Ein Gedicht will nicht geschrieben werden

Manchmal ist es wie verhext. Gestern habe ich von der Ruhe im Kopf berichtet, von der Atemübung (da habe ich vergessen zu erwähnen, dass ein tiefes Atmen schön ist. Bis in die Lungenspitzen den Sauerstoff einatmen. Langsam durch die Nase.). Heute nun geht es um einen Prozess in meinem Kopf, der nicht stattfinden will. Das heißt, er findet statt, liefert mir aber nicht das Ergebnis, das ich mir wünsche. Oder nocht nicht…

Als ich kürzlich in Berlin vor dem Glen Hansard-Konzert mit Ela in der Hotel-Bar saß, Latte Macchiato schlürfte, Gedichte aus neuen Gedichtbänden las und den intensiven Tag verarbeitete, hatte ich drei Gedichtideen. Flashs. Ein Gedicht habe ich geschrieben, das verarbeitet Ela gerade in dem Gedichtband, den sie gestaltet. Für mich. Hach.

Eines ist in Warteposition und erscheint mir nicht so wichtig. Aber eines, das ist mir wichtig, aber das will nicht raus. Es wird „Friedrichstraße entlang“ heißen. Profan. Ja. Das Problem ist, dass ich das Gedicht überfrachte. Deshalb schreibe ich heute diesen Text, weil ich schreibend gut sortieren kann und oft weiterkomme. In Wahrheit ist dieser Blog nämlich eine verordnete Schreibtherapie:) Aber das habt ihr sicherlich längst selbst gemerkt, dass ich hier munter aufarbeite und rauslasse.

In diesem Gedicht laufen einige Stränge zusammen. Es geht aus von einem Besuch im Brecht-Museum vor vielen, vielen Jahren. Der Besuch seines Grabes nebenan. Ein Strang. Zweiter Strang. Heiner Müller, über den habe ich meine Magisterarbeit geschrieben und in dieser unter anderem die Beziehung zu Brecht untersucht. Heiner Müller habe ich 1992 auf der Leipziger Buchmesse gesehen. Ich war, kurz nachdem ich meine Magisterarbeit über ihn geschrieben und diese abgegeben hatte, einen Moment allein mit ihm in einem Raum. Purer Zufall. Müller und Schönlau – wie ein surrealer Traum. Ich wollte ihn ansprechen, dann aber den Augenblick nicht zerstören. Ich hatte auch keine Fragen mehr. Mir sind Emotionen immer wichtiger als Informationen, also habe ich still den Augenblick genossen. Er hat mich irritiert angesehen, hat genickt, ist gegangen. Und 1995 gestorben. Mit dem Untergang der DDR war er das zuvor schon.

Dritter Strang: Beim 31. Berliner Theatertreffen 1994 stand ich in Berlin auf der Bühne. Ich war Regieassistent am Nationaltheater Mannheim und landete durch einen Zufall in der Rolle des „Kolja“ in Wenedikt Jerofejews „Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs“ unter der Regie von Hans-Ulrich Becker auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Ela war bei diesem „Betriebsausflug“ dabei. Wir hatten ein Zimmer in einem teuren Hotel und sahen auf den Bahnhof Friedrichstraße. Ich weiß nicht mehr, welches Hotel das war. Auf jeden Fall sahen wir ein Heiner Müller Stück im Deutschen Theater mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle sowie eine Burgtheater-Inszenierung von George Tabori (Requiem für einen Spion).

Deutsches Theater, Berliner Ensemble, Brecht-Grab und -Museum – alles nicht weit von der Friedrichstraße. Ich bin sie immer wieder gegangen in den letzten 20 Jahren. In beide Richtungen. Jetzt war ich öfter beruflich da, weil wir einen Kunden in einer Seitenstraße der Friedrichstraße betreuen. Als ich nun die drei Gedichtbände im Kultur-Kaufhaus Dussmann in der Friedrichstraße gekauft hatte und in ihnen las, stand das Gedicht vor meinem geistigen Auge. Als ich es dann hier am Schreibtisch schreiben wollte, verschwammen die Zeiten. Lyrik und Drama. Müller und Grünbein. Und ich fand mich selbst nicht mehr darin, obwohl es meine Perspektive, mein Blick ist, den ich als Material habe.

