Manchmal ist es wie verhext. Gestern habe ich von der Ruhe im Kopf berichtet, von der Atemübung (da habe ich vergessen zu erwähnen, dass ein tiefes Atmen schön ist. Bis in die Lungenspitzen den Sauerstoff einatmen. Langsam durch die Nase.). Heute nun geht es um einen Prozess in meinem Kopf, der nicht stattfinden will. Das heißt, er findet statt, liefert mir aber nicht das Ergebnis, das ich mir wünsche. Oder nocht nicht…
Als ich kürzlich in Berlin vor dem Glen Hansard-Konzert mit Ela in der Hotel-Bar saß, Latte Macchiato schlürfte, Gedichte aus neuen Gedichtbänden las und den intensiven Tag verarbeitete, hatte ich drei Gedichtideen. Flashs. Ein Gedicht habe ich geschrieben, das verarbeitet Ela gerade in dem Gedichtband, den sie gestaltet. Für mich. Hach.
Eines ist in Warteposition und erscheint mir nicht so wichtig. Aber eines, das ist mir wichtig, aber das will nicht raus. Es wird „Friedrichstraße entlang“ heißen. Profan. Ja. Das Problem ist, dass ich das Gedicht überfrachte. Deshalb schreibe ich heute diesen Text, weil ich schreibend gut sortieren kann und oft weiterkomme. In Wahrheit ist dieser Blog nämlich eine verordnete Schreibtherapie:) Aber das habt ihr sicherlich längst selbst gemerkt, dass ich hier munter aufarbeite und rauslasse.
In diesem Gedicht laufen einige Stränge zusammen. Es geht aus von einem Besuch im Brecht-Museum vor vielen, vielen Jahren. Der Besuch seines Grabes nebenan. Ein Strang. Zweiter Strang. Heiner Müller, über den habe ich meine Magisterarbeit geschrieben und in dieser unter anderem die Beziehung zu Brecht untersucht. Heiner Müller habe ich 1992 auf der Leipziger Buchmesse gesehen. Ich war, kurz nachdem ich meine Magisterarbeit über ihn geschrieben und diese abgegeben hatte, einen Moment allein mit ihm in einem Raum. Purer Zufall. Müller und Schönlau – wie ein surrealer Traum. Ich wollte ihn ansprechen, dann aber den Augenblick nicht zerstören. Ich hatte auch keine Fragen mehr. Mir sind Emotionen immer wichtiger als Informationen, also habe ich still den Augenblick genossen. Er hat mich irritiert angesehen, hat genickt, ist gegangen. Und 1995 gestorben. Mit dem Untergang der DDR war er das zuvor schon.
Dritter Strang: Beim 31. Berliner Theatertreffen 1994 stand ich in Berlin auf der Bühne. Ich war Regieassistent am Nationaltheater Mannheim und landete durch einen Zufall in der Rolle des „Kolja“ in Wenedikt Jerofejews „Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs“ unter der Regie von Hans-Ulrich Becker auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Ela war bei diesem „Betriebsausflug“ dabei. Wir hatten ein Zimmer in einem teuren Hotel und sahen auf den Bahnhof Friedrichstraße. Ich weiß nicht mehr, welches Hotel das war. Auf jeden Fall sahen wir ein Heiner Müller Stück im Deutschen Theater mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle sowie eine Burgtheater-Inszenierung von George Tabori (Requiem für einen Spion).
Deutsches Theater, Berliner Ensemble, Brecht-Grab und -Museum – alles nicht weit von der Friedrichstraße. Ich bin sie immer wieder gegangen in den letzten 20 Jahren. In beide Richtungen. Jetzt war ich öfter beruflich da, weil wir einen Kunden in einer Seitenstraße der Friedrichstraße betreuen. Als ich nun die drei Gedichtbände im Kultur-Kaufhaus Dussmann in der Friedrichstraße gekauft hatte und in ihnen las, stand das Gedicht vor meinem geistigen Auge. Als ich es dann hier am Schreibtisch schreiben wollte, verschwammen die Zeiten. Lyrik und Drama. Müller und Grünbein. Und ich fand mich selbst nicht mehr darin, obwohl es meine Perspektive, mein Blick ist, den ich als Material habe.
Momentan arbeite ich daran, zu verknappen. Zu kürzen. Schärfer zu formulieren in den Gedichten. Das funktioniert, wenn die Bauteile im Kopf klar sortiert sind. Jetzt stehe ich vor einem riesigen Haufen Steine und weiß nicht, wo anfangen. Mir fehlt der berühmte Faden in der Hand, der zu einem Seil führt, an dem ich mich entlanghangeln kann. Denn das Ganze wird über das faktisch Historische noch komplizierter: Alle oben genannten Männer spielten und spieln in meinem Leben eine Rolle. Sie haben Funktionen. Klingt jetzt hoffentlich nicht zu verrückt, abgedreht.
Genug der Verwirrung. Ich gehe über ins Tagesgeschäft, schalte im Hirn um auf Business-Modus. Schreibe heute einen Text für ein Werbevideo, in dem es um ein konventionelles Produkt geht, in dem nun 20 % der Bestandteile durch Recyclingmaterial ersetzt werden. Eine Weltneuheit in diesem Bereich. Geht doch. Morgen fahre ich dann mit den Fußballjungs nach Norderney, weshalb ich schon wieder im Blog blau mache. Ich weiß, ich weiß. Der Typ ist ja dauernd unterwegs. Nach Norderney ist dann erst einmal Schluss:) Drückt mir die Daumen, dass ich das mit „Friedrichstraße entlang“ noch hinbekomme. So eine lange große Straße im Kopf, das zwickt. Die muss raus.
