Manche Erinnerungen sind lebendiger als das Leben. Merkwürdig. Wie gerne würde ich noch einmal neben ihm sitzen, auf der Treppe vor dem Gewächshaus, die alte Holztür im Rücken und Geschichten hören aus unvorstellbaren Zeiten.

Mir ist gerade warm ums Herz, ich bin mal wieder sentimental. Ts, ts. Aus, Brauner. Ich hoffe, das ist euch nicht zu persönlich. Egal. Was solls? Steht jetzt geschrieben und ist so. Ich wünsche euch einen klaren Tag und dass ihr eure Abfahrten nicht verpasst… Da versuche ich immer, im Moment zu leben, und dann reißt es mich weg in ferne Zeiten und Welten. Kann mir mal jemand einen Anker schenken, den ich in die Erde werfen kann? Liebe Grüße, einen schönen Tag und gute Momente im Realen. Jens.

Wiege der Welt

Ganz unten drin

in der Tiefe

steht die Wiege

des Meeres

der Welt

Niemand hat

sie gesehen

berührt gar

Kein Jaques-Yves

Vasco da Gama

Robby Naish

Wer weiß schon

was ist

da unten

jens schönlau, september 2010

AKROPOLIS AIRPLANE FRANZ

Franz schrieb ihr jeden Tag und sie schrieb zurück und

übersetzte seine Texte um sie in Zeitungen zu veröffentlichen

worüber er sich sicherlich maßlos gefreut hat weil es

seine Welt innen doch zu geben schien und sogar gedruckt auf

rarem Papier eine Wichtigkeit sein und sie hat sich

seiner angenommen hat ihm zurückgeschrieben ihn berührt

in Briefen gestreichelt liebkost die Hand gehalten auf

seine kranke Brust das Husten das Blut aus der Lunge

sein Denken die Angst und kein Schrei war zu hören ein

Freund sagte dem hats zerrissen das Innere – implodiert

und so am Leben gehangen am Lebendigen, Wachsenden wenn

alles kreucht und fleucht sein Hang seine Leidenschaft im

Garten zu arbeiten in der Erde wühlen und die tote

Amsel in das Erdbett legen während der Kur in Meran während

dem Kampf um das eigene Leben – Liege in Athen im Hotel

am Rande der Altstadt am Fuße der Akropolis genieße die

kalte Luft der Klimaanlage während sich die Schichten

des Vergangenen vermischen durchkreuzen verflechten in meinem

Kopf einer Maschine eines toten Apparates das Fremde in

der Geschichte Vergangenheit. Er hat Milena geliebt und

ich liebe M. und er hatte Angst und ich von nichts eine

Ahnung was da passiert um mich herum dieser Lärm draußen

auf der Straße Olivenölverkäufer und Jeanshändler und die

unfassbaren Steine Mykene Olympia der Weg in die Stadt

auf den Berg in der Abenddämmerung heißt es closed zu

spät kein Einlass und am Morgen geht der Flieger und ich

mit ihm nach Frankfurt Deutschland das Land dessen

Zeitungen ich las am Strand auf den Betten in Sorge und

in Gier nach den grausamen Schlagzeilen brennender

Menschen der Sommer zu Hause war ruhig ich denke vielleicht

nur des Regens wegen denn was oder wer soll sie bewegen

damit aufzuhören. Und wieder ist es Geschichte

zurückgelassene Säulen aus Qualm und ich sah die Tempel

der Stadt nur von Weitem vom Zaun aus der

nur Ecken des Tempels der Nike und nur den Giebel

halbierte Säulen des Pantheon mich sehen ließ um mich

zur Rückkehr zu zwingen der verpassten Gelegenheit

wegen der verschlafene Nachmittag im Hotel nach der

Reise und dem Blick auf das Gold der Mykener von einem

Deutschen aus dem Damals herausgegeraben um letztlich

an der Kruste der Griechen zu kratzen die nun Krämer

und Händler sind im Dienste der abertausenden kleinen

Forscher die sich ihr eigenes Bild Geschichte machen vor

Ort wozu sie die Augen und Münder weit aufreißen so wie

es mir Augen und Mund und alle Poren aufreißt durch die

Zeiten zu fliegen vom Vollmond über dem Pantheon mittels

Airline in den Schnellzug da fliegen die Zeitfetzen bis

zur Notbremsung über Lautsprecher wird von Betriebsstörung

gesprochen im nächsten Bahnhof steigen wir aus und der

Zugführer auch der Vollmond trieb die Frau vor den Zug

wir rollten über sie hinweg im Speisewagen über ihr

Innerstes hinweg als sei sie Franz

jens schönlau, august 1993

Sommer 10

Schnüre meinen Midlifecrise geschüttelten Körper

ganz eng in meine japanischen Joggingschuhe

Made in Taiwan

In einem fremden Land

hat Deutschland mal wieder gewonnen

Ghanas Boateng, Deutschlands Boateng

verfeindete Brüder

kurzer Handschlag

Özil

Tor

Foucault

Wahnsinn und Gesellschaft

WM im Carport

Beamer-Breitbild

Deutschland

Sommer 10

Heine

was hättest du gesagt

kommend aus Paris

Bin heute keine Wege

gelaufen

habe Jims Crossover

gewählt

Auf den abgeschnittenen

Wiesen

küssen sich die Krähen

Wiedergeborene in der Warteschleife

ein Fuchs daneben

klein, scheu, neugierig

sehen uns kurz in die Augen

Laufe quer hindurch

scheuche alle auf