Momentan arbeite ich daran, zu verknappen. Zu kürzen. Schärfer zu formulieren in den Gedichten. Das funktioniert, wenn die Bauteile im Kopf klar sortiert sind. Jetzt stehe ich vor einem riesigen Haufen Steine und weiß nicht, wo anfangen. Mir fehlt der berühmte Faden in der Hand, der zu einem Seil führt, an dem ich mich entlanghangeln kann. Denn das Ganze wird über das faktisch Historische noch komplizierter: Alle oben genannten Männer spielten und spieln in meinem Leben eine Rolle. Sie haben Funktionen. Klingt jetzt hoffentlich nicht zu verrückt, abgedreht.

Genug der Verwirrung. Ich gehe über ins Tagesgeschäft, schalte im Hirn um auf Business-Modus. Schreibe heute einen Text für ein Werbevideo, in dem es um ein konventionelles Produkt geht, in dem nun 20 % der Bestandteile durch Recyclingmaterial ersetzt werden. Eine Weltneuheit in diesem Bereich. Geht doch. Morgen fahre ich dann mit den Fußballjungs nach Norderney, weshalb ich schon wieder im Blog blau mache. Ich weiß, ich weiß. Der Typ ist ja dauernd unterwegs. Nach Norderney ist dann erst einmal Schluss:) Drückt mir die Daumen, dass ich das mit „Friedrichstraße entlang“ noch hinbekomme. So eine lange große Straße im Kopf, das zwickt. Die muss raus.

Westwind so gut wie Südwind

So ein Blog hat echt Vorteile. Für den Blogger. Ich kann nachlesen, was in meinem Leben los war. Tatsächlich ein Tagebuch. Zugegeben, ein öffentliches, weshalb hier nicht alles landet, aber doch eines, das ganz gut mitreist. Als ich die Kinder zum Bus gefahren habe in der morgendlichen Dunkelheit, umwehte mich ein warmer Wind. Keine Jacke notwendig. Eingehüllt in einen kuschlig warmen Wind, getragen von… Goethe, Klopstock, Caspar David. Nun wollen wir mal nicht in die Gefilde der Romantik abgleiten. Die Zeiten sind vorbei. Schade, da hätte ich ganz gut reingepasst. Also dieser Wind umhüllte mich und trug mich fort und erinnerte mich an ein Gefühl, dass ich vor einem Jahr hatte…

Als ich zurückkam und die Spülmaschine ausgeräumt hatte, setzte ich mich zum Meditieren in mein Zimmer. Auf das Kissen vor meinen Buddha. Zündete die Kerzen an, ein Räucherstäbchen. So klassisch, wie es Harald Schmidt und die anderen deutschen Comedians auf die Schippe nehmen würden. Om. Da saß ich also und spürte noch den warmen Wind, der dieses Mal kein Südwind war, aber dennoch so warm und schön. Vor circa einem Jahr schrieb ich dazu zwei Beiträge. Einen Text und ein Gedicht: Schrei es in den Wind! und Er, Südwind.

Kaum hatte ich gesessen, stellte sich ein sehr angenehmes Gefühl ein. Ela hat mir aus Ihrer Yogapraxis eine Übung gezeigt, die entspannt. Im richtigen Augenblick tief entspannt. Die Hände flach aufeinander gelegt, die Daumen vor die Brust, die Fingerspitzen zeigen zum Kinn. Jetzt ruhig und tief atmen. Nehmt den Druck aus der Schulter, seid gut zu euch, zu eurem Körper. Keine Kraft, kein Druck – das Gegenteil. Versucht das mal in einem ruhigen Moment. Das zentriert und macht leicht.

