Weshalb ich in der Werbung arbeite

Arbeite ich in der Werbung?

Das alles ist eine lange Geschichte. Eigentlich erzähle ich sie nicht euch, sondern mir. Stefan, ein Kollege, der uns gerade verlassen hat, fragte mich einmal: „Jens, weshalb all diese Sachen. Der Blog, Facebook. Deine Bilder, Videos, Texte?“

Aus purer Eitelkeit, Stefan. Und weil all das irgendwo hin will. Das Texten, die Bilder, die Videos. Und weil es mein Tagebuch ist, in dem ich am Ende aller Tage nachblättern kann. Alles drin. All die Geschichten. Die Kinder, die Liebe, der Hund, die geliebten Frauen. Anekdoten, Storys, Kleinigkeiten, Meinungen, Politisches, Aufregung, Kunst, Kino. All das, was mich bewegt. Vielleicht ein ein wenig egozentrierter Blog. Ein Tagebuch eben. Öffentlich. Was manchmal zu Problemen geführt hat, weil Intimität im Denken und Fühlen manchmal exhibitionistisch wirkt. Für mich nicht.

Kapitel Werbung.

Ich wollte inszenieren. Ich habe unter anderem Germanistik studiert. Es sollte Bauigenieurwesen sein, ist aber Germanistik/ Politische Wissenschaft/ Internationale Technische und Wirtschaftliche Zusammenarbeit an der RWTH Aachen geworden. Fokus Theater. Ein expressionistisches Stück als Zwischenprüfung. Gelber Fluss. Am Ende tragen die wahnsinnig gewordenen Soldaten des ersten Weltkrieges ein Kreuz durch den Giftgasnebel und streben nach Erleuchtung. Mein Professor hatte mir über Kommilitonen ausrichten lassen, ich solle jetzt aufhören, bevor auch ich der Welt entschwinden würde…

Es war immer genug Bodenhaftung da. Die Sorge bestand nicht. Gerne wäre ich in der Droge der Kunst höher geflogen. Hospitanz Stadttheater Aachen. Hospitanz Stadttheater Heidelberg. Regieassistenz Nationaltheater Mannheim. Ich wollte nach oben. Ich wollte inszenieren. Ich wollte Stücke auf die Bühne bringen, die etwas bewegen. Ich war jung, naiv, pseudo-idealistisch. Rien ne va plus. Nichts geht mehr. 10 Jahre zu spät, vielleicht oder einfach nur blind.

Eine Familie gründen, Geld verdienen, Schotter machen. Eine Kölner Agentur, die mir eine Chance gibt als gut bezahlter Praktikant. Miete war drin, essen. Es lief. 01. April 1996: Adieu Praktikum, hasta la vista Baby. Selbstständigkeit. Eine Wohnung, ein Büro in Köln Ehrenfeld. Texten bis der Arzt kommt. Wenn mir im Leben immer etwas zugeflogen ist, dann waren es Worte. Aus Gedanken geflossene Worte. Ich glaube mein Gehirn arbeitet überwiegend in dem Modus, die 26 kleinen Freunde plus Umlaute in Reihenfolge zu bringen. Im Grunde bin ich ein antiquierter Computer, der mit Chiffren der Vergangenheit arbeitet. Ich liebe es, kann es nicht lassen. Sitze lange nach Feierabend am Küchentisch und haue Zeichen in den Blog.

Weshalb?

Es soll Sinn ergeben. Alles soll eine Ordnung haben. Die Dinge sollen sich zum Guten fügen.

Heute entwickle ich Marken. Ganz selten noch texte ich Broschüren. Frei mache ich das, Donnerstag und Freitag. Meistens. Da schreibe ich Presseberichte und über Biogasanlagen in Deutschland oder Müllaufbereitung in Kalifornien. Ich liebe das. Das ist einfach und entspannt. Finger fliegen lassen, lächeln, Kaffee trinken, raushauen. Wusch!

Einer meiner ersten Textjobs war ein Reisekatalog Spanien. Vier Wochen im Geiste durch alle Regionen. In der Bücherei Reiseführer ausleihen und Stories ausdenken, weshalb es in Andalusien oder im Baskenland so außerordentlich schön ist. Ich war auf Reisen, vor Ort. Im Geiste. Habe alles gerochen, gesehen, erlebt, gefühlt. In diesem Job braucht man eine gewisse Verrücktheit, die Fähigkeit, sich in Themen fallen zu lassen, sich aufzulösen, in dem Thema zu verschwinden. Am Ende des Tages gehst du nicht nach Hause und trinkst eine Tasse Tee. Es rattert. Die Maschine läuft, produziert.