die frische Morgenluft

auf meiner Haut

Das in Reihen liegende Heu

Duft, Duft, Duft

Taboris Satz

Die Kraft liegt in der Wiederholung

Duft, Duft, Duft

Laufe entlang der Reihen

sauge ihn auf

Erinnerung

im Spiegelkabinett

meines Lebens

Bilder, Bilder, Bilder

Tabori

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Einen Moment eins

Das zarte Oliv des Heus

junges, nachwachsendes Gras

in katzenpfotenweichem Grün

hell klingend, noch weich

das pralle Grün des stehenden Grases

wie viel Grün es gibt

Neben mir

mein schwarzer Hund

an meiner Seite

Ich könnte laufen

laufen bis nach Paris

Kehre zurück

in mein Leben

schließe das Kabinett

bin federleicht

Blogge

für eine Frauenzeitschrift

Heine, Tabori, Foucault

Am Sonntag spielt Deutschland

weit weg in Südafrika

gegen England

jens schönlau, juni 2010

Atomkraft ist kacke!

Oh, so drastisch, Herr Schönlau? Gar nicht ihre Art, oder? Waren Sie es nicht, der für Klangästhetik und Sprachschönheit in einem freien Sinne eintritt? Schnauze, Herr Schönlau! Jetzt reden wir mal Tacheles! Ich habe hier den guten alten Brecht schon einmal mit seinem Baumzitat erwähnt. „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ Nun schreibe ich in diesem gemütlichen Landblog gerne über Natur und auch Bäume. Sorry, Bertolt. Ich will nicht sagen „Kommt nicht wieder vor!“, aber doch „Jetzt ist auch mal gut“. Nicht mit dem Schreiben über Bäume, aber mit dem, was der Konservatismus gerade hier in Deutschland anstellt.

Gestern hat mir meine Blogkollegin Anja Deuser eine Mail von Avaaz.org weitergeleitet, die gegen die Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke in diesem Land mobilisiert. Im Tagesgeschäft und mit der Nase in der Tastatur habe ich sie weggeklickt und weiter geschrieben, gebloggt, getwittert, telefoniert, gekocht, Kinder transportiert, den Hund versorgt (eigenhändig Fäden gezogen nach der OP) und, und, und. Heute Morgen dann hatte ich an der Schulbushaltestelle ein Gespräch mit dem Vater eines Mädchens, das auch mit dem Bus meiner Kinder fährt. Er ist Ingenieur, arbeitet beim Tiefbauamt und hat mir erzählt, wie viele Entscheidungen im Rat der Stadt, bei der er arbeitet, ohne wirkliches Wissen der Ratsmitglieder gefällt werden. Manche wüssten gar nicht, worum es geht. Nach Abstimmungen kämen Fragen, die zeigen, dass da teils null Wissen vorliegt.

Auf dem Weg nach Hause habe ich mich dann gefragt: Und du? Was tust du für Demokratie? Wie bringst du dich in das Gemeinwohl ein? Hm. Ich erziehe Kinder, versuche den Kopf oben zu halten wie die meisten und das Leben auch bei schlechtem Wetter zu genießen und mit schönen Inhalten zu füllen. Heute Morgen aber kam mir die Mail in den Sinn. Gerade wird Deutschland reatomisiert. Wir hatten einen Ausstieg, den ich bejubelt habe, und nun haben wir Laufzeitverlängerungen zu zweifelhaften Konditionen. Wir müssen jetzt hier nicht in die Erörterung einstiegen, in das Pro- und Kontra-Verfahren, dass wir alle in der achten Klasse gelernt haben. Denn: Atomkraft ist idiotisch! Punkt. Unintelligent, gefährlich und äußerst unangenehm. Keine Bereicherung, keine moderne Technik. Strahlenden Müll zu produzieren und eine solche Risikotechnologie in den Händen von extrem auf Profit ausgerichteten Unternehmen zu wissen, genügt um zu sagen: Nein.

Erinnert ihr euch an die Proteste damals? Die Anti-AKW-Bewegung? An all die Menschen, die sich eingesetzt haben, die Demokratie gegen Wasserwerfer und Knüppel gelebt haben? Und nun sitzen wir hier und lassen Menschen in feinem Zwirn unsere Welt derart verändern. Treffen im Bundeskanzleramt zur Nachtzeit, wenn alle schlafen. Ein schönes Bild. Pennende Bürger/innen der Demokratie. Wir sollten wieder auf die Straße gehen, sollten sagen „Nö, wollen wir nich!“. Nein, nein, nein – ich will keine Atomkraft. Für mich nicht und erst recht nicht für meine Kinder. Das ist keine „Brückentechnologie“ nach Angela Merkel, sondern Schwachsinn. Es sind mehr Menschen gegen Atomkraft als für Atomkraft hier in Deutschland. Dennoch findet sie statt und wird in einem ersten Schritt verlängert und dann?

Ich hoffe, der Protest kommt ins Rollen und wird stark. Ihr könnt, wenn ihr nicht an Protestaktionen teilnehmt, zumindest hier unterschreiben und euren Unwillen, so ihr ihn verspürt, kundtun. Das ist wenigstens ein Zeichen. Ich wünsche euch einen schönen Tag und einige Gedanken über das Leben in einer Demokratie und unsere Verantwortung für die Gestaltung der Lebensbedingungen in unserem Land. Alle Realität, die wir erfahren in jedem Augenblick, ist selbstgemacht. Wir schaffen das, was wir Wirklichkeit nennen. Jens.