Als ich dort saß, kamen keine Gedanken. Normalerweise ist da schon ein Jubel-Trubel wie auf dem Highway, wie auf der A3 morgens zwischen Köln und Leverkusen. Woarrr… Heute: Stille. Nicht sehr lange, da kamen der Blog und die Texte, die heute anstehen und die Fußballfahrt nach Norderney, die am Donnerstag startet. Pläne, Wertungen, Annahmen, Verwerfungen… Das ganze Programm. Ich nehme an, ihr kennt das. Das Hirn spielt Volksfest.

Zuvor aber, in diesem langen Augenblick der Ruhe, begünstigt durch den feinen Westwind und die nette Übung, Entspannung. Der Körper wurde ganz leicht, öffnete sich, nahm den Druck raus, ließ gehen. In solchen Momenten fällt wirklich etwas ab, bröckeln die Mauern des Körpers, tritt etwas wie die Seele, der Geist in den Vordergrund. Das ist ziemlich schön und ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl in ein Poesiealbum mit Papierrosen kleben, um es an manchen anderen Tagen aufzuschlagen. Wie schön wäre es, hätte dieses Gefühl einen Duft, einen Geschmack. Ich könnte es riechen, könnte hineinbeißen und kosten, um mich zu erinnern. So bleibt die Erinnerung oft abstrakt. Ich weiß, dieses Gefühl ist möglich, aber ich kann es nicht greifen.

Meine Hoffnung ist ja, dass durch viel Übung und die berühmte Wiederholung (Mein Lieblingszitat, George Tabori – beim Theatertreffen in Berlin 1993 oder 1994 im Spiegelzelt: „Die Kraft liegt in der Wiederholung. Die Kraft liegt in der Wiederholung. Hören Sie zu. Die Kraft liegt in der Wiedrholung.“ Auch so ein magischer Moment damals.) dieses Gefühl öfter kommt und vielleicht sogar einmal für länger bleibt. Eine Stunde, einen Vormittag oder gar einen ganzen Tag! From dusk till dawn.

Ich weiß nicht, ob diese Leichtigkeit in der Luft liegt oder nur ich die gerade spüre. Manchmal gibt es ja Massenphänomene, die eine allgemeine Gefühlstendenz vorgeben. Solltet ihr nah bei mir sein oder ich bei euch, dann geht doch bitte mal raus, spürt den Wind und testet die oben beschriebene kleine Übung. Ohne Druck, ohne Anstrengung, ohne Wollen. Was geschieht, passiert, was nicht – auch gut.

Wenn ihr dann so in euch hinein atmet, kann es geschehen, dass ihr Stellen im Körper spürt, wo es hakt. Die sind fester oder vielleicht schmerzen die auch ein wenig. Seid freundlich zu diesen Stellen, sie meinen es nicht böse. Sie gehören zu euch, zu uns, zu mir dazu. Ihr könnt die Stellen mit dem Atem, den ihr dorthin führt, streicheln. Die freuen sich. Genauso wie über ein haptisches Streicheln mit der Hand. Ich glaube, das ist dann Reiki – das würde mich auch sehr interessieren… Später, später:) Genug. Der Tag ruft. Ich wünsche euch gute Gefühle, stille Momente, schöne Einsichten. Ciao, Jens.

Netzstecker im Kopf

Plugin. Das gibt es nicht nur für Autos und Computer. Auch für Menschen. Dich, mich, uns. Der Stecker ist unscheinbar wie das Kabel, mit dem er verbunden ist. Grau, schwarz, transparent. Er kommt aus der Wand der Häuser, in denen wir leben, lieben, arbeiten. Meist zwei unscheibare Kupferdrähte, die sich seit Bell kaum verändert haben. Kupferlitzen. Sie bringen uns das Web. Das Netz. Was wird mit einem Netz gemacht?

Freitag hatte ich einen Gedanken, der sich aus den Tiefen meines Hirns irgendwie nach oben gearbeitet hat. Ich saß am Rechner, dachte über die Texte für einen Kunden nach, kam nicht recht voran, weil ich über die ganze Sache noch nicht geschlafen hatte. Da nutzte dieser Gedanke die Gunst der Stunde und schob sich an allem vorbei in den Vordergrund. Habe ich dann gleich getwittert, was hätte ich sonst mit dem Gedanken machen sollen? Wegwerfen? Speichern? Datenmüll produzieren?