Texter, Konzeptioner sind die schlechtbezahltesten Arbeiter, weil sie im Bett auf Nachtschicht sind. Du wachst auf und lächelst. Ja, jetzt, jetzt hab ichs. Und du ärgerst dich nicht, dass du aufgewacht bist, du freust dich, dass es Klick gemacht hat.

Du wartest immer auf das Klick. Irgendwo in deinem Kopf gibt es eine Lösung. Aber du siehst sie nicht. Ist wie Schach. Sinn ergeben.

Heute entwickle ich Marken. In den neunziger Jahren waren meine geisteswissenschaftlichen Freunde entsetzt. Schönlau in der Werbung. Der wollte doch am Theater die Welt revolutionieren. Jetzt verkauft er sich an den Klassenfeind. Der Marsch durch die Institutionen.

Ich mochte das Theater nicht mehr. Es war hierarchisch eklig. Es war bürgerlicher und spießiger als der Stammtisch zum goldenen Hirschen. Niemand wollte etwas bewegen. Es ging um Tarife, Regelungen, Ordnung, Abgrenzung. Es war Scheiße. Ein Umstoß war nicht in Sicht. Es ging darum, wer wo parkt. Wer wann etwas sagen darf. Um die Abnahme der Bühne durch die Feuerwehr. Und um Wasserleitungen in Schauspieler*innen-Garderoben: „Ich bin Nationaltheater-Schauspielerin!“. Herrje. Und ich bin der Regieassi, der damit kämpft, dass der Blitz eingeschlagen hat, die Beleuchtung abgefackelt ist und auch in der Generalrobe diese Bremse nicht funktioniert, die den Helden davor schützt, in der großen Rede auf dem kleinen Wagen auf den Arsch zu fallen. Göttliche Komödie.

Also Text. Werbung. Ein Auskommen, ein Arrangement, eine Zukunft. Lief. Der Herrgott hat mir ein vermarktbares Talent geschenkt. Geld, Familie, Haus, Landleben, Hund, Kombi. Das ganze Programm.

Irgendwann war Text plötzlich obsolet. Die Rechtschreibreform hatte für Zweifel gesorgt, ob Text tatsächlich noch den Stellenwert hat. Es wurde oberflächlicher, schludriger. Weniger wertvoll und damit preiswerter. Text im Web für Cents pro Zeile. Die schnelle, klingende Aneinanderreihung von Wörtern mit recht wenig Sinn und Verstand. So gar nicht mein Ding. Mechanisches Texten ohne Lust und Leidenschaft. Texten ist eine Droge. Die bringt dich drauf. Wenn es fließt, wird es automatisch. Die Buchstaben tanzen. Es ist ein Zustand, eine Dröhnung, ein Abfliegen.

Das ist meine Lust am Bloggen. Die Segel setzen, den Schirm aufspannen, abfliegen. Geiler ist nur Lyrik. Gedichte. Adieu Ratio, willkommen Paradies. Die Finger lecken nach schönen Worten, nach Konstruktionen, geheimen Codes und niemals zu entschlüsselnden Intimitäten. Fast nichts im Leben hat mich so glücklich gemacht wie ein schönes Gedicht. Klingt doof, ist unerklärlich. Aber einfach extrem intensiv.

Werbung.

War der Anfang. Später kam Marke hinzu, dann Kultur. Die Suche nach dem Unsichtbaren, nach dem, was niemand sieht. Dieses Phantom im Hintergrund. Der wahre Sinn.

Daran arbeite ich heute. Suche danach. Sitze in Workshops, höre zu, notiere. Und fühle nach. Was ist es? Es lässt sich nicht rational herleiten. Es hat nichts mit Zahlen und Diagrammen zu tun. Mit Menschen. Was bewegt Menschen dazu, etwas zu tun. Für eine Marke zu leben, zu arbeiten, zu brennen und sie zu kaufen. Ja, bei kaufen schreckt ihr auf. Ein unschönes monetäres Wort, aber die Basis für Sinnhaftigkeit. Für Gehälter. Für Existenz.

Marken geben Sinn, wenn sie die Menschen sehen. Warme Marken, herzliche Marken, soziale Marken. Marken als Fahne, auf denen etwas Gutes steht. Eine formulierte Vision in den letzten Monaten hieß: „Die Welt ein wenig schöner machen.“ Dafür lohnt es sich doch, zu arbeiten.

