Vernazza wird evakuiert!

Es geht also nicht anders, es ist zu viel Schlamm im Ort, die Schäden sind zu groß und am Wochenende werden neue schwere Regenfälle erwartet. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser. Die Bevölkerung muss gehen, nur das Militär bleibt. Diese Infos habe ich von einer amerikanischen Facebook- und Internetseite. Rick Steves, amerikanischer Reisejournalist, ist großer Vernazza-Fan. Er hat Freunde vor Ort und setzt sich für die Stadt ein. Rick Steves auf Facebook, seine Internetseite.

Das freut mich sehr, weil Vernazza nun dringend Hilfe braucht. Momentan weiß niemand, was wird. Es liegen 35.000 Kubikmeter Schlamm und Steine in der Hauptstraße und in den Erdgeschossen der angrenzenden Häuser. Ein großes Problem ist das Nadelöhr nach unten zum Meer hin. Kurz bevor man zu Giannis Restaurant kommt, vor dem Platz am Hafen, ist die Gasse sehr schmal. Da können keine schweren Bulldozer fahren, sondern nur kleines Räumgerät. Also wird es dauern, bis der ganze Schlamassel aufgeräumt ist. Zudem sollen einige Häuser beschädigt sein. Von der Feuchtigkeit, die jetzt überall in den Mauern steckt ganz zu schweigen.

Noch habe ich keine Spendenadresse gefunden. Auf der Facebook-Seite der Cinqueterre ist das Spendenkonto des italienischen Roten Kreuzes angegeben. Das ist aber ein allgemeines Spendenkonto. Rick Steves überlegt da wohl gerade, etwas einzurichten und wird dann auf seiner Seite berichten.

Möchtet ihr mir einen Gefallen tun? Denkt an Vernazza, betet für die Menschen in der Region. Möge alles ein gutes Ende nehmen und mögen Monterosso und Vernazza wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen. Die Cinqueterre sind zu schön, um sie zu verlieren. Sie gehören zum Weltkulturerbe und das kommt nicht von ungefähr. Vielleicht reist ihr einmal hin. Das ist der beste Weg der Unterstützung des Wiederaufbaus.

Links, Fotos, Videos zur Katastrophe hier im fiftyfiftyblog.

Umfassende Infos liefert der Cinqueterre-Blog.

Ja, Papa Papandreou

Gestern war Feiertag, dennoch habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Geschrieben. Und mir ein wenig mehr Zeit als üblich für Blog, Tumblr und Twitter genommen. Das nennt man wohl einen Easy-Going-Arbeitstag. Am Abend bin ich dann kurz auf Spiegel Online, um die Lage zu checken. Ich traute meinen Augen nicht. Papandreou will Volksentscheid! Ich dachte: No! Jetzt geht der ganze Zirkus wieder von vorne los. Volksentscheid im Januar. Eiertanz über Monate. Bitte nicht!

Doch dann dachte ich: Ganz schön pfiffig, der Papa Papandreou, der Landesvater der Griechen, der Zeus, der mit den Füßen im Hades steht, der den Kampf gegen die Titanen führt. Pergamon. Richtig, ne, da war doch was? Die Wiege der Demokratie. Das Land der Philosophen. Die großen Diskurse und Diskussionsrunden der antiken Antike, des Prototyps der Antike, des Originals. Rom war schon Retro. Europa aufgewärmt. Amerika verblasst.

Was macht er? Nun, er sorgt dafür, dass die Griechen über das Schicksal Griechenlands entscheiden. Dass aus einem Finanzdebakel mit technisch geprägten Finanzgesprächen auf Europa- und Weltebene wieder ein Politikgespräch wird. Griechenland steht mit dem Rücken an der Wand. Die Menschen spüren das, gehen teilweise auf die Straße. Die Krise ist natürlich ein gefundenes Fressen für die Opposition. Ich stelle mir vor, was sich Frau Merkel hier in Deutschland anhören könnte, würden Bezüge gekürzt, Steuern drastisch erhöht, Wachstum wegbrechen, Investoren ausbleiben, Schulden einen Multiplikator per Zinsschraube erhalten. Das wäre nicht lustig. Für niemanden.