Auf Twitter erschien also die fiftyfiftyblog-Meldung: „Bist du im Netz, bist du findbar. Gehst verloren. Wirst verschoben, veränderst dich, löst dich auf. Wirst verlinkt, vielleicht neu geboren.“

Was geschieht mit uns im Web? Technisch gesehen, ist es relativ klar. Wir vernetzen uns weiter und tiefer. Technisch. Immer mehr Daten werden über uns gesammelt, immer mehr Lebenszeit verbringen wir hier. Zum Shoppen, Preise vergleichen, Informieren, Plaudern, Schimpfen, Kontaktieren, Werben, Beworben werden, Verlieben, Online-Sex treiben…

Apple hat gerade das neue Handy 4S auf den Markt gebracht. Das hat nun ein funktionierendes Sprachtool. Ein echter Sekretär, der intelligent arbeitet. Man kann nun seinem Telefon sagen, es möchte einen Termin verschieben. Das Telefon hört zu und schaut im Terminkalender nach, ob der gewünschte Termin frei ist, verschiebt den und meldet das und merkt sich den. Oder es gibt, verbunden mit der Datenbank WolframAlpha Antworten auf die bescheuertsten Fragen. Oder interessante Fragen. Wie viel Kalorien haben ein Hamburger und eine Coke? Oder wie viele Menschen leben auf der Erde? Antwort: Im Jahr 2009 6,79 Milliarden. Testet mal http://www.wolframalpha.com. Müsst ihr auf Englisch eingeben.

Das heißt, wir sind nicht nur mit den beiden Kupferlitzen verdrahtet, sondern auch durch die Luft per Datenbeam vom Sendemast. Das wiederum heißt, wir sind permanent online. Datenschutztechnisch durch Datenkraken wie Google und Facebook ein Supergau. Facebook versucht ständig, meine Mobilnummer zu bekommen. Dreiste Anmache, wo Zuckerberg sich sicherlich nicht mit mir zum Essen verabreden möchte. Ich kann mich erinnern, dass gegen Volkszählungen mal demonstriert wurde. Heute…

Und jetzt die zentrale Frage: Was macht das mit uns? Wie wirkt sich die Vernetzung auf uns auf? Auf dich? Auf mich? Wie sehr verändern wir uns? Ich verbringe jeden Tag Stunden vor diesem Bildschirm, der letztlich ein Channel, ein direkter Zugang zu meinem Unterbewusstsein ist. Ich weiß gar nicht, was da alles reingeflogen kommt. Ich sehe diese Pixel vor mir, versuche das alles schön zu gestalten und liefere mich aus und mache mit. Twitter, Facebook, Google+, Tumblr, Klout, Brigitte Woman Blog, fiftyfiftyblog… Ich füttere, werde gefüttert.

Bin ich noch der, der ich war, bevor das Netz kam? Die Datenwolke, der Webschwarm? Sicherlich nicht. Versuche zu verstehen, wie die Dinge funktionieren, wie sie miteinander zusammenhängen und was welche Auswirkungen hat. Ein ständiger Prozess des Antizipierens. Spiele das Spiel der Spiele mit. Dieses faszinierende Spiel. Dieses große Spiel. David Grasekamp, mein persönlicher Webguru, der mich mental ins Netz gebracht hat, ins neue Denken und Kommunizieren, hat mir gestern getwittert, dass wir eventuell gemeinsam an einem Special der stART Conference teilnehmen werden. Mit einem Live Erzählblog. Mal sehen…