Arbeit einen Sinn geben macht mir mittlerweile viel mehr Spaß als vom Weltfrieden zu träumen. Ich arbeite in der Werbung, weil ich etwas bewegen kann. Weil ich in Unternehmen hineingeben kann, dass es alles immer auch mit Sinn und Verstand gibt. Wenn dabei Geld abfällt, bin ich d’accord. Soll es. Soll Mut bezahlt werden. Soll das Bessere im Sinne des Ganzen gewinnen.

Das Schönste ist, zu präsentieren und den neuen, veränderten Weg der Hoffnung zu zeigen. Wenn der Samen in Augen aufgeht, die leuchten. Und dann fängt die richtig harte Arbeit an, weil das Versprochene Realität werden soll. Und du kannst von deinem Versprechen nicht zurücktreten, du musst das Versprechen einer schöneren, besseren Welt gegen alle Skepsis einhalten. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Auf Worte Taten folgen lassen. In der Verantwortung stehen. Kein Werbegeschwafel. Kultur, Veränderung, Evolution. Kein einfaches Business. Aber das, was ich tun möchte.

Deutschland zufrieden wie nie

Die gute Nachricht:

„Noch nie war die Lebenszufriedenheit der Deutschen so hoch wie 2019. Sie liegt aktuell bei 7,14 Punkten auf einer Skala von 0 bis 10. Damit wird das Ergebnis von 7,05 Punkten aus dem Vorjahr um 0,09 Punkte verbessert. Das ostdeutsche Glücksniveau stieg sogar um 0,11 Punkte auf das Allzeithoch von 7,0 Punkten, der höchste Wert, der jemals seit dem Mauerfall vor 30 Jahren gemessen wurde. Der Glücksabstand zwischen West- und Ostdeutschland verringerte sich weiter auf aktuell 0,17 Punkte. An der Spitze des regionalen „Glücksrankings“ steht unangefochten Schleswig-Holstein, das Schlusslicht bildet erneut Brandenburg.“

Die gute alte Gretel von der Post hat nachgefragt und für mich überraschende Antworten bekommen. Diese verspießten, AFD wählenden, drängenden, besorgten Deutschen sind zufrieden wie nie. Ihr Arschgeigen! Zeigt das doch einfach mal. https://www.dpdhl.com/de/presse/specials/gluecksatlas.html

Ey, Alter!

Am gleichen Tag, an dem diese Studie erschienen ist, hat es ein Treffen zur Wasserstoff-Strategie Deutschlands gegeben und es wurde der Ausbau der Ladestationen für E-Mobilität verkündet und bis 2030 sollen 7 bis 10 Millionen E-Fahrzeuge die alten Kisten mit Puff, Puff ablösen. 3 Milliarden fließen. Zusätzlich. Nächstes Jahr fliegt unsere Ölheizung endlich raus. 40 % Förderung. Voll die Spendierhosen. Okidoki. Derweil haben wir heute die Umstellung unseres Hauses auf LED-Beleuchtung abgeschlossen.

Auf DLF habe ich gehört, dass 11.000 (!) Wissenschaftler mahnen. Wegen des Klimawandels. Es müsse schneller gehen. Derweil sendet mir mein hoch zufriedener deutscher Nachbar WhatsApp-Videos von dubiosen Kanälen, dass es den Klimawandel nicht gibt. Ey, Alter.

Leben läuft auf vielen Ebenen. Hierhin, dorthin. Du hast eine Zeit auf diesem Planeten und glaubst an dieses und jenes und bist überzeugt und die Realität ist die vom Leoparden gejagte Gazelle.

So ist goes sometimes. Sagt meine Allerallerliebste, die so schön verrückt und lebendig und besonders und aufregend überraschend ist. Nur so nebenbei: Ich liebe sie sehr.

Zurück zum Tag: In der Agentur habe ich auf dem Weg zu einem Konzept, das wir Ende November präsentieren, den Schlüssel gefunden. Manchmal sitzt du wie bekloppt vor deinem Rechner und schaust auf die Pixel und denkst und neigst zur Panik und weißt nicht, wo du es hernehmen sollst und dann irgendwann, als hätte ein Hirnhelfer den Knoten mit einem Krummsäbel zerteilt, weißt du es und kannst dem Faden folgen und die Ideen fassen und ordnen und in schöne Worte fassen und Bilder finden und. Hach. Habt ihr eine Vorstellung, welche Qualen Kreative auf dem Weg durchlaufen?