Und so scheint es, dass dieser Volksentscheid eine Zerreißprobe wird. Der Dax ist mal wieder abgeschmiert, den Profibankern wird es zu heiß. In deren Haut möchte ich auch nicht stecken. Rauf, runter, runter, rauf. Ich hoffe, die treiben Sport und essen gesund, sonst gibt es irgendwann die Finanzkrisen-Invaliden. Veteranen des tobenden Finanzkrieges, in dem sich die Völker Europas gegenüber stehen. In Form von Bankern und Investoren in der ersten Reihe. Das ist battlefield mit Staatsanleihen. Da gibt es Hebel statt der dicken Berta.

Die Griechinnen und Griechen dürfen also abstimmen. Dürfen über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sehr mutig. Sagen sie nein, wird es trotzdem weitergehen. Natürlich ganz anders. Dann jedoch wird Europa über Nacht ein anderes sein. Dann wird sich gezeigt haben, was fehlt. Dann wird man sich Gedanken machen müssen, woran die europäische Idee krankt. Solidarität. Denn: Griechenland hat nie in den Euroraum gepasst. Es hat nie die wirtschaftliche Stärke gehabt, um mit den großen Volkswirtschaften mithalten zu können. Deutschland, Frankreich, Italien – das sind voll industrialisierte Staaten irgendwo an der Spitze der Weltökonomie mit enormen Einnahmen. Die stehen für den Wert des Euros, den hohen Preis. Für die Griechinnen und Griechen ist der teure Euro eine Fessel, ein Knebel, ein Hindernis. Es funktioniert nicht, wenn es keine Solidarität gibt. Es reicht nicht zu sagen: Ihr macht alles falsch. Wer A sagt, muss B sagen. Wer Europa will, muss Europa leben. Wer Griechenland in den Euroraum holt, muss Griechenland unter die Arme greifen. Nicht erst dann, wenn das Kind in der Mitte des großen Flusses abtreibt.

Nun kommt also das Referendum, vor dem die Welt zittert. „Ein Geniestreich“, wie Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung auf Spiegel Online meint. Griechenland ist zurück auf der politischen Bühne, hat das Schicksal in die eigene Hand und Verantwortung genommen und sich damit ein wenig von den Demütigungen der letzten Monate erholt. Wir wissen aus der eigenen Vergangenheit was mit gedemütigten Völkern geschieht. Deutschland nach dem ersten Weltkrieg. Kein Atmen mehr, keine Selbstbestimmung, kein Selbstwertgefühl. Das treibt unheilsame Kräfte an die Oberfläche.

Denn, wie fühlt es sich heute an, Griechenland zu sein? Kein schönes Gefühl, wenn alle mit dem Finger auf einen zeigen und Worte wie „Betrüger“ und „Steuerhinterzieher“ fallen. Wenn man mit dem Rücken an der Wand steht und herumgeschubst wird. Im Januar werden wir definitiv deutlich mehr Klarheit haben. Ein Volk wird sich entschieden haben. Nicht die Finanzmärkte entscheiden. Diesen Prozess nennt man Demokratie. In diesem Fall ein Drahtseilakt, Hochseilakt, bei dem alle zuschauen und Angst vor der Panik in der Menge haben. Wir werden sehen.

Schwimmen mit dem Enkel des Monsieur Hulot

Ich gebe ihm einmal den Namen Bruno. En francais c’est: Brünoo. Der Enkel des Jaques Tati, des Monsieur Hulot, der sich 1953 filmisch in den Ferien tummelte. Ich bin ihm begegnet. Nicht Jaques, nein, bewahre, Bruno. In den Ferien, wie hätte es anders sein können. Das Leben verläuft in Parallelen, um zu sagen „Seht her, ich bin wunderbar und voller fantastischer Zufälle.“

Es hat mich, der Ferien und der Kinder wegen, die bewegt werden wollten, in dieses öffentliche Hallenbad getrieben. In dieses Aquarium voller badebeanzugter Menschen mit ihren so unterschiedlichen Körpern und Stilen.