Ich hatte ihm das mal vorgeschlagen. Den fiftyfiftyblog als Live-Web-Act. Virtueller Blog und analoge Lesung an einem Ort. Interaktiv. Zurück auf die Bühne! Nach über 20 Jahren wieder eine Lesung. Nur ganz, ganz anders. Das versuche ich gerade zu denken und in ein Konzept zu packen. Was wird das dann sein? Ein next Step, eine weitere Veränderung? Wird das Netzkabel zu meinem Hirn noch dicker? Gehe ich im Netz verloren oder gewinne ich ein neues Leben? Wird Jens Schönlau, werden wir alle neu geboren? Als digitalisierte Menschen mit Glasfaserkabel-Vernetzung? Ihr seht an den vielen Fragezeichen, dass ich recht wenig weiß und eher die Fragen zu den Antworten habe, die wer kennt? Noch weiß ich nichts und blicke bei weitem nicht durch…

Eine schöne Web-Woche wünsche ich euch. Und zwischendurch, so wie Peter Lustig von Löwenzahn immer gesagt hat, mal schön ausschalten und raus in die Welt mit den Menschen, denen man in die Augen sehen kann. Diese schönen Gestalten, mit Ausstrahlung und Aura, mit Mimik und Lauten. Multidimensionale Wesen. Echt anfassbar.

P.S. Ich wusste heute Morgen schon bei der Wahl des Themas, dass das ein etwas chaotischer, verwirrender Beitrag wird, der ein wenig ratlos zurücklässt. Das ist der Vorteil von Blogs gegenüber den klassischen großen Medien. Wir Blogger haben die Freiheit, auch mal rumzuspinnen und einfach ein Thema unkontrolliert in die Runde zu werfen. Fragen zu stellen…

Besuch von Heinrich

Guten Morgen. Er sagte es, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Mir wurde es kalt und warm, als er plötzlich mitten auf der Wiese vor mir stand, in seinem dunkelbraunen Anzug im Fischgrät-Muster. Heinrich! Meine Stimme war gelähmt. Hinter ihm standen zwei Männer, die ich noch nie gesehen hatte – zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. Das konnte nicht sein, die drei hier an einem Sommertag auf einer Wiese voller Blumen, aufgetaucht aus dem Nichts. Ihre dunklen Augen fixierten mich und sahen mir auf den Grund meiner Seele. Geröntgt, gescannt. Ich konnte ihnen nichts vormachen, sie kannten mich in- und auswendig. Mein Tarnmantel rutschte von den Schultern, meine Schutzmauer aus Beton bröckelte und fiel zu Boden, meine Sätze und Worte der Irreführung blieben mir im Hals stecken. Von einer Sekunde auf die andere transparent, komplett durchsichtig. Sie haben mich durchschaut. Wir standen dort in der Sonne still und unbeweglich wie auf einem Gemälde. Mir war klar, sie stehen dort und sind gleichzeitig in mir, ein Teil von mir, mein Fundament, meine Geschichte. Meine Augen zuckten, versuchten standzuhalten, etwas zu erkennen, sich zu wehren. Der Blick huschte über die starren Gesichter. Hätte ich versucht, ihre Blicke aufzunehmen, sie hätten mich umgeworfen, hypnotisiert. Zu intensiv, zu plötzlich. Was war das? Eine Fantamorgana, ein Trugbild, ein Spiel meiner Psyche, meines Ichs? Gänsehaut überzog meinen Körper, der linke Fuß begann zu zittern. Mir kam der Gedanke, wegzulaufen, der Situation zu entfliehen und gleichzeitig wusste ich, dass die Sache ausgetragen werden musste. Sie würden mich finden, überall, sie waren andere Wesen. Sie brauchten kein Fernglas, kein Telefon, keine Abhöranlagen, keinen Plan, kein Auto oder Flugzeug. Das Zittern des Fußes nahm mir den sicheren Stand und verstärkte die Unsicherheit. Sie standen und standen, fixierten mich und reichten keine Hand. Hätte ich wenigstens sprechen können – frech herausschreien „Was wollt ihr verdammten Idioten hier auf dieser Wiese? Haut ab, lasst mich. Verpisst euch dorthin, wo ihr hergekommen seid.“ Angst stieg in mir auf – merkwürdigerweise nicht vor den Männern, sondern vor mir. Vor mir? Weshalb sollte ich vor mir Angst haben? Fast hätte ich mir in die Hose gemacht, wie peinlich. Als wäre die Situation nicht kurios genug gewesen, stürzte plötzlich ein Bussard vom Himmel und griff mit der Kraft seiner Greifer eine kleine Maus. Meinem Gesicht englitt ein zynisches Lächeln. Ihr glaubt, ich bin eine kleine Maus und ihr könnt mich hier stellen? Meine Seele kontrollieren, mich hopps nehmen, mir rücksichtslos auf den Zahn fühlen? Ich hatte Ihnen nichts getan, niemals. Vielleicht hatte ich sie verraten, aber das war eine Sache des Standpunktes.

