Plädoyer für ein lustvolleres Leben!

Römische Dekadenz? Auf Sofas rumfläzen, Trauben in die zentrale Gesichtsöffnung schieben und mit gutem Rotem niederspülen? Ne! So nich. Keine Fettwanst-Lust der Selbstzerstörung. Ganz anders. Nein, auch keine Askese. Also. Aktuell leben wir in unruhigen Zeiten. Wer die Medien verfolgt, und wie könnte man sich denen entziehen (selbst wenn man/ frau es täte, würden es einem andere brühwarm erzählen), erlebt viel Schreckliches. Täglich, stündlich. Per DSL mit Highspeed in die Blutbahn. Intravenös. Die tägliche Dosis Sex, Crime, Unterdrückung, Untergang. EHEC, Libyen, Syrien, Afghanistan, Fukushima und nicht zu vergessen: Erderwärmung und andere zentrale globale Problemchen.

Wie, verdammt noch mal, lässt es sich in einem solchen Umfeld lustvoll leben? Müssten wir nicht alle aufspringen, uns sonst was schnappen und machen und tun, um die Dinge, die da kommen, aufzuhalten? Nun, ich denke, da würden wir uns alle in Heldenpositionen bringen, denen wir nicht gerecht werden. Die wir nicht ausfüllen, die einfach nicht passen. Eine Nummer zu groß, für die meisten. Wir haben ja alle unsere Aufgaben gewählt. Stehen im Leben, nehmen Positionen ein, füllen die hoffentlich gut aus und haben, meiner Meinung nach, an den Orten, die wir gewählt haben, die Aufgabe einen guten Job zu machen.

Nun habe ich in den letzten beiden Wochen im privaten Umfeld viel Frust von Freunden erfahren. Da sind einige Dinge geschehen, wie sie immer geschehen, wenn Menschen zusammenleben. Und diese Geschehnisse haben diese Freunde sehr unglücklich gemacht. Das hatte nichts mit mir oder uns zu tun, aber im Freundeskreis sollte man füreinander da sein, wenn’s brennt. Ich habe mich also in Gesprächen wiedergefunden, die plötzlich da waren. Und versucht, da zu sein, zuzuhören.

Und dabei ist mir aufgefallen, wie groß unser Hang ist, uns selbst zu verletzen. In den eigenen Schmerz zu gehen. Uns Wunden zu schlagen, die dann lange brauchen, um zu heilen. Als Buddhist glaube ich an das sogenannte Speicherbewusstsein. Die Speicherung von Information, was weitestgehend auch mit Karma zu tun hat. Also der Schaffung der eigenen Zukunft. Habe ich ein Problem und bearbeite dieses Problem wieder und wieder, dann fahre ich in mir mit einem Bagger rum, der das Loch immer größer macht. Damit wird es immer schwieriger, dieses Loch wieder zu füllen. Wenn ich also von lustvollem Leben spreche, meine ich nicht die Weintrauben, sondern das Glück, das wir uns selbst gönnen. Unsere Bereitschaft, Ballast über Bord zu werfen. Glaubenssätze. Schuldzuschreibungen. Vergangenheiten. Unser Glück, Baggerlöcher langsam zu schließen und darauf etwas Gutes wachsen zu lassen.

Diese Welt ist permanent schrecklich. Und schön. Beides. Wir selbst bewegen uns in diesem Umfeld und sind permanent aufgefordert, uns zu entscheiden. Rechts oder links, oben oder unten. Schön oder unschön. Wir sagen dann oft: Was soll ich denn machen? Es geht doch nicht anders! Doch. Es geht anders. Im Umgang mit sich selbst zum Beispiel. Lustvolles Leben heißt da, nett zu sich zu sein. Sich zu schützen vor den dunklen Seiten. Nicht ignorieren, nicht verdrängen, aber nicht alles in das eigene Speicherbewusstsein lassen, wo es ungut arbeitet. Packe ich da immer Mist rein, geht es mir irgendwann nicht mehr gut. In uns entsteht eine selbstgebastelte dunkle Welt. Wir machen es uns selbst unschön! Wir selbst entscheiden uns, das zu tun.