Und am Ende sieht alles so einfach und klar aus. Und sie fragen, weshalb das so viel kostet. Manchmal wäre ich lieber einen Tag im Wald und würde Holz machen. Und dann wieder nicht. Dieses Gefühl, wenn du es hast, wenn es anfängt zu tanzen und du wie in einem Hologramm alles ordnen kannst, ist Sex.

Liebe Menschen, Mitbürger*innen in Deutschland lasst uns für die Post weiter am Glück arbeiten und bewahren, was wir haben. Lasst uns einfach nur bewahren. Love you:)

Und dann noch:

Mit Interstellar 227 im doublespace

Entrückt.

Aus der Welt in die Welt. Wo sind wir? Wo leben wir? Wozu das alles?

Köln am Wochenende, an einem Freitag. Die Premiere von Interstellar 227 in der Alten Feuerwache. Wir haben uns ein Hotelzimmer in Deutz genommen, sind ein kurzes Stück U-Bahn ohne Ticket gefahren und den Rest gelaufen. Labor Ebertplatz lag auf dem Weg, dort haben wir Judith getroffen, die gerade mit einer Ausstellungseröffnung beschäftigt war. Bilder aus geschreddertem Geld. Ein Mandala aus den Resten des Glaubens an Materialität. Der Übergang vom Glauben aus Papier ins existentielle Moment der Sinnlichkeit.

Wir hatten wenig Zeit, das Weltall wartete auf uns. Auf Facebook hatte ich über einen Kulturservice Karten gewonnen. Das Leben ist irreal.

Barbara Schachtner. Dorrit Bauerecker.

Wir hatten Supernova der beiden im Theater der Keller gesehen und auch vorher schon eine Performance/ ein Konzert/ ein Theaterstück im Rhenania im nächtlichen Schatten der Kranhäuser.

Doublespace. Doppelraum. Zwei Seiten einer Medaille. Das Hier und Jetzt. Der Space, der Raum, das Unerwartete, die Zukunft, das, woran wir noch nicht glauben. Können. Wollen. Verhext unsere Ahnungslosigkeit aus Unwissenheit.

Die beiden beherrschen ihre Metiers. Dorrit virtuos die Tasten von Akkordeon, Flügel, Mini-Piano. Barbara ihre Stimme und alles, was Körper klingen lässt.

Ich wusste nicht, was auf uns zukommen würde. Ich bin ein musikalisch Unbedarfter, der nur auf das hören kann, was geschieht. Das ist bei Interstellar 227 eine Menge.

Viele waren an dieser Produktion, die wie ein Stern vom Himmel gefallen ist, beteiligt. Norbert van Ackeren hat das Bühnenbild geschaffen. Den Raum, die Konvention, das Vereinbarte gesprengt. Mit Aufwand, wie wir beim gemeinsamen Abbau des Bühnenbildes am späten Samstagabend erfahren konnten.

Ein Karreé, ein Viereck, ein Geviert. Herabgefallen aus dem Universum, bestückt mit Aliens einer fremdem und doch bekannten Klangwelt. Grün, Stiefel mit Plateau-Sohlen, gehüllt in transparente Kunststoffstreifen. Wesen nicht von dieser Welt und doch.

Der Lauf eines extraterrestrischen Abends. Klänge, von Sensoren ausgelöst. Sensoren in Barbaras Handschuh. Die Interpretationen von Kompositionen für diese Aufführung geschaffen.

„INTERSTELLAR 2 2 7 hat mit den Komponisten Christina C. Messner und Roman Pfeifer zwei Verbündete für die Mission gefunden. Musik und Text weiterer Schöpfer*innen fließen in diese elektrisierende Performance aus Musik, Choreographie und Licht mit ein.“

Wir Erdlinge sitzen als Unwissende um das Karreé herum und sehen und staunen. Musik, Klänge, neue Dimensionen, das Bewegen in Richtung Mars. Das Alte trifft das Neue, das Bestehende das Zukünftige. Neue Musik, über Grenzen gehen, Grenzen ausloten, Genre vermischen. Ist das eine Oper, wenn die Musikerinnen spielen? Ist das szenisch musikalisches Theater? Ist das ein inszeniertes Konzert? Oder eine musikalische Performance?