Erinnerung, Traum, Wirklichkeit, Schrei. Im Hintergrund donnert Musik. Der dicke Bademeister hat das Gemeindekonzept zur Steigerung der Besuchszahlen mit fetten Bassboxen umgesetzt. Rihanna knallt durch die Becken. Die Kleinsten müssen aufpassen, vom Beat der Boxen nicht vom 3-Meter-Brett gefegt zu werden.

Ich versuche, mich hineinzubegeben in diese Welt der Freude. Lasse meine ungelenken Knie grooven, so wie alles es machen. Stelle mich mit den Kindern in die lange Reihe der Wartenden, die alle rutschen wollen. Mit einem dicken Gummireifen unter dem Arm die enge Wendeltreppe hoch. Bumm, bumm. Vor mir ein junger Mann. Unheimlich dick. Mit Boardshorts und darunter befindlicher Unterhose. Feinripp. In Augenhöhe das tiefe Tal zwischen den Arschbacken, die Ritze. So eng die Wendeltreppe, wohin blicken. Weil alle nass sind, tropft es. Von oben. Das Wasser die Körper herab zu den Füßen und von dort im Takt tropf, tropf über die Zehen auf die Stufen und von dort herab auf meinen Kopf, meinen Körper. Ich versuche nicht an den Weg zu denken, den das Wasser gegangen ist. Ritze.

Einmal. Der Kinder wegen. Dann ist gut. Dann gehe ich duschen. Abseifen. Desinfizieren. Die Kids sagen: Rückwärts! Ich habe nichts zu verlieren, denke ich fälschlicherweise und mache mich zum Papadeppen. Rückwärts die Rutsche runter! 40 Meter durch die Dunkelheit schlage ich atemlos unten im Auffangbecken ein. Adrenalin. Vollidiot, was denkst du dir? Überlebt, das ist die Hauptsache.

Die Musik wummert die Charts runter. Da muss noch jemand schnell die Welt retten und vorher seine Mails checken. Bumm. Ich ziehe mich zurück, so wie man sich inmitten eines Menschentsunamis zurückziehen kann. Ergattere einen Liegestuhl neben den Sprungbrettern. Im Sekundentakt Anlauf, Schrei, Platsch. Raus aus dem Aquarium, Modenschau an mir vorbei. Dicke Bäuche, kurze Beine, lange Arme, dicht behaart, krumm gewachsen. Alle lächeln, mehr oder weniger. Gezwungen und echt.

Ich lese Freiheit von Jonathan Frantzen. Das ist sie also. Die Freiheit. Bumm, bumm. Lese das Buch, sehe die Sprünge, entdecke Bruno. Nein. Der sieht ja aus wie der kleine Tati. Hühnerbrust, lange Spargelbeine, runder Rücken, Kurzhaarfrisur mit abstehenden Ohren und spitzer Nase. Die großen Füße des Bernhardiner Welpen schlappen an mir vorbei. Die Badehose stimmt. Schwarz, knielang. Wo kann man eine solche Hose kaufen? 1953, Bretagne. Es muss ein Erbstück sein. Der Dreier öffnet, the show must go on, die Musik schmeißt die Künstler mit ungeahnter Kraft aus der Höhe herab. Todesmutige Drehungen, die selten die 360 Grad schaffen. 330, 390, 410, 270. Zahlen, die für Schmerzen stehen, ungelenkes Eintauchen, Aufplatschen. Try and error. Wieder hoch. Egal. Ein Indianer kennt nur den weg nach vorne.

