Projekt Elaine 2

Sie heißt Cat. Nicht wirklich Cat und schon gar nicht Katze. Sie ist eine Frau. Ihre Eltern haben sie nicht nur Catherine genannt, sie haben sie auch so taufen lassen. Sie würde es gerne rückgängig machen, das Wasser von ihrem Kopf streifen. Wie so vieles ist auch das nicht möglich. Sie, Catherine, ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. In einer Villa am Rand einer Kleinstadt. Gründerzeit, großes Areal, Garten, Bäume, alter Baumbestand, wie Immobilienmakler es ausdrücken würden. Ein kitschiges Türmchen, als sei die Villa ein Schloss. Eine Freitreppe, als wäre alles vom Winde verweht. Feine bürgerliche Verhältnisse. Ihr Vater, ein Anwalt, ihre Mutter, eine erziehende Innenarchitektin. Ihre Eltern hatten sich auf der Uni kennengelernt, hatten geheiratet und waren ganz dicht beieinander getrennte Wege gegangen. Sei sahen glücklich aus, sie lächelten, strahlten und nur Catherine wusste, fühlte, erlebte was wirklich war. Sie konnte es nie in Worte fassen und kann es auch heute nicht. Zwei Menschen, die sich küssen, berühren und es im gleichen Augenblick nicht tun. Eine in Nähe, Enge erstarrte Unnahbarkeit. Haben ihre Eltern sie geliebt? Wahrscheinlich. Auf ihre Art. Sie, die einzige Tochter, die kleine Catherine, das brave Mädchen, die Musterschülerin, die Klavierspielerin, das Vorzeigemädchen mit den perfekten Manieren, die Außenseiterin mit den traurigen Augen, dem steinernen Blick, der Fähigkeit, in Eis gehüllte Blicke auszusenden. Das Mädchen, das es aushielt, den Finger in die Flamme zu halten, bis sich Brandblasen auftaten.

War sie eine Außenseiterin, weil sie in der Villa wohnte oder weil sie war, wie sie nun einmal ist? Fast ihre ganze Schulzeit hatte sie allein gesessen. Klassen mit ungeraden Schülerzahlen, da musste immer eine Bank allein besetzt werden. Catherine war diese Bank vorbehalten. Ein Erbe, ein Automatismus, eine Selbstverständlichkeit. Keine Gespräche zwischen Eltern und Lehrern, keine Versuche, eine, die draußen steht, reinzuholen in den Kreis. Sie war so weit entfernt von allen, dass sie nicht einmal Opfer böser Anmaßungen war. Keine Grenzübertritte, keine Schimpfworte. Sie existierte schlicht nicht, weil sie die Unantastbare war, die feine Tochter aus der Villa, die mit dem Blick.

Catherine hielt es aus. Gewöhnte sich vielleicht, genoss es teils. Einsamkeit inmitten eines riesigen Trubels, einer sich in Farben und Tönen drehenden Welt, die sie schwindeln ließ. Sie gewöhnte sich den nicht sehenden Blick an. Sie wollte ihre Augen schonen, nicht wahrnehmen, nicht empfinden. Die Sinne nicht über die Maßen strapazieren. Weil ihr in allen Fächern alles leicht von der Hand ging, kümmerte sich niemand darum, dass sie niemals sprach. Catherine hob nie die Hand, um sich im Unterricht einzubringen, sie sang nicht mit, sie sagte nicht “kann ich bitte auf die Toilette?”, sie stand einfach auf und ging, als sei sie ein Gespenst. Vielleicht war sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern einfach unheimlich, vielleicht haben sie sie tatsächlich mit der Zeit nicht mehr wahrgenommen. Wie einen Sessel, der Jahre unbenutzt herum steht und eines Tages wird er weggeräumt und niemand vermisst ihn. Plötzlich steht da ein Tisch oder ein Pflanze und es fühlt sich so an, als wäre es nie anders gewesen. Das ist der Blick auf Geschichte, die enge Wahrnehmung, die Lüge der Vergangenheit, die geschönte, glauben gemachte Wahrheit.

Die Nachmittage verbrachte sie für sich. In Ihrem großen Zimmer mit Blick in den Garten, in Ihr Paradies, den Ort Eden jenseits ihrer täglichen Wirklichkeit. Ihre Mutter kochte für Catherine, kaufte ihr Kleider, bastelte ihr Laternen für St. Martin. Sie bastelte nicht, sie designte. Entwarf wochenlang. Probierte Farben, Formen, Materialien. Sie hatte eine kleine Sammlung Design-Martinslaternen angehäuft, hatte sie in Schatullen verpackt in ihrem Atelier stehen, dem Zimmer, in das niemand ungefragt hinein durfte, eine Tabuzone, ein verbotener Ort. Catherine vermisste ihre Mutter nicht. Sie sprachen beide kaum. Saßen mittags beim Essen einander gegenüber und tauschten kaum Worte noch Blicke. Irgendwann hatte sich ihre Mutter angewöhnt, während des Essens Magazine zu durchblättern. Ein Ritual. Kurze Fragen. Wenige Augenblicke gegenseitiger Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Auffüllen der Teller, abtauchen in die eigene Welt, verschließen der Schleusen, abkapseln der Sinne.