Interstellar 227 ist so mutig, neu, konsequent, leidenschaftlich, anders. Ich saß dort mit offenem Mund und wusste nicht, wie mir geschieht. Supernova war noch eher Klang und Spiel, doublespace waghalsige neue Musik. Wechselten die Szenen, kamen die beiden mir vor wie Sniper, die ihre Instrumente aus dem Regal holen, um zu tun, was getan werden muss. Der Musik Bahn brechen.

Da hilft es, im Kostüm von Aliens zu agieren, weil man dann eh fremd ist und der Himmel keine Grenze. Das Gewohnte, die hässliche Konvention sprengen und doch das schöne Alte in Form des Liedes einbinden. Es sind gefühlvolle Wesen, diese Aliens, die uns haben teilhaben lassen. Brücken bauen, Seelen streicheln, Gehör fordern.

Ich war irgendwo draußen im Space unterwegs mit diesen Aliens. Und ich habe mich wohl gefühlt, aufgehoben, an die Hand genommen. Ein sehr fürsorglicher Umgang mit dem Neuen, verantwortungsvoll, schön.

Und gewaltig. Ein starker Eindruck, Impetus. Gravierend, relevant. Nichts, was einfach so vorübergeht.

Sie haben eine weitere Stufe erklommen, Komponisten*innen als Begleiter auf ihrer Sternenreise gewonnen. Und sicherlich zahlreiche Fans. Alle Plätze waren besetzt, der Applaus war lang. Es muss ein gutes Gefühl sein, in seinem Leben etwas so Besonderes auf die Beine gestellt und auf die Bühne gebracht zu haben.

doublespace gab es zunächst nur an zwei Abenden. Anfang nächsten Jahres wird es einen Termin in Bonn geben. Und dann hoffentlich noch mehr. Denn es braucht Menschen, die den Raum sprengen und ihn gleich einfach mal um einen zweiten erweitern. Ich liebe es, Menschen zu sehen und zu erleben, die den Blick nach vorne richten. Die Weg bahnen und bereiten für Neues, die Türen öffnen im Hören und Denken.

Interstellar 227 doublespace ist wertvoll. Atemberaubend sinnstiftend. Ich wünsche euch, den Abend einmal zu erleben.

Im Sommer 1990 war ich auf dem Weg nach Köln ins Theater. Die Vorstellung fiel aus und ich lief planlos durch die Innenstadt. Dom, Fußgängerzone. Da entstand am Abend Zuhause der Text: Das Spiel, die Realität, die Wirklichkeit und das Leben.

Ein ähnliches Gefühl hatte ich an diesem Wochenende. Das meinte ich zu Beginn des Beitrags mit dem Wort entrückt. Als ich Samstagnacht wieder aufs Land kam, war ich ziemlich geschafft. Zu viele Eindrücke. Das Hotel, Deutz, das Labor, die Feuerwache, Interstellar. Am nächsten Tag Flohmarkt an der Pferderennbahn, der erste Besuch in Max WG, die Sperren des Köln-Marathon umfahren, ein Spaziergang am Rhein, Essen im Offenbach, das Abbauen des Bühnenbildes.

Wo steht man im Leben? Was macht das Leben mit einem? Was macht man mit dem Leben? Es vorbeiziehen lassen oder formen? Ich möchte es so intensiv spüren wie am Wochenende. Ich möchte das Neue und das Alte sehen, möchte die Dinge verknüpfen und das Denken fliegen lassen. Alles miteinander verbinden. Das erzeugt Sinn. Ich mag es, wenn die Dinge aufgehen und Sinn ergeben. Wie auch immer.

P.S. Ich konnte es nicht lassen, jede Menge Fotos in guter Auflösung einzubinden. Sorry für die Ladezeiten. Aber ich möchte den Abend und das Wochenende fein dokumentieren.