Keiner ist dabei so einzigartig wie Bruno. Er zelebriert den Sprung. Frantzen, wer schon ist Frantzen? Was hat der gegen diese Show zu bieten? Bitte. Bruno geht vorne ans Brett. Ich erwarte eine mehrmaliges Anhüpfen und kunstvolles Abfliegen. Mais non. Er schaut, nimmt den Raum auf, sieht in die Ferne. Dreht ab. Wird er gegen die Schlange die Leiter herab steigen? Bruno geht bis ans Ende. Schlappt. Die Bärentatzen am Boden, der krumme Rücken, die durchatmende Hühnerbrust. Don Quichotte de la Mancha kommt mir in den Sinn. Das Springen von 3-Meter-Brettern ist das Anrennen gegen Windmühlen.

Bruno erreicht das Ende des Brettes, dreht sich, beugt sich vor – ganz klar ein Tati – atmet tief und rennt, rennt, rennt und springt und fliegt und rudert und zerschellt in den Tiefen des azurblauen Plastikmeeres im Bumm, bumm des Chlorbeckens. Ein Held. Er paddelt zum Beckenrand, erklimmt die Leiter. Erst sehe ich den durchwirbelten Haarschopf, dann die spitze Nase, die winkenden Ohren, die sich wölbende Brust und ein breites, siegvolles Grinsen. Der Sprung seines Lebens. Zehn mal die innere Zehn für Wagemut, Haltung, Eintauchphase. Elegance. Spratz.

Adieu, Frantzen. Du hast mir an diesem Tag wirklich nichts mehr zu bieten. Wechsle die Fronten und werde zum Kampfrichter im Haifischbecken der Eitelkeiten. Salti, missglückte Schrauben, Freuden- und Schmerzensschreie. Egal. Der Mann vom Einer. Den Anderthalbfachen mit Highspeed in die Waagerechte gesprungen und mit gespreizten Beinen gelandet. Irgendwie zum Schluss ein Rad geschlagen. Hätte ich doch eine Zeitlupe. Wie soll ich da gerecht bewerten? Aua. Kleiner Bauchansatz, Haarverlust, die Eierkneifer-Badehose höher gezogen als nötig. Ästhetisch unannehmbar. Er ist stolz auf sich. Was für ein Sprung. Ich spüre die Schmerzen, er den Erfolg. Klettert wie ein Klippen herunter springender Südamerikaner aus dem Becken und stellt sich wieder an. Gleich hinter die kleinen Mädchen und Jungs, denen die Taschen und Schildchen aus den schief gerutschten Bademoden hängen. Hier ist nix gerade. Alles schief, verbogen, krumm. Bumm, bumm.

Direkt hinter ihm Bruno. Teambuilding. Die Weitspringer. In direkter Reihenfolge. Der waagerechte Anderthalbfache ist einstudiert. Ich glaub es nicht. Der zweite Sprung identisch, der Schmerz hat Methode. Wieder mit gespreizten Beinen eingeschlagen. Bruno wieder nach vorne, nach hinten, vorgebeugt, Anlauf mit Vollgas und Bob Beaman acht Meter Neunzig. Mindestens. Einschlag. Der prügelt Glücksgefühle aus dem Körper in die Blutbahn, anders ist das Lächeln nicht zu erklären.

Drei Stunden. Familientarif. Ich sammle die Kinder ein, beziehungsweise schaue, was von ihnen übriggeblieben ist. Bumm, bumm. Alle unter die Dusche. Bruno. Unfassbar. Selbst das Duschwasser schwingt im Takt. Der dicke Bademeister hat zum Abschied noch einmal an den Reglern gedreht. Da geht was. Hoffentlich baut sich im Becken keine soundgetriebene Monsterwelle auf. Es wäre schade um den kleinen Tati und all die anderen Helden des Alltags. Herabgespült von den Höhen des Triumphbogens. Au revoir. Es wäre wirklich schade.

Vernazza, Monterosso zerstört oder was?

