Sie heißt Cat. Nicht wirklich Cat und schon gar nicht Katze. Sie ist eine Frau. Ihre Eltern haben sie nicht nur Catherine genannt, sie haben sie auch so taufen lassen. Sie würde es gerne rückgängig machen, das Wasser von ihrem Kopf streifen. Wie so vieles ist auch das nicht möglich. Sie, Catherine, ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. In einer Villa am Rand einer Kleinstadt. Gründerzeit, großes Areal, Garten, Bäume, alter Baumbestand, wie Immobilienmakler es ausdrücken würden. Ein kitschiges Türmchen, als sei die Villa ein Schloss. Eine Freitreppe, als wäre alles vom Winde verweht. Feine bürgerliche Verhältnisse. Ihr Vater, ein Anwalt, ihre Mutter, eine erziehende Innenarchitektin. Ihre Eltern hatten sich auf der Uni kennengelernt, hatten geheiratet und waren ganz dicht beieinander getrennte Wege gegangen. Sei sahen glücklich aus, sie lächelten, strahlten und nur Catherine wusste, fühlte, erlebte was wirklich war. Sie konnte es nie in Worte fassen und kann es auch heute nicht. Zwei Menschen, die sich küssen, berühren und es im gleichen Augenblick nicht tun. Eine in Nähe, Enge erstarrte Unnahbarkeit. Haben ihre Eltern sie geliebt? Wahrscheinlich. Auf ihre Art. Sie, die einzige Tochter, die kleine Catherine, das brave Mädchen, die Musterschülerin, die Klavierspielerin, das Vorzeigemädchen mit den perfekten Manieren, die Außenseiterin mit den traurigen Augen, dem steinernen Blick, der Fähigkeit, in Eis gehüllte Blicke auszusenden. Das Mädchen, das es aushielt, den Finger in die Flamme zu halten, bis sich Brandblasen auftaten.
War sie eine Außenseiterin, weil sie in der Villa wohnte oder weil sie war, wie sie nun einmal ist? Fast ihre ganze Schulzeit hatte sie allein gesessen. Klassen mit ungeraden Schülerzahlen, da musste immer eine Bank allein besetzt werden. Catherine war diese Bank vorbehalten. Ein Erbe, ein Automatismus, eine Selbstverständlichkeit. Keine Gespräche zwischen Eltern und Lehrern, keine Versuche, eine, die draußen steht, reinzuholen in den Kreis. Sie war so weit entfernt von allen, dass sie nicht einmal Opfer böser Anmaßungen war. Keine Grenzübertritte, keine Schimpfworte. Sie existierte schlicht nicht, weil sie die Unantastbare war, die feine Tochter aus der Villa, die mit dem Blick.
Catherine hielt es aus. Gewöhnte sich vielleicht, genoss es teils. Einsamkeit inmitten eines riesigen Trubels, einer sich in Farben und Tönen drehenden Welt, die sie schwindeln ließ. Sie gewöhnte sich den nicht sehenden Blick an. Sie wollte ihre Augen schonen, nicht wahrnehmen, nicht empfinden. Die Sinne nicht über die Maßen strapazieren. Weil ihr in allen Fächern alles leicht von der Hand ging, kümmerte sich niemand darum, dass sie niemals sprach. Catherine hob nie die Hand, um sich im Unterricht einzubringen, sie sang nicht mit, sie sagte nicht “kann ich bitte auf die Toilette?”, sie stand einfach auf und ging, als sei sie ein Gespenst. Vielleicht war sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern einfach unheimlich, vielleicht haben sie sie tatsächlich mit der Zeit nicht mehr wahrgenommen. Wie einen Sessel, der Jahre unbenutzt herum steht und eines Tages wird er weggeräumt und niemand vermisst ihn. Plötzlich steht da ein Tisch oder ein Pflanze und es fühlt sich so an, als wäre es nie anders gewesen. Das ist der Blick auf Geschichte, die enge Wahrnehmung, die Lüge der Vergangenheit, die geschönte, glauben gemachte Wahrheit.
Die Nachmittage verbrachte sie für sich. In Ihrem großen Zimmer mit Blick in den Garten, in Ihr Paradies, den Ort Eden jenseits ihrer täglichen Wirklichkeit. Ihre Mutter kochte für Catherine, kaufte ihr Kleider, bastelte ihr Laternen für St. Martin. Sie bastelte nicht, sie designte. Entwarf wochenlang. Probierte Farben, Formen, Materialien. Sie hatte eine kleine Sammlung Design-Martinslaternen angehäuft, hatte sie in Schatullen verpackt in ihrem Atelier stehen, dem Zimmer, in das niemand ungefragt hinein durfte, eine Tabuzone, ein verbotener Ort. Catherine vermisste ihre Mutter nicht. Sie sprachen beide kaum. Saßen mittags beim Essen einander gegenüber und tauschten kaum Worte noch Blicke. Irgendwann hatte sich ihre Mutter angewöhnt, während des Essens Magazine zu durchblättern. Ein Ritual. Kurze Fragen. Wenige Augenblicke gegenseitiger Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Auffüllen der Teller, abtauchen in die eigene Welt, verschließen der Schleusen, abkapseln der Sinne.
Ihren Vater sah Catherine so gut wie nie. Sie hatte ihn überrascht mit einer anderen Frau im Atelier ihrer Mutter. Die war nicht zu Hause, besuchte eine Tagung, einen Kongress, irgendetwas mit Kunst oder Architektur oder Design oder alles zusammen. Mit ihrem Vater hatte sie einen Film gesehen, einen Film Noir, ein “Stück Kultur”, wie ihr Vater gesagt hatte. Sie war schlafen gegangen, hatte aber nicht schlafen können, war die große Treppe runtergekommen, hatte Geräusche gehört im Atelier ihrer Mutter und hatte ihren Vater zwischen den Beinen einer nackten Frau entdeckt. Sie traf den Blick ihres Vaters, ein hilfloses Zucken seiner Augen, seines Atems, seines Körpers, seines sich entladenen Schwanzes. Sie speicherte eine Schwaz-Weiß-Fotografie, einen Moment, ein Gemälde in unwichtigen Farben. In dieser Nacht fiel eine Schranke in das bereits herrschende Nichtverhältnis eines Vaters zu seiner Tochter Catherine. Ein tieferes Schweigen legte sich zwischen sie, das sich im Laufe der Zeit zu einer starren Kühle entwickelte. Ihrer Mutter sagte sie nichts, behielt ihr Geheimnis, das mehr eine Enttäuschung als eine Last war, für sich. Sie schrieb das Erlebnis in ihr inneres Tagebuch, das detaillierter und facettenreicher war als jedes von Teenagerhand beschriebene Buch voller dicht beschriebener Seiten. In sich hatte sie ein System etabliert, in dem sie Gefühle abspeicherte. Versehen mit den wenigen, für die Erinnerung wichtigen beschreibenden Fakten.
Was wäre aus ihr geworden? Was wäre geschehen, wenn sich der Lauf der Dinge nicht wie durch ein Wunder geändert hätte? Welche Bedeutung schon hat jetzt noch Spekulation. Es war in einem Sommer, in dem ihr Leben einen neuen Weg einschlug. Ein Tag, an dem sie wiedergeboren wurde. Voller Regen, voller tiefer, dunkler Wolken. Ein Tag, den sie nie vergessen hat, der in ihrem inneren Tagebuch markiert ist. Dieser Tag, und der andere.
(heute mal für Annegret aus bekannten Gründen)