Infos zum Projekt:

INTERSTELLAR 2 2 7
Barbara Schachtner: Stimme, Gesang, Sensoren, Performance
Dorrit Bauerecker: Klavier, Akkordeon, Toypiano, Sensoren, Performance

TEAM

INTERSTELLAR 2 2 7: Künstlerische Leitung / Ausführende
Monika M. Kozaczka: Produktionsleitung
Wolfram Lakaszus: Technischer Leiter / Entwicklung des Sensorsystems
Norbert van Ackeren: Szenographie
Sabine Seume: Dramaturgie / Choreographie
Sophia Spies: Kostüm
J.Garavaglia / C.Robles: Programmierung und Klangeffekte
Chikashi Miyama: C# Programmierung

Christina von Richthofen: Öffentlichkeitsarbeit
Anke von Heyl: Social Media-Beratung

AUFTRAGSKOMPOSITIONEN: Christina C. Messner, Roman Pfeifer

#doublespace wird gefördert von NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Kunststiftung NRW, Kultursekretariat Wuppertal, Kulturamt der Stadt Köln, Künstler-Union-Köln (KUK) mit freundlicher Unterstützung von ON Neue Musik Köln, Priesterseminar Köln, Alte Feuerwache Köln

Die wunderbare Gemeinsamkeit von Colleen Sakurai, Shoichi Sakurai, Helga Mols, David Grasekamp

4 by 4.

4 Künstler*innen, vier Werke, vier Räume. Im Kulturhaus Zanders in Bergisch Gladbach. Die vorletzte Ausstellung, bevor das ehrwürdige Gebäude den Familienbesitz verlässt und anderweitig genutzt wird.

Colleen Sakurai, Shoichi Sakurai, Helga Mols, David Grasekamp.

Gestern Abend war die Eröffnung der Ausstellung. Bis hinten voll das Kulturhaus Zanders. Habe ich schon einmal eine so gut besuchte Vernissage erlebt?

Raum 012, Erkerraum – im Erker Shoichi Sakurais Werk Pieces United

Im Erker hängt eine Metallkonstruktion, ein ehemaliger Flaschentrockner, der nun Garnspindeln aufnimmt. Garn in Blau, Weiß, Rot. Hier laufen die Fäden zusammen, hier trifft sich das Spinnennetz der Welt, hier ist das Zentrum der Gemeinsamkeit. Alles ist verbunden, vernetzt, in Kontakt.

Die Fäden laufen zu dem überwiegend blauen Flickenteppich am Boden. Blaue Baumwollflächen handvernäht, mit Mustern versehen, angeordnet. Alte Stoffe, historisch, aus Japan hierher verbracht. Eine Collage aus Stoffen, eine Geschichte aus der Geschichte. Es geht um Verbundenheit, den Kern dieser Ausstellung.

Nicht die Einzelne, der Einzelne zählt, es ist das Zusammenwirken, die Interaktion des Positiven, das soziale Moment des Seins.

Wie wollen wir leben? Wie wollen Künstler*innen arbeiten? Wie viel Trennung des Ichs möchten wir zulassen?

Am Boden liegen die Geschichten vieler Einzelner. Von arbeitenden Menschen aus Japan. Die haben sich die Knie durchgescheuert, die Ellenbogen und haben Flicken draufgesetzt und ihr Wirken und Arbeiten erhalten, konserviert und Shoichi hat uns diese Geschichten mitgebracht. Ich für mich sehe in meiner naiv entfernten Sicht auf Japan kleine Höfe, Reisfelder, eine Werkstatt.

Die Fäden laufen zart. Nebeneinander. Sie gehen in die Stoffe und ihre Flächen, die Shoichi liebevoll vernäht hat.

Er kniet auf seinem Werk, erläutert die Details, erzählt von den Stoffen.

In dieser Ausstellung wird viel erzählt. Es sind die Geschichten der vier Künstler*innen, die sich auf ein waghalsiges Projekt eingelassen haben. Erst stand der Termin, dann musste gearbeitet werden. Jeder Raum hat ein Signatur-Werk, ein Anker-Werk, ein Thema, auf das die drei anderen reagieren mussten. David gab ein Werk auf seiner Ausstellung DIS-POSITIONEN an gleicher Stelle vor zwei Jahren vor. Colleen, Helga und Shoichi antworteten.

In Helgas Raum musste ich lächeln. Sie ließ ihre Strange Loops wirken. Lächeln musste ich wegen Davids Arbeit. Wir würde er, der so nah dran ist, reagieren?

Wie kann man eine vorgegebene Arbeit aufnehmen, bearbeiten, als Inspirationsquelle nehmen, wenn man so dicht am Werk der Partnerin dran ist? Das gilt natürlich auch für Colleen und Shoichi.

Das ist das, was die Stärke dieser Ausstellung ausmacht. Sie erzählt von Verbundenheit. Von zarten Banden, von Liebe, Freundschaft und Respekt.

