Projekt Elaine 7

Cat wachte mit einem sanften Gefühl auf. Die Nacht war unruhig. Begleitet von merkwürdigen Träumen. Sie war mehrfach aufgestanden, hatte etwas getrunken, war auf die Toilette gegangen, hätte sich gerne ans Klavier gesetzt und gespielt. Es war sehr früh am Morgen. Lange bevor Sie aufstehen musste. Die Sonne war im Begriff, aufzugehen, erste Strahlen durch die Bäume im Osten des Grundstücks in ihr Zimmer zu werfen. Die Vögel sangen seit geraumer Zeit, quietschten, schnatterten, jagten umher. Cat hatte das Gefühl. Diese Stimmung. Verletztlichkeit und die wissende Stimme. Dann konnte sie Dinge erahnen. Sehen. Fühlen, spüren. Nicht wie in einer Glaskugel, im Bild gelegter Karten. In ihr. Sie hätte es niemandem beschreiben können, sie behielt es für sich. Hatte nie jemandem davon erzählt. Diese Stimme war ihr wichtiger als andere Stimmen, Meinungen. Wissen. Darauf verließ sie sich. Ein Gespür. Nicht im Bauch, im Kopf. Im ganzen Körper. Mehr als ein Hauch, sie empfand eine Brise. An solchen Tagen fühlte sie sich verwurzelt, als stünde sie mitten in einem großen Wald auf einer sonnenbeschienenen Lichtung mit den nackten Füßen in einem Moosbett. Das Bild hatte sie manchmal vor Augen. Vor dem Aufstehen hatte sie es gespürt. Eine Wärme. Durch den Kopf, den Körper zu den Füßen hinaus. Eingebunden.
Sie ging ins Bad, wusch sich, sah in den Spiegel. Sie hatte die Haare und die Augen ihrer Oma geerbt, behauptete ihre Mutter. Sie hatte ihre Oma nicht mehr kennengelernt, sie war früh an Krebs gestorben. Ein unbehandelter Brustkrebs. Zu spät erkannt. Zu früh gestorben. Ihre Oma hatte auch diese hellgrünen Augen und das feine, glatte braune Haar. Auf den Fotos, die sie kannte, waren die Haare ihrer Großmutter bereits grau. Cat ihre Haare halblang, bis in den Nacken. Dazu ein Pony, hinter dem sie ihre Augen verstecken konnte, wenn es nötig war. Es war meistens nötig. Wenn andere, ihr fremde Menschen, und das waren fast alle, in ihre Nähe kamen. Die junge Frau, die an diesem Morgen in den Spiegel sah, war schön, auf ihre Weise schön, auch wenn sie selbst es so nicht wahrnahm. Es war ihr an diesem Morgen auch egal, weil sie mit dem Aufkommen des sanften Gefühls, wie sie es nannte, die Sicherheit gewann, diesen Tag, diesen besonderen Tag anzugehen. Bald würde sie Susanne sehen. Und nun wusste sie, dass sie Freundinnen werden würden, dass Susanne sie verstehen würde und umgekehrt. Sie hatte keine Zweifel mehr, ging zurück in ihr Zimmer, hing die am Abend zurecht gelegten Kleider zurück in den Schrank und wählte eine enge Jeans und einen schlichten schwarzen Wollpullover mit V-Ausschnitt. Keine Mode an diesem Tag, keine Allüren, kein Dresscode, kein Aufwand. Schlichtheit und Offenheit. Sie würde sprechen, sie hatte es gefühlt. Und Susanne würde antworten. Und es wäre da, das Band, die Ebene, die sie sich immer gewünscht und bislang nicht gefunden hat.

Lächelnd ging sie runter in die Küche, setzte Kaffee auf, altmodisch mit einem weißen Porzellanfilter und einer alten weißen Kaffeekanne. Ebenfalls aus Porzellan, feinem, dünnen Porzellan mit geschwungenem Ausguss und leicht bauchig gewölbtem Körper. Wie ihre Mutter erhitzte sie Evian im Wasserkocher, weil das heimische Wasser aus dem öffentlichen Netz hart und tot war. „Absolut unbrauchbar für das Kochen eines wirklich guten Kaffees“, wie ihre Mutter meinte. Cat hatte es ausprobiert und musste ihr zustimmen, auch wenn sie es für ein wenig snobistisch hielt. Aber wen störte es, außer vielleicht sie selbst. Ein wenig. Ohne auf ihre Mutter zu warten, ging sie los. Sie hinterließ einen Zettel. An diesem Tag wollte sie Gespräch am Morgen mit dem üblichen Austausch von Floskeln. Sie wollte ihr sanftes Gefühl bewahren, das sie nach außen