Freitagabend. Eine unruhige Woche liegt hinter mir. Vor mir liegt ein Wochenende. Nicht ruhig, da Ela und ich Brennholz sägen müssen und unsere Kinder zu Partys bringen und von Partys abholen müssen. Halloween, Geburtstage. Bei uns auf dem Land sind das lange Strecken. Also viel im Auto sitzen. O.K. Aber erst einmal mit Ela und Freunden in die Philharmonie nach Köln fahren. Ela hat angekündigt, dass sie sich schick machen wird. Ein großer Abend, teure Karten. Ich wähle einen leichten Anzug, der Abend ist für Ende Oktober lau. Keine Krawatte – ich habe keine.
Hélène Grimauds Klavierkonzert ist ausverkauft. Fast 2.000 Menschen in Kleidern und Anzügen sind im Raum. Auf der Bühne ein einzelner Flügel. Wir werden Hélène Grimaud von hinten sehen. Auch gut. Lenkt uns ihr Gesicht nicht ab. Konzentration auf das Wesentliche. Sie kommt auf die Bühne, resolut. Verbeugt sich, setzt sich, spielt. Zunächst Mozart. Mir fällt es schwer, aus der Woche heraus in die Musik zu finden. Die beiden Stücke bis zur Pause huschen an mir vorbei. Vor allem Mozart. Klar, eine Schande. Aber was tun? Wenn die Seele nicht will. Alban Bergs Sonate für Klavier op. 1 rüttelt mich wach, lässt mich in ihrer Atonalität aber hilflos zurück. Kein Zugang, das quietscht. Kategorie: interessant. Bin ein Banause.
Pause. Ich kaufe ein Programm, um reinzufinden. Bereite mich auf Liszt vor. Sonate h-Moll S 178 von 1853. Im Programmheft wird ein Kritiker Listzs, Eduard Hanslick aus Wien – ein Zeitgenosse des Komponisten – zitiert. „Die h-Moll-Sonate ist eine Genialitätsdampfmühle, die fast immer leer geht – ein fast unausführbares musikalisches Unwesen. Nie habe ich ein raffinierteres, frecheres Aneinanderfügen der disparaten Elemente erlebt – einen so blutigen Kampf gegen alles, was musikalisch ist.“ Herrje. Was erwartet uns, mich da?
Unausführbar. Wie lange spielt Hélène? Eine halbe Stunde? Ohne Noten. Sie hätte auch keine Zeit gehabt, auf die Noten zu sehen. Teilweise fliegen die Hände durch die Luft wie Kolibri-Flügel. Es ist atemberaubend. Alles ist drin, in dieser Sonate. Aberwitzig. Grimaud, Liszt, berühren mich. Einzelne Töne, gesetzt. Romantische Phasen. Höchstgeschwindigkeit. Ruhe. Ein Ton. Die ganze Bandbreite der Tastatur. Sie lehnt sich nach links, spielt schräge Passagen im tiefen Tonbereich. Die Geschwindigkeit verfliegt, beugt sich. Bäumt sich auf, wird rasend. Hélène Grimaud ist Synästhetikerin. Sie nimmt Töne als Farben wahr. Zusätzlich. Was muss in ihrem Kopf los sein? Farbexplosionen. Graffitis in jeder Zellwand. Umherfliegende Farbbeutel. Sie verausgabt sich. 2.000 Menschen erleben Liszt. Dieser Mann, diese Frau – über die Zeiten verbunden in der Musik. Ich glaube, er wäre glücklich gewesen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen diese Sonate überhaupt spielen können und wie viele Menschen sie so spielen können. Bin komplett raus aus der Woche. Die Sonate schwingt jetzt noch, zweieinhalb Tage später. Musik, Feinfühligkeit, Realität. Genauso wie alles andere. Eine Alternative.
Hélène Grimaud ist 1969 geboren. Sie lebt heute in der Schweiz. Sie spürt eine Seelenverwandtschaft zu Wölfen, weshalb sie im US-Bundesstaat New York eine Wolfszucht betreibt, um Wölfe in ihre natürliche Umgebung zu reintegrieren. Eine beeindruckende Frau. Ela und ich haben sie nun zum zweiten Mal in der Kölner Philharmonie gehört. Vor einigen Jahren hat sie zusammen mit den St. Petersburger Philharmonikern gespielt. 100 Instrumente und ein Flügel. Wir saßen ganz oben und konnten zu Beginn spüren, wie die Klangwelle oben ankam. Nun saß Hélène allein in der Philharmonie und füllte den Raum mit einem Flügel mehr als komplett aus. Unvorstellbar. Wenn ihr könnt, besucht einmal die Philharmonie und ein Konzert von Hélène Grimaud.
Euch einen klangvollen Tag und eine schöne Woche. Morgen bin ich mit Ela geschäftlich in Berlin und werde deshalb voraussichtlich nicht bloggen. Wir haben ein wichtiges Briefing im Rahmen eines spannenden Projektes. Mittwochmorgen dann das nächste Briefing hier vor Ort. Ich hoffe, ich komme trotzdem zum Bloggen. Hier hat der heiße Herbst Einzug gehalten. Viel Arbeit. Bis zum nächsten Blogbeitrag habt ihr ja Elaine und Hélène. Ciao.
P.S. Hier ein schönes Hélène Grimaud Video. Sie spielt Bach, nicht Liszt. Seht und hört selbst. Farben?