Da sind vier erwachsene Künstler*innen, die in ihrem eigenen Werk einen Weg gegangen sind. Die nicht am Anfang stehen. Das Werk ist da, die Handschrift geformt, das Sujet gewählt, der Stil geprägt.

Man muss über seinen eigenen Schatten springen, sich einlassen.

Das haben die Vier getan. Jeder Raum ist voller Kraft und Spannung aus der Diskussion der Werke untereinander heraus.

Colleens Ravens‘ Flight.

Tief Rabenschwarz. 3D. Wellpappe. Feinfühlig lebendig dynamisch. Ja, was an der Wand hängt, fliegt. Der Rabe fliegt. Und vor ihm kniet in Ergebenheit Shoichis fein gebogener Flügel. Eine Blechtür mit Griffen. Zwei Raben miteinander verbunden, was eben auch durchaus ein romantisches Moment der Ausstellung ist. Muss man als Paar hinbekommen, sich so zu spiegeln. Mit der Sprache der Kunst. Liebeserklärungen, Respektbekundungen, die den 4ren wunderbar gelungen sind.

Auch im nicht angekündigten fünften Raum, der erzählt, dass das Prinzip der Ausstellung schon lange gelebt wird und einfach wunderbar funktioniert.

Ich war und bin begeistert. Den Optimismus der zentralen Aussage habe ich gerne mitgenommen. Als wir zum Auto gingen, sah ich dann das Hochhaus, das auf das Kulturhaus Zanders blickt und mir war, als würden Fäden auf mich zukommen. Verbundenheit über alle Grenzen menschlichen Getrenntseins hinweg.

Unbedingt ansehen, Zeit mitbringen und in die Welt der 4 eintauchen. Die Verbindungen suchen, sich die Geschichten erzählen lassen, mit jedem einzelnen Werk Spaß haben. Das alles ist großes Kino.

Finissage ist am 10. November – bis dahin gibt es ein spannendes Rahmenprogramm und viel Gelegenheit, die Künsteler*innen vor Ort zu treffen. Fakten & Infos zur Ausstellung hier!

„Jetzt kommt die Oma aus dem Altenheim“

Manchmal macht dich dein Leben so klein mit Hut. Comming back. Samstagmittag wieder auf die Autobahn in Richtung alte Heimat. Eine der alten Heimaten, die wohl die wichtigste der alten Heimaten ist. Eifel. Kaisersesch. 1974 im Alter von neun Jahren hingezogen in ein Haus in der Gartenstraße. Später in Cochem an der Mosel zur Schule gegangen. Jeden Morgen runter aus der Eifel an die Mosel und dann den Burgberg rauf in die Schule. Mittags mit Speed zum Bus. Durch Touristenmassen drängeln. Bei Schnee in der Eifel: frei. Bei Hochwasser an der Mosel: frei.

Ich war Turner, spielte Trompete in der Blaskapelle meines Dorfes, die heute Stadt ist. Mein Vater war durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt, meine Mutter routete ihre drei Jungs durch das Leben. Manches lief schief, es gab Unfälle, manchmal war kein Geld da, aber wir waren eine Familie und meine Mutter immer gut gekleidet und eine Frau, die ihren Weg ging.

Sie hat ein Haus umgebaut, stand mit uns in der Metro bei den Bohrmaschinen, hatte zwei Turngruppen, gab als Floristin Blumensteckkurse und verkaufte für die Hamburg Mannheimer in der Eifel Versicherungen. Irgendwann so erfolgreich, dass sie ständig belohnt wurde. Reisen, Goldbarren, Silberbarren. Frau Schönlau war immer eine Kämpferin, eine Schönheit, eine Macherin und Institution.

In meiner Kindheit war ich oft mit ihr im Wald unterwegs und wir haben Dinge gesammelt für ihre Blumensteckkurse. Wir haben über das Leben geredet und über den Horizont unserer kleinen Welt hinausgesehen. Als ich später am Theater war, als Hospitant in Aachen, später im Osten, dann in Heidelberg und Mannheim, waren meine Eltern bei jeder Premiere. Sie haben mich gehen und fliegen lassen.

Ich war weg. Weit weg und weiter.