Betone ich die helle Seite, wird es schöner. Strahlender. Das meine ich mit einem lustvollen Leben. Schritt für Schritt den guten Weg gehen. Tag für Tag. Achtsam mit sich umgehen, den eigenen Körper, den eigenen Geist respektvoll behandeln. Hygiene. Genau schauen, was da rein kommt und was endlich mal raus muss. Weg damit! Weg mit dem alten Ballast und Schrott und den Gewichten an den Beinen. Lustvoll leben. Die schönen Seiten sehen, gerade dann, wenn die dunklen übermächtig aufzusteigen scheinen. Lächeln, lachen, leben.

Noch so ein Tag und ich werde auf der Stelle verrückt.

Kulminierende Tage. Ich weigere mich, zu glauben, es wäre keine größere Macht im Hintergrund vorhanden. Alles hat einen Sinn, alles läuft zusammen, es gibt ihn, den größeren Plan. Anders ist dieser Tag in seiner Fülle nicht zu erklären. Ich jedenfalls versteh ihn nicht. Dieser Tag hatte es in sich. 6:00 Uhr – wecken, Spülmaschine ausräumen, Toasts schmieren, Kakao für Jim aufschäumen, für Zoe kalt aufrühren, Pausenbrote schmieren, Elas Cappuccino zubereiten, ans Bett bringen, die schönste Frau der Welt wach küssen, anlächeln, abfliegen, ab zum Bus und anschließend Geld am Automaten ziehen für die eventuell fällige Praxisgebühr später beim Arzt. Uhrenvergleich! Ja, genau, 55 Minuten später.

An diesem Tag bleibt keine Zeit. Um 8:45 Uhr erwartet mich ein Arzt, der davon lebt, Menschen Kameras in den Allerwertetsten zu schieben, um sich das da drinnen auf großem Bildschirm anzusehen. Ein Profi in seinem Metier. Vorher jedoch will das hungrige Tier, der Blog, gefüttert werden. Bitte, Herr Schönlau, jetzt nicht ausufern, im Zeitplan bleiben und auf den Punkt kommen. Was fällt mir ein? Richtig, ihr habt es gelesen, ein delikates Thema. Ein wenig Witz, Humor und Lockerheit reinbringen, damit niemandem der Tag versaut wird.

7:26 Uhr. Cooper schaut mich an, als hätte er verstanden, worüber ich geschrieben habe. Er will raus der Gute, seiner Morgentoilette nachgehen. Sein Blick hat was Zwickendes. Anzeichen von abschließender Verdauungstätigkeit im Nordbereich des Tieres, dort, wo die Sonne nicht hin scheint (im Norden ist sie nie zu sehen). 8:05 Uhr. Cooper ist glücklich. Ich erreiche meinen Rechner, setze einen Twitter-Tweet ab und begebe mich ins Bad. Fix. Ab ins Auto. Erreichen der Praxis um 8:35 Uhr.

Bei Überweisungen wird keine Praxisgebühr fällig. Weiß ich das jetzt auch. Im Wartezimmer unterhalten sich die Menschen über Darmkrebs und abgeschnittene Polypen und die besten Methoden der Darmentleerung. Ich scheine in die jährliche Hauptversammlung der Darmspiegelungs-Fanatiker hereingeschneit zu sein. Mahlzeit möchte ich sagen, belasse es aber bei einem verkniffenen „Morgen“. Ich nehme mir eine Zeitung, weil ich mich nicht als Greenhorn outen möchte. Ja, ich habe keine Ahnung! Einführungsgespräch, wobei diese Bezeichnung mir ziemlich doppeldeutig vorkommt.

Der Arzt ist sehr nett. Führt mit mir ein Gespräch, unterstützt von Zeichnungen, von dem ich jetzt sagen würde: So einige Details hätte er auch weglassen können. Während wir uns also auf männlicher Expertenebene über seinen Dickdarm, meinen Dickdarm, den Dickdarm seiner Kinder (kennt er in- und auswendig) unterhalten, saugt mich seine Kollegin im grünen OP-Gewand so ganz langsam aus. In letzter Zeit sitze ich kaum beim Arzt, da habe ich schon so eine fette Meganadel im Arm und befülle unendlich viele Ampullen. Eine für Mama, eine für Papa und der Opa der Lady ist auch Vampir… Nein, Leberwerte und Cholesterin können wir weglassen, die Inspektion hatte ich gerade.