Heinrich trat einen Schritt vor und verscheuchte den Vogel mit einer winzigen Handbewegung. Vollkommen stolz, selbstsicher ohne einen Hauch des Zweifels, dass der Vogel seiner Anweisung folgen würde. Dann nahm er die tote Maus und warf sie mit einem kurzen Zucken des Handgelenks weit weg. Meine Augen folgten dem Flug des Tieres und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der leblose Körper in dem hoch stehenden grünen Gras verschwand. Heinrich trat zurück, verlagerte sein Körpergewicht auf ein Bein und steckte die Hände in die Hosentasche. Ich erwartete ein süffisantes, herablassendes Grinsen, sah aber weiterhin nichts als Neugierde. Sie untersuchten mich, das war es, sie wollten wissen, was aus mir geworden ist, wie ich in der Welt stehe, ob ich meine Sache gut mache. Ein Tribunal, ein personifiziertes Gewissen. Mein Mut sank, mein Leben lief in ny-Sekunden vor meinem geistigen Auge ab. Wie oft hatte ich versagt, die falschen Entscheidungen getroffen, war nicht mutig und entschieden genug gewesen, meine Pläne zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Zu viele lose Enden, die hinter mir lagen und noch immer die Energie der Konzentration raubten. Einmal war ich ein Held gewesen, in New York auf der 5th Avenue. Auf dem Weg downtown hatte der Bus gehalten und eine alte, wirklich dicke Frau konnte nicht einsteigen. Sie stand, sah auf den Busfahrer, der Busfahrer sah aus seiner Glaskabine auf sie. Alle im Bus sahen abwechselnd auf die Frau und den Fahrer. Nach einem Druck auf einen Knopf senkte sich der Bus, um der Frau den Einstieg zu erleichtern. Nichts tat sich, sie war zu dick und brauchte Hilfe. Eine schier unendliche Zeit in Hilflosigkeit saßen wir in diesem Bus, der sich entschuldigend vor der Welt verneigt hatte. Alle Blicke waren jetzt auf die Frau gerichtet, niemand wagte etwas zu sagen. Der Moment machte uns alle gemeinsam einfach nur klein. Ein Mann stieg aus und ging weg. Verräter. Ich sagte mir, ich tue es und stand auf. Spürte die Blicke auf mich geheftet – noch ein Verräter. Ich stieg aus, ging zu der Frau, fragte sie, ob ich ihr helfen könne und fasste ihr unter den Arm, zählte bis drei und gab ihr den Schwung und den Halt für den Schritt. Es ging ganz leicht und sie stand vor dem Fahrer, zeigte ihm ihre Karte und setzte sich. In der Zwischenzeit war ich durch die hintere Tür wieder eingestiegen und hatte mich auf meinen Platz gesetzt. Leichtigkeit durchzog mich, gab mir ein gutes Gefühl, wie einfach das Leben doch ist. Nur ein Griff. Plötzlich stand ein Mann auf und zeigte mit dem Finger auf mich „Look that young man, he helped the old lady!“ Alle applaudierten und ich zog mich hinter meine Wand aus Beton zurück, blickte wie unbeteiligt aus dem Fenster und sah auf die Rush-Hour der 5th Avenue. Mein Mut versank in den stehenden Autos und die Leichtigkeit des Seins verlor sich in der Schwere der Wolkenkratzer. Trotzdem war ich stolz und lächelte – nur niemand sah es.