Ihren Vater sah Catherine so gut wie nie. Sie hatte ihn überrascht mit einer anderen Frau im Atelier ihrer Mutter. Die war nicht zu Hause, besuchte eine Tagung, einen Kongress, irgendetwas mit Kunst oder Architektur oder Design oder alles zusammen. Mit ihrem Vater hatte sie einen Film gesehen, einen Film Noir, ein “Stück Kultur”, wie ihr Vater gesagt hatte. Sie war schlafen gegangen, hatte aber nicht schlafen können, war die große Treppe runtergekommen, hatte Geräusche gehört im Atelier ihrer Mutter und hatte ihren Vater zwischen den Beinen einer nackten Frau entdeckt. Sie traf den Blick ihres Vaters, ein hilfloses Zucken seiner Augen, seines Atems, seines Körpers, seines sich entladenen Schwanzes. Sie speicherte eine Schwaz-Weiß-Fotografie, einen Moment, ein Gemälde in unwichtigen Farben. In dieser Nacht fiel eine Schranke in das bereits herrschende Nichtverhältnis eines Vaters zu seiner Tochter Catherine. Ein tieferes Schweigen legte sich zwischen sie, das sich im Laufe der Zeit zu einer starren Kühle entwickelte. Ihrer Mutter sagte sie nichts, behielt ihr Geheimnis, das mehr eine Enttäuschung als eine Last war, für sich. Sie schrieb das Erlebnis in ihr inneres Tagebuch, das detaillierter und facettenreicher war als jedes von Teenagerhand beschriebene Buch voller dicht beschriebener Seiten. In sich hatte sie ein System etabliert, in dem sie Gefühle abspeicherte. Versehen mit den wenigen, für die Erinnerung wichtigen beschreibenden Fakten.

Was wäre aus ihr geworden? Was wäre geschehen, wenn sich der Lauf der Dinge nicht wie durch ein Wunder geändert hätte? Welche Bedeutung schon hat jetzt noch Spekulation. Es war in einem Sommer, in dem ihr Leben einen neuen Weg einschlug. Ein Tag, an dem sie wiedergeboren wurde. Voller Regen, voller tiefer, dunkler Wolken. Ein Tag, den sie nie vergessen hat, der in ihrem inneren Tagebuch markiert ist. Dieser Tag, und der andere.

(heute mal für Annegret aus bekannten Gründen)

Projekt Elaine.

Nur die rote, blinkende Lampe des Anrufbeantworters bringt Farbe in den Raum. Alles andere ist weiß. Der Boden aus weiß lasiertem Holz, die Ledercouch, der Ledersessel, der kleine Tisch mit dem weißen MACbook, der Schrank. Seit Stunden sitzt sie auf der Couch, sieht zu, wie sich das Licht im Raum verändert, wie die weißen Wände es zurückwerfen, tanzen lassen. Sieht wie und wo Schatten entstehen, die die wenigen Möbel verändern, ihnen neue Oberflächen geben. Auf dem Schrank wollte sie die Schatten mit einem Edding nachzeichnen. Den Augenblick festhalten, minütlich. Ein Muster des Tages. Sie will keinen schwarzen Edding mehr. Niemand hat ihre Nummer. Seit einem halben Jahr wohnt sie in dieser sündhaften teuren Wohnung über dem Fluss. Das Haus wie ein Kran daran gebaut. Die großen Fenster nach Osten ausgerichtet, in die aufgehende Sonne. Morgens schläft sie. Lange Nächte. Zu lange Nächte. Sie arbeitet an ihrem Projekt, ihrem Projekt.