Ab in die Karre, Flucht. Zu Hause erwartet mich ein Kundengespräch. Live. Muss schnell gehen, denn ich habe Mittagsdienst. Kochen, Zoe vom Bus holen. Verabschiede den Kunden. Es ist 12:45 Uhr. Ela holt Zoe, ich koche. Ela kommt rauf, unten habe gerade ein Kunde angerufen. Kochen, telefonieren, was nun? Erreiche den Kunden nicht, koche weiter. Fisch mit Kartoffeln und Gemüse. Ela kommt rauf, der Kunde habe wieder angerufen und versuche es in 20 Minuten noch mal. Zu Ende kochen. Tisch decken. „Ela, kannst du das Dressing machen?“ Ich hole den Salat aus dem Garten. Salat in Hülle und Fülle. Die Familie isst, ich versuche den Kunden zu erreichen. Nicht erreichbar. Miste. Antworte auf die 10 Millionen aufgelaufenen Kommentare im Blog. Flieg durch den Tag.

Mails kommen rein. Text bis morgen, geht das? Klar doch. Häuptling schneller Finger. Da ich eh gerade warte, haue ich das raus. Mittlerweile steht die Uhr auf 15:46 Uhr. Erreiche den Kunden nicht, der Kunde ereicht mich nicht. Versuche einen anderen Kunden zu erreichen, den ich auch erreiche, der mich aber auf später vertröstet. Schreibe den Text, versende ihn und erhalte postwendend die Antwort: „Hammer! Ich bin beeindruckt.“ Das müsste Kundenpflichtprogramm sein. Immer schön den Herrn Schönlau loben. Ah! Kunde 1 ruft mich an, während ich auf Kunde 2 warte. Telefonieren eine Stunde lang. Intensives Briefing. Mein Kopf rauscht. Ela will mit mir Fahrrad fahren. Super. 18:00 Uhr. Wir fahren am Nachbarn vorbei, mit dem mich Ela heimlich verkuppelt hat. In dem Sinne, dass sie mich mit ihm quasi zu einer weiteren, späteren Radtour verabredet hat. Um 19:00 Uhr?

Ich sage für etwas später zu, weil ich um 19:00 mit zwei Mitbewohnern meines Dorfes zum Buchen zweier Flüge verabredet bin. Nebenbei bin ich hier so eine Art Reisebüro für Menschen, die im Internet nix finden. Zwei Billigflüge nach Rumänien im September. Vorher muss ich aber noch Zoe den Rechner einrichten, damit sie das Länderspiel im Livestream sehen kann. Jetzt sagt die Uhr irgendetwas von 23:01 Uhr. Mit meinem lieben Nachbarn bin ich noch 10 Kilometer Rad gefahren, danach hab ich Rechnungen geschrieben, diesen Text gebloggt und nun bin ich reif für die Heia. Gerade noch im Blog kommentieren… Was für ein Tag. Weshalb bin ich eigentlich immer derjenige, der in meinem Leben stes in erster Reihe dabei ist? Weiß auch nich:)

Und dann: 01.23 Uhr geht der Feueralarm – die große Sirene direkt neben meinem Schlafzimmer. Bei offenem Fester kommt die richtig gut. Stehe senkrecht im Bett, Zoe kommt rein und steht panisch neben mir. Kleine Zugabe des Schicksals zu diesem Tag.

Emotionale Entgiftungskur: Ein Erfahrungsbericht von Soniadeluxe

Ein Gastbeitrag von Soniadeluxe (Thanx! Thanx! Thanx!) – Wie ich kürzlich in meinem Blog speaking up! berichtete, hatte ich geplant, versuchsweise einen aufregungsfreien Tag pro Woche einzurichten. Ich wollte herausfinden, ob ich aus freien Stücken die zahlreichen emotionalen Palmen dieses Lebens links liegen lassen kann, auf die ich sonst automatisch klettere. Die Betonung lag auf „automatisch“, das nervte mich und ich beschloss, es mir selbst mal so richtig zu beweisen: Bin ich stark genug, meinen emotionalen Zustand selbst zu wählen? Ich suchte mir den Mittwoch aus, da mich da morgens immer schon die Müllabfuhr nervt hier bei uns.