2012 ist mein Vater gestorben, 2018 ist meine Mutter an Leukämie erkrankt. Fast wäre sie gestorben. Ist sie nicht. Nun lebt sie in Cochem in einem „Altenheim“, wie sie sagt. War ein langer Weg dorthin. Mein Bruder ist vor Ort, kümmert sich. Seit Dezember reagieren wir auf alle Entwicklungen, sprechen uns ab, meine Liebste und ich fahren in die Eifel und helfen, wo wir können. Dier erste Zeit habe ich jeden Tag eine Stunde mit meiner Mutter telefoniert, jetzt hört sie nicht mehr. Die Medikamente, die Psyche. „Wenn man nicht hört, ist man sehr einsam.“

Ich kehre zurück in die Eifel. Die letzten Monate waren intensiv und bei aller Herausforderung schön. Familie. Heimat. Meinen Bruder treffen, der vor zwei Wochen geheiratet hat. Seine Frau Schönlau. Die beiden sind herzzerreißend. Junggesellen*innenabschied, Hochzeit in der Eifel. Bis früh in den Morgen. Menschen aus meiner Vergangenheit treffen. Bist du es? Ja. Ich bin es. Wo warst du? Weg. Ich war weg. Weit weg.

Jetzt bin ich zurückgekehrt. Mental.

Heute waren wir mit meiner Mutter in Bad Bertrich. Ein Kurort unweit der Mosel. Ein sehr besonderer Ort. Am Tag, bevor mein Vater starb, war meine Mutter mit ihm dort. Sie saßen in dem Cafe, in dem wir heute waren, und mein Vater aß Lachs mit Reibekuchen. „An dem Tisch dort.“ Sie hatten sich Zeit genommen, einen Nachmittag bis in den frühen Abend in dem Cafe verbracht. Viele Jahre zuvor, als meine Eltern noch in Westfalen, im Lipperland lebten, waren sie nach Bad Bertrich und an die Mosel gekommen. Und mein Vater hatte gesagt: „Hier möchte ich alt werden.“

Wenn Eltern alt werden oder sogar sterben, bekommen mehr Dinge eine Bedeutung. Es macht einen dünnhäutig bis demütig.

Wir haben sie in ihrem Zimmer abgeholt. Sehr schön mit großer Terrasse und Blick auf die Reichsburg Cochem. Ich könnte heulen wegen all dieser Kreise, die sich schließen. Dieses Schicksalhafte ist größer. Als wir kamen, trafen wir sie im Speisesaal. Es gab Rinderbraten mit Rosenkohl und einem sehr leckeren Eis zum Dessert. Der Koch, ein Freund meines Bruders, der zu dessen Hochzeit das Buffet geliefert hat, bringt jedem Einzelnen das Essen. Alles ist liebevoll und schön. Voller Respekt. Als ich meine Mutter am Abend der Hochzeit meines Bruders spät brachte, öffnete eine Schwester und empfing meine Mutter mit einem Lächeln und „Schön, dass Sie da sind. Wie war die Hochzeit?“. Das hat mir gefallen.

Als wir in den Speisesaal kamen, saß sie neben Luzie. Luzie gehörte zu einer ihrer beiden Turngruppen. Hausfrauen-Turnen am Mittwochabend. Luzie hatte zu meiner ersten Lesung in Aachen kommen wollen, ihr Mann hatte das nicht gewollt. Sie begrüßte mich mit einem freudigen Blick und erzählte, wie ihr meine Mutter im Blumensteckkurs die drei Blumen, die sie arrangieren sollte, wieder aus der Vase gezogen hatte. Sie umarmte mich.

Mama, was machen wir heute? Möchtest du nach Bad Bertrich? Ja, sie wollte. Wir verließen ihr Zimmer. Sie lächelte und sagte: „Jetzt kommt die Oma aus dem Altenheim“.

Sie war immer eine moderne, selbstbewusste, eigenständige Frau. Jetzt ist sie sehr müde, schläft viel, hört wenig und lebt in einem „Altenheim“. Es ist schwer für sie. Es ist schwer für uns. Es ist schwer, am Ende des Tages zu gehen. Vieles verliert an Bedeutung, wenn man seine Mama so sieht. Meine Kinder gehen gerade in die Welt. Max ist eben quasi ausgezogen. Nach Köln in eine WG. Er studiert jetzt und lebt dort. Pella ist in Australien. Die Welt ist weit, das Leben intensiv.

Bleibt das Schönste, dass alles von Liebe getragen ist. Familie ist Heimat, ist Köln, Australien, Cochem, die Eifel. Und sie ist hier auf dem Land im Oberbergischen in diesem kleinen 30-Seelen-Dorf Mühlhausen.

P.S. – die Burg Eltz kenne ich gut – die Klassenfahrten meiner Kindheit.