Die Gedanken an das Buserlebnis gaben mir halt, das Zittern im Fuß hatte aufgehört und mein Stand wurde sicherer. Mein Atem fand zurück in einen angenehmen, ruhigen Rhythmus. Mein Blick wurde weicher und wärmer, die Angst verließ mich und es war mir egal, was jetzt passieren würde. Ich hatte den ersten Schritt getan und war drauf und dran, mich umzudrehen und die drei stehen zu lassen. Der Situation war die Schärfe genommen, ich hatte meine Handlungsfähigkeit zurückerlangt und fragte unvermittelt: „Was wollt ihr?“ Sie lächelten, tatsächlich, sie lächelten. Heinrich kam auf mich zu, seine Augen begannen zu leuchten und sein Gesicht verlor die Spannung. „Wir haben uns überlegt, dass wir dich besuchen. Ich wollte dich sehen und den beiden vorstellen.“ Ich konnte es kaum fassen, hatte ich gerade noch an das Schlimmste gedacht, war es nun wie eine Verabredung zum Sonntagskaffee – gute alte Freunde bei Apfelkuchen mit Sahne zu Besuch. „Schön dich zu sehen, Heinrich, auch wenn es mich überrascht. Und das du die beiden mitgebracht hast. Kaum zu glauben.“ Dieses Grinsen hatte ich nie zuvor bei ihm gesehen. Früher war er ein alter Mann voller Jähzorn, um Kontrolle und Macht bemüht. Unzufrieden mit dem Augenblick und gequält von der eigenen Energie. Vor Sonnenuntergang war er immer zum Teich gegangen. Drei Kilometer bei jedem Wetter und im Winter in der tiefen Dunkelheit. Dann hatte er sich ans Ufer auf seinen Stuhl gesetzt und hatte die Ruhe genossen – die Ruhe in sich. Einen Augenblick Frieden mit der Welt, um dann zurückzukehren in den Alltag der Mühen. Er legte seine früher von Erde geschwärzten Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Tränen liefen herunter als er sagte „Ich habe dich vermisst“. Er rief die beiden anderen zu sich, um mich anzuschauen. „Los kommt, ihr müsst ihn sehen, schaut ihn euch an.“ Jetzt kamen mir die Tränen und ich musste Heinrich packen, ihn umarmen, ganz fest drücken, schütteln. Mehr als eine Ewigkeit hatte zwischen uns gelegen und noch einiges mehr. Jetzt fiel es von mir ab. Wie konnte es sein, dass das geschieht. Ich hatte es mir nicht gewünscht, hatte den Zustand als gegeben hingenommen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich jemals etwas daran ändern lassen würde. Nun hatte es sich geändert. Heinrich hatte die beiden mitgenommen, weil er sonst den Mut nicht gehabt hätte. Deshalb hatte er mich so lange angesehen, weil er nicht wusste, ob ich ihn bei mir haben wollte. Die beiden kamen hinzu und schüttelten mir die Hand. Fritz und August, Ziegelmeister und Maurer. Starke Hände, gerader Rücken, starker Stand. Wie nah sie mir waren. Heinrich schüttelte den Kopf und begann zu lachen. Er konnte selbst nicht glauben, was er sah. Hätte ich gewusst, dass ich ihm auch nur ein klein wenig wichtig bin, ich hätte ihn nicht so gehen lassen.

Wir setzten uns in Gras und erzählten einander, was geschehen ist in all den Jahren. Tauchten ab in die alten Zeiten und sie nahmen mich mit in eine Welt, die ich nicht kennen konnte. August holte eine Flasche mit klarem Wasser aus der Tasche und reichte sie rum. Ich trank das Wasser, als sei es das Wasser des Lebens. Nun waren wir verbunden, für immer verbunden. Sie sagten, sie müssen nun gehen, wir umarmten einander und im nächsten Moment waren sie so lautlos verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich wäre gerne bei ihnen geblieben, mit ihnen gegangen, wo immer sie auch hingegangen sind. Ich legte mich auf die Wiese, sog die Sonnenstrahlen in meinen Körper und schlief ein. In der Nacht erwachte ich durch die Feuchtigkeit, die sich in meine Kleidung gezogen hatte. Ich ging und begann, die losen Enden zu verknüpfen.

nOVEMBER 2006

P.S. – Liebe Annegret, beim Suchen alter Gedichte bin ich auf diesen Text gestoßen. Der lag noch im Archiv. Als Ausgleich der nun fehlenden Lyrik, dieser Text. Als kleiner Ausgleich.