Ich gehe aus Erfahrung davon aus, dass man eine Menge emotionaler Abgase in die Welt bläst, wenn man sehr negativ unterwegs ist und auch davon, dass man nicht nur sich selbst damit verpestet, sondern auch andere Menschen damit stört und runterzieht. Dies ist einer der Gründe, warum ich mich mit der Thematik überhaupt befasse. Ich selbst bin da hochsensitiv und entwickle sogar dieselben Körpersymptome, wie ein neben mir stehender oder gegen mich gerichteter Wutausbruch. Nur so viel zu meiner inneren Landschaft und meiner Motivation, selbst nach Möglichkeit innerlich immer wieder schön aufzuräumen.
Der physische Körper als Metapher: Ausleitung giftiger Emotionen
Die Herausforderung des aufregungsfreien Tages (aus dem schließlich eine ganze Woche wurde) bestand für mich darin, die gefällte Entscheidung (mich nicht aufzuregen) nicht nur äußerlich durch Selbstbeherrschung umzusetzen, sondern mich SO einzustellen, dass innerlich kein neuer emotionaler Giftmüll mehr entsteht. Womit ich auch schon bei der emotionalen Entgiftungskur angekommen wäre, zu der sich mein Selbstversuch entwickelte. Jens berichtete hier ja dieser Tage von seiner Wacker-Fastenkur und genau in dieser Zeit machte ich grad meinen aufregungsfreien Selbstversuch. Eine Bekannte war übrigens in dergleichen Woche auch auf Rügen zu einer Wellness-Entgiftungskur, irgendwie scheint das so eine Zeit gewesen zu sein.
Mir wurde in der Woche klar, dass es sich mit dem Emotionalkörper ähnlich verhält, wie mit dem physischen Körper. Beim physischen Körper wirft man sich oft allerlei ungesundes Zeug ein mit der täglichen Ernährung und will man mal bis auf die Zellebene entgiften, so lautet Regel Nummer 1: kein Junk Food mehr, eine spezielle Diät, die das Ausleiten fördert, Ausspülen mit viel Flüssigkeit etc. Und so ähnlich ist es auch bei einer emotionalen Entgiftung, wie ich feststellte: keine negativen Emotionen mehr, eine neue Haltung zu den Dingen einnehmen, um emotional mal anders reagieren zu können, viel Lachen und 5 gerade sein lassen, noch viel mehr positive Emotionen zulassen, um das emotionale Giftfass mal richtig durchzuspülen. Und eine extra große Portion Selbst-Achtsamkeit ist quasi das Äquivalent zum Entgiftungstee.
Interessant finde ich, dass sowohl bei einer physischen als auch bei einer emotionalen Entgiftung am Anfang eine bewusst gefällte Entscheidung steht. Ohne diese würde man gar nicht erst loslegen mit einer Diät und dem Entschlacken. Jeder Fastende wird bestätigen können, dass der Japp auf Dreck nicht verschwindet, nur weil man sich entschieden hat, eine Entgiftung zu machen. Man muss auch Willensstärke haben, um standhaft zu bleiben. Ebenso ging es mir in der aufregungsfreien Zeit. An jeder Ecke lagen verführerische Anlässe zum Auf-die-Palme-gehen herum und ich musste durchaus einiges an Kreativität und Selbstdisziplin aufbringen, um emotional nicht auf die Palme zu