Niemand hat ihre Nummer, den Anrufbeantworter hat sie einfach mitgenommen, aus Ordnungsgründen angeschlossen. Das Telefon benutzt sie so gut wie nie, ihre Rufnummer ist unterdrückt. Sie will so wenig wie möglich in Erscheinung treten. Wieso blinkt der Anrufbeantworter? Sie will ihn nicht abhören, will niemanden, den sie nicht eingeladen hat, in ihren weißen Raum lassen. Hier ist alles sauber, clean. Sie hat ihn selbst entworfen, hat jedes Detail lange geplant. Ihr größtes Problem war, die Elemente zu vereinen, ohne Farbe, irgendeine Farbe in den Raum zu lassen. Das Feuer, das Wasser, die Erde. Beim Feuer hat sie sich für eine kleine Flamme an der Wand entschieden. Ein schlichtes Brennerrohr ragt aus dem Mauerwerk. Die Gasflamme brennt seit ihrem Einzug Tag und Nacht. Die Erde hätte der Boden eines Bonsais sein sollen. Dann hätte sie die Farben Braun und Grün der Erde, des Stamms und der Blätter zulassen müssen. Das Problem hatte sie lange beschäftigt. Sie hatte telefoniert, gemailt, Meinungen eingeholt und sich zuletzt für einen weißen, etwa kniehohen Würfel entschieden, der mit japanischer Erde gefüllt ist. Die Erde ist nicht sichtbar, aber sie weiß, dass sie da ist. Das Wasser ist der Fluss draußen. Sie spürt ihn, den Strom, den übermächtigen Fluss, wegen dem sie diese Wohnung gewählt hat. Er nimmt alles mit, fragt nicht, ist immer da. Ihr Freund.
Sie kann den Anrufbeantworter nicht ignorieren. Sie möchte ihn aus der Wand reißen und in den Fluss schmeißen. Sie hatte die rote Lampe einfach übersehen. Der Anrufbeantworter ist weiß, selbst das Kabel ist weiß. Alles bis ins Detail durchdacht, kein Fitzelchen Farbe irgendwo. Bettwäsche, Pyjama, Tassen, alles, alles, alles weiß. Nur diese kleine LED nicht. Bevor es Nacht wird, muss sie etwas tun. Rotes Blinken akzeptiert sie nicht. Sie hat eine schwere Nacht vor sich, weil sie in ihrem Projekt an einen wesentlichen Punkt gekommen ist. Ihr Projekt ist ein Kunstprojekt. Eine Arbeit für ein großes Museum. Eine Ausstellung zum Thema Frau. Ihr Thema. Schon immer. Ihre Welt, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Zerrissenheit.
Sie fotografiert Frauen. In dieser Wohnung. Nur dann ist sie bereit, Farbe reinzulassen. Die Frauen, die sie fotografiert, dürfen das. Sie sitzen in dem schlanken weißen Ledersessel ihr gegenüber und reden. Manchmal die ganze Nacht. Sie spricht sie an. Draußen. Schon immer. In diesem Projekt ist sie einen Schritt weiter gegangen, hat sich an ihre Ängste heran getraut, ist an die Orte gegangen, die sie so sehr fürchtet. Seit zwei Monaten besucht sie nächtlich den Straßenstrich oder Bordelle. Anfangs war es hart. Sie wurde beschimpft, vertrieben. Als Perverse gesehen. Sie hatte in ihrem Bett gelegen, hatte geheult, sich gequält. Trotzdem war sie wieder hingegangen. Anfangs stand sie da, abseits, wie eine Außenseiterin. Oft war sie von Männern angesprochen worden, denen sie einfach immer nur “Verpiss dich” mit kaltem Blick entgegengeschleudert hat.
Nun hat sie die ersten Fotos. Marian hatte sie in die Szene eingeführt. Eine Studentin, die sie als Kundin gewinnen wollte. Sie waren ins Gespräch gekommen. Sie hatte sie bezahlt und mitgenommen. In ihre Wohnung. Marian hatte sich bereit erklärt, an dem Projekt teilzunhemen, auch wenn es sie als Prostituierte outen würde. Sie wusste eh nicht, ob das Studium und die Aussichten eines Abschlusses noch ihre Welt waren. Marian hat sie in die Szene eingeführt, hat sie den Frauen vorgestellt, hat den Zuhältern erklärt, dass es um Kunst geht. Wenn sie zahlt und es dem Geschäft nicht schadet. Heute Nacht würde sie Elaine mitnehmen. Die für sie faszinierendste Frau. Sie hatte sie auf der Straße, auf dem Strich fotografiert. Intensive Fotos. Ein Blick, ein Ganzes, ein kostbares, feinfühliges, starkes Ganzes. Sie war nur an den Gesichtern der Frauen interessiert. An den Gesichtern im Gespräch. Grundvereinbarung: Kein Leid, keine Ausbeutung, kein Dreck, kein Sex. Sie wollte keine Lebensbeichten, keine Seelenschau, kein Moralisieren.
Sie sucht. Bevor es dunkel wird, muss sie etwas unternehmen. Sie kann nicht mit Elaine zurückkommen und den Anrufbeantworter blinken sehen. Sie steht auf, zieht den Stecker, klickt das Telefonkabel aus der Buchse. Kein Blinken mehr. Sie öffnet das große Fenster und schleudert das Gerät samt Kabel in den Fluss. Ein schönes Bild. Wie ein Drachen im freien Flug, die Drähte als Schweif im Wind. Sie will es nicht mehr. Sie will es nicht mehr hören. Dieses andere Gerede. Schluss. Sie schließt das Fenster, bereitet sich vor für die Nacht. Geht zu Elaine.