Eine Hiobsbotschaft kam über den Blog. Ein Unwetter über Ligurien hat heftig gewütet. Neun Menschen starben in der Region, die Zerstörung ist groß. Was wo genau los ist, keine Ahnung. Google spuckt kaum Ergebnisse aus. Hier der n-tv Bericht. http://www.n-tv.de/panorama/Gegend-um-Cinque-Terre-zerstoert-article4623376.html Es hat wohl in der Nacht 500 Liter pro Quadratmeter geregnet. Eine unvorstellbare menge. Das ist normalerweise die menge eines ganzen Jahres – in einer Nacht.

Mittlerweile sind einige Videos von Augenzeugen online. Durch Vernazza lief Wasser als reißender Strom. Von den Parkplätzen am Ortseingang wurden Autos wie kleine Holzboote durch den Ort in den Hafen getrieben. Wahnsinn. So viel Wasser. Das ist alles so unvorstellbar. Für mich. vernazza gehört zu den Orten auf der welt, wo ich mich am wohlsten fühle. Vorne an der Hafenmole sitzen und aufs Meer schauen. Unglaublich, was da geschehen ist.

Aufräumarbeiten in Vernazza: http://www.youreporter.it/video_Alluvione_Liguria_Vernazza_2

Das ganze Ausmaß der Katastrophe: http://www.youreporter.it/video_Alluvione_Vernazza_piazza_Marconi_sommersa_dal_fango

Hier Fotos und Videos: http://www.cinqueterre.com/blog/de/alluvione-alle-5-terre-foto-e-video

Der Hafen vor und nach der Katastrophe: http://twitter.com/#!/cinque_terre/status/129660893431734272/photo/1

Ein weiteres, italienisches Video: http://www.ilsecoloxix.it/p/genova/2011/10/28/AOOYB5HB-video_alluvione_immagini.shtml?hl

Die Situation in Levanto: http://video.wetteronline.de/?t=20111026vl&h=500-Liter-Regen-in-Ligurien

P.S. Es gibt nun einen Verein “Zukunft für Vernazza”, der Spenden für den Wiederaufbau sammelt. Ihr könnt auf der Seite einfach auf “Donazione” (spenden) klicken und dann im Formular oben als Land Deutschland auswählen, denn werdet ihr in Deutsch durch den Spendenprozess geführt. Bitte gebt! 2, 3, 4, 5, 100 Euro – egal. Zeigt einfach eure Anteilnahme, auch mit kleinen Beträgen. Würde mich freuen!

Hier der Link zur Spendenseite: http://vernazzafutura.blogspot.com/

In den letzten Jahren haben wir viel Zeit in der Region verbracht und die Cinque Terre und die Menschen dort sind uns wirklich ans Herz gewachsen.

Cinque terre im fiftyfiftyblog:

Prall, sinnlich, verführerisch!

Lampedusa, Levanto, Liebe, Le Havre

Abendspaziergang nach Monterosso

Blick von der Piper Bar auf Lampedusa.

Nicht irgendein Cappuccino!

La Dolce Vita – FINITO!!!

Der nervige Jan Fleischhauer von Spiegel Online

Der Spiegel. Online. Ist und bleibt die beste Online-Informationsquelle Deutschlands. Keine andere Seite ist schneller, umfassender. Besser schon. Nun ist es mein Problem, dass ich an Spiegel Online nicht vorbei komme. Die Seite ist meine Tageszeitung geworden. Und wie das nun so mit Tageszeitungen ist, auf Dauer entwickelt man als abhängiger Leser ein spezielles, diffiziles, ambivalentes Verhältnis zu seiner Tageszeitung.

Schwierig wird es für mich dort, wo der Spiegel versucht, Tendenzen des Linken in die Schranken zu weisen und sich gegen alles Esoterische zu stellen. Da war diese unsägliche Aktion gegen Homöopathie Anfang des Jahres, die der Spiegel quasi unterstützt hat. Ich habe dagegen geschrieben und hatte dann die „Skeptiker-Bewegung“ mit ihren teils im Ausland versteckten Servern und unterdrückten IP-Adressen hier im Blog. Ätzend.