gehen. Dies schaffte ich ausschließlich dadurch, dass ich meine Haltung in jeder Situation so anpasste, dass es keinen Grund mehr für’s Aufregen gab (ja, meist scheint es nämlich das zu sein, was man über die Dinge so denkt, was einen innerlich ausrasten lässt). Auch Dingen mal einfach ihren Lauf zu lassen, auf das Risiko hin, dass was andres dabei rauskommt, als was wir uns wünschen, hat mir geholfen, anders zu denken. Risikobereitschaft und Loslassen von Ergebnissen waren auch Schlüssel zur aufregungsfreien Erfahrung.
Ich wollte ja keine Aufregung verdrängen, sondern störenden Dingen ins Angesicht sehen, sie mal anders betrachten und dabei emotional locker durch die Hose atmen.
Training für Emotionen und Verstand
Bemerkenswert: unterm Strich ging es mir eine ganze Woche am Stück super. Ich ertappte mich dabei, wie ich sogar als Hintergrundmusik zu meiner guten Laune dieses fröhliche Glucksen in mir hörte, dass ich von den Zeiten kenne, wenn einfach alles stimmt. Weder Bürokram, noch Nachbars Hund, noch blöde Kommentare, noch lange Supermarktkassenschlangen konnte mich nerven. All die kleinen Alltagsnervereien hatten keine Chance.
Mich ließ meine mentale Selbstdisziplin nach ca. einer Woche jedoch erstmals im Stich und ich regte mich wieder über eine Kleinigkeit auf. Und dennoch habe ich jetzt den 3. Aufregungsfreien Mittwoch (denn ein Tag pro Woche sollte es ursprünglich sein) gefeiert und das Gefühl, ein bisschen mehr über meine inneren Vorgänge gelernt zu haben. Eine andere Haltung einzunehmen (die zu anderen emotionalen Reaktionen führt) ist vergleichbar damit, wenn man während einer Fastenkur nicht dem gewohnheitsmäßigen Appetit auf Big Macs folgt (rauf auf die Palme), sondern sich GANZ BEWUSST für was Gesünderes entscheidet (um die Palme rum Blümchen pflanzen z.B. ).
Ich habe für mich erkannt, dass nicht nur mein Emotionalkörper entgiftet hat in dieser aufregungsfreien Zeit, sondern dass ich auch noch meinen Mentalkörper, meine Willenskraft und meinen Verstand trainiert habe, denn Selbstdisziplin und die Haltung, die ich einnehme, sind mentale Geschichten. Bewusst eine andere Haltung einzunehmen ist wie Sit Ups für den Geist. Und die volle Verantwortung für seine Emotionen zu übernehmen ist sowieso ein ganz wichtiger Faktor, finde ich.
Fazit
Während meiner emotionalen Entgiftungskur habe ich mal wieder so richtig meine Seele gespürt, denn es gab keine Wolken an meinem emotionalen Himmel, außer ein paar kleinen Wattewölkchen, die der Wind weiterblies. Außerdem habe ich mich in der aufregungsfreien Woche leicht wie eine Feder gefühlt und einige Situationen haben sich so toll entwickelt, wie lange nicht, einfach, weil ich in der Lage war, den Ball flach zu halten. Rolling with the punshes nennt man das, was ich da für mich wiederentdecke gerade: den Schlägen des Lebens ausweichen, mitgehen und nicht immerzu die Ego-Nase hinhalten. Geht doch!