JA! Ein Lyriker. Nobelpreis für Literatur geht an Tomas Tranströmer.

Ja! Ja! Ja! Seit 1996 der erste Nobelpreis für Literatur, der an einen Lyriker geht. Ich freue mich. Für die Lyrik und für Tomas Tranströmer, von dem ich bislang nie gehört habe. Ich wusste nicht, dass es diesen schwedischen Gedichteschreiber gibt, der nun 80 jahre alt ist und es geschafft hat, in den Literatenolymp aufzusteigen. Komme gerade von den Seiten der deutschen Kulturpresse. Die wissen schon alles. Wie die das immer machen? Wahrscheinlich vorgeschrieben.

Tranströmer ist 1931 geboren und hat 1954 mit „17 Gedichte“ seinen ersten Lyrikband veröffentlicht. Es folgten ein kanppes Dutzend weitere. Gerne würd ich jetzt eines seiner Gedichte hier präsentieren, kann das aber aus Rechtegründen leider nicht. „Die Zeit“ kann es und macht es – dort findet ihr zum Beispiel sein Gedicht April und Schweigen. Lest dort selbst. Was soll ich lange drum herum schreiben und beschreiben, wenn Tomas Tranströmer selbst zu Wort kommen kann. Und wenn „Die Zeit“ schon einen so guten und schönen Bericht geschrieben hat.

Alle – Zeit, Spiegel, FAZ und die anderen üblichen Verdächtigen – schreiben von seiner sprachlichen Reduktion bei gleichzeitiger sprachlicher Verständlichkeit. Einer, der eine Metapher auf den Punkt zu bringen weiß. Ganz, ganz einfach. So lange gesucht, bis es stimmt. Nehme ich an. Der Meister der Verknappung, wie er an mehreren Stellen im Netz genannt wird.

Tomas Tranströmer konnte von seiner Lyrik nie leben, auch wenn einer seiner Gedichtbände 30.000 mal in Schweden verkauft wurde. Ein gigantischer Erfolg. Damals. Mein Besuch der Lyrikabteilung von Dussmann in der Friedrichstraße in Berlin hat mir gestern deutlich vor Augen geführt, wo Lyrik heute steht – hinten in der Ecke in einem kleinen Extraraum – gut geschützt vor Kunden. Eine heilige Halle, eine Krypta. Viele, viele alte Werke von längst Verstorbenen. Tranströmer hat als Psychologe gearbeitet. Unter anderem. Er hat geschrieben und sein Geld in anderen Berufen verdient. Nun überweist ihm das Nobelpreis-Komitee über eine Million Euro. Jetzt, wo er 80 Jahre alt ist und von mehreren Schlaganfällen gezeichnet. Aber, als die Mitteilung kam, sagte er: „Die Schreibstube ist noch nicht geschlossen.“

Es wird ihn gefreut haben, dass sein Telefon geklingelt hat. Weil er bereits seit 1973 darauf wartete, als er zum ersten Mal im Gespräch war. Als man munkelte, in Schweden hoffte. Nun ist es passiert. Am hellichten Tage. Tomas Tranströmer: „Und alles ist ohne Antwort und heftig, wie wenn im Dunkeln das Telefon klingelt.“ (aus: Geheimnisse auf dem Wege, 1958)

Sein Gesamtwerk gibt es übrigens bei Amazon für 19,90 Euro. Ich habe es mir eben bestellt. Ich freue mich darauf, Tranströmer zu lesen. Kennenzulernen. Yep.