Genauso ätzend ist der Spiegel Online Blogger Jan Fleischhauer. Die FAZ (!!!) hat einen interessanten Artikel zu ihm geschrieben. Der Mann, den sie die rote Ratte nannten. In der letzten Woche hatte er auf Spiegel Online mal wieder gegen die Linke in Deutschland polemisiert. Darauf hat er sich eingeschossen, das ist das Thema seines Lebens. Weil er unter linken Eltern gelitten hat und sich irgendwann in die Arme des Konservativen stürzen und retten konnte.

Er schrieb in seinem Beitrag gegen die Brandbombenleger. Nichts gegen zu sagen. Ich finde Brandanschläge auf Züge auch nicht unbedingt lustig und zweckmäßig. Aber er geht dann weiter und liefert in ein paar Zeilen einen Rundumschlag. Macht sich über die 99 %-Bewegung lustig und schreibt, dass die ja sowieso keine Ahnung haben. Er selbst war als Wirtschaftskorrespondent in New York. Also hat er wohl Ahnung. Irgendeine. Die lässt er aber nicht raushängen, weil es nicht sein Thema ist, die Welt zu retten – das überlässt er den linken Spinnern -, sondern gegen die Linke zu keifen: „Das letzte Mal, dass die Linke in der Lage war, mit den Akteuren auf Augenhöhe zu debattieren, war beim Kampf gegen die Atomkraft; von der Mühe, die sich die Kritiker damals gemacht haben, zehrt die grüne Bewegung noch heute. So gründen die meisten Vorbehalte auf Ressentiment, nicht auf Überlegung. Das macht sie nicht notwendigerweise falsch, aber untauglich für die Arbeit an einer neuen Weltfinanzordnung, wie sie jetzt allenthalben angemahnt wird.“ Lassen wir mal den gestelzten, manierierten Feuilletonstil beiseite.

Mit den Akteuren auf Augenhöhe. Aha. So, so. Die Akteure haben den Durchblick. Die Akteure sind die Intelligenten, die Kritiker sind die Vollpfosten. Deshalb stecken wir ja auch in der Krise nach der Krise, weil die Akteure so wundervoll auf Augenhöhe agieren. Was sehen die eigentlich da oben? Über allem stehend? Würde mich mal interessieren. Scheint tatsächlich so, als hätten sie den totalen Durchblick. Natürlich selbstverständlich ist da niemand, der nur in die eigene Tasche arbeiten will.

Es hat keinen Zweck, sich mit diesem Jan Fleischhauer auseinaderzusetzen. Er arbeitet seine eigene Geschichte, sein Leiden am Linksintellektuellen seiner Familie ab. Polemisiert und gibt sich als der provozierende Dieter Bohlen seiner Zunft, als der polarisierende Roland Koch. Das er dabei ziemlich ekelhaft arrogant rüberkommt, liegt an Sätzen wie diesen: „Immerhin, ein Fortschritt ist von der revolutionären Front zu vermelden: Die Zeichensetzung hat sich stark verbessert. Die Vorreiter des bewaffneten Kampfes standen bekanntlich nicht nur mit dem System, sondern auch mit dessen Rechtschreibung auf Kriegsfuß. Das ist jetzt dank der Prüfprogramme, die jede Textverarbeitung automatisch anbietet, anders.“

Natürlich hat sein Beitrag die Wellen in den Foren auf Spiegel Online hoch schlagen lassen. Viele haben gezetert und gemosert. Die hat er dann gleich im nächsten Beitrag vorgeführt. So ist das, wenn das mächtigste Online-Blatt Deutschlands einem solchen Menschen journalistische Macht an die Hand gibt. Der kann dann wie ein schlechter König mit seinen Untertanen spielen. Eine perfide Vorstellung, die da gezeigt wird. Was zu ihm im Detail zu sagen ist, steht in dem oben verlinkten FAZ Artikel. So, jetzt ist auch gut. Jetzt wird hier Fleischhauer nie mehr erwähnt und ich werde ihn nicht mehr lesen.