Ups, ich bin im Darkroom!

Da war es plötzlich dunkel und finster. Mit 18 anderen Menschen in einem anderen Raum und niemand kann niemanden sehen. Darkroom. Am Tag zuvor noch die Vernissage im Atelierhaus Mols – explodierende Farben, Flashs im Sonnenlicht, STRANGE LOOPS. Da saß ich allein vor diesem Bild von Helga Mols, das mich so gefesselt hat. Geschwungene Bögen, zarte, geschichtete Lasuren. Ein feines Bild, ein Highlight, eine Stimmigkeit. Ich hatte das Glück, eine Weile allein sein zu dürfen mit diesem Bild. Durch die Fenster des Ateliers fiel Sonnenlicht. Auf der gegenüberliegenden Seite hing es. Ich hatte mir einen Stuhl in den Raum gestellt, hatte mich vor das Bild gesetzt und die Stimmen aus dem Nachbarraum weggeschaltet. LOOPS. Rekursive Prozesse. Wiederholung. Endlosschleifen. Ein einziges Leben. Das Bild strahlt eine tiefe Harmonie aus. Fein. Kraftvoll durch zarte Mittel.

Und nun plötzlich nicht das winzigste Partikelchen Licht, Farbe, Helligkeit. Mitten in der Fußgängerzone sind wir links in die Sonderbar eingebogen, wo wir schon erwartet wurden. Wir waren angemeldet zu diesem Trip in die Finsternis. Uaaahhhh! Tatsächlich war es zunächst etwas gruselig, in diesem Raum zu sitzen, in dem sich alles nur erahnen und ertasten ließ. Der Widerhall der Stimmen verrät, wo sich wer befindet und wie groß der Raum sein könnte. Mir ist merkwürdig zumute. Die Stimmen sind plötzlich so laut, meinen Ohren entgeht nichts. Meine Hand sehe ich vor Augen nicht.

Wir sind in Siegen im Dunkelcafé. Vor zwei Wochen hatte Jim Jugendfeier in der Schule. Das ist so eine Art freichristliche Konfirmation. Die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft, der Übergang von der Kindheit zur Jugendlichkeit. 13 Jugendliche hatten sich zwei Jahre lang auf die Feier vorbereitet. Ein Thema hatte den Unterricht begleitet: Blindheit. Zwei Mal war ein Blinder mit seinem Hund in den Unterricht gekommen und hatte erzählt und Fragen beantwortet. Zum Abschluss dieser zwei Jahre nun hat die Religionslehrerin einen Termin im Siegener Dunkelcafé verabredet. Das hat ein junger, blinder Mann aufgebaut, um Sehenden einen authentischen Einblick in Blindheit zu geben.

Wir haben dort gegessen und getrunken und den Geschichten Jans gelauscht. Wie es war, nach seinem Unfall blind zu sein, wie es ist, blind durch die Welt zu laufen, Beziehungen zu leben, Beruf und Alltag zu meistern. Wie Menschen auf ihn reagieren, wie er auf Menschen reagiert. Drei Stunden haben wir in der vollkommenen Dunkelheit verbracht. Als wir wieder ans Licht kamen, war das „Aaaah“ aller groß und breit. Was für eine Wohltat. Jim und ich haben die Religionslehrerin in unserem Auto nach Hause gebracht. Die Landschaft zu sehen, den Himmel, die Wolken, Bäume. Farben, Eindrücke. Die Schwärze der Dunkelheit zu verlassen.

Dank Jans Lockerheit haben wir viel gelacht. Er hat Trauriges aber auch viel Lustiges erzählt. Unter anderem Blindenwitze, wobei er uns zu verstehen gegeben hat, dass er die erzählen darf… Ich muss sagen, es war eine ganz schöne Herausforderung, diese Dunkelheit auszuhalten. Einige Male hatte ich echte Beklemmungen. Nicht zu wissen, wie der Raum aussieht und wo man sich genau befindet, hatte etwas von eingesperrt Sein. Unheimlich. Die Jungendlichen haben viel gelacht – „Boah, jetzt hat der mir die Cola über die Hose geschüttet.“ Es gab Pizza. Im Dunkeln von Jan serviert. „Wer die kleine Mozzarella bestellt hat, sagt mal bitte piep, piep, piep, piep.“ Alles so kompliziert. Besteck verteilen, Gläser weiterreichen, aus der Flasche im Dunkeln eingießen. Ich hatte wegen des Basenfastens einen Salat bestellt. War das kompliziert, da was auf die Gabel zu bekommen.

Am Ende haben wir den Raum im Dunkeln verlassen, damit wir das Bild der Dunkelheit bewahren. Wäre einfach das Licht angemacht worden, wäre der Eindruck weg gewesen. Die Farben hätten sich über das tiefe Schwarz gelegt. Ich kann euch empfehlen, diese Erfahrung mal zu machen. Ist wieder mal so eine Horizont erweiternde Sache und vielleicht ein weiterer Schritt in der Auflösung der Vorstellung, dass alles so ist, wie wir es glauben zu sehen.

Wer Jan und das Dunkelcafé in Siegen erleben möchte, findet hier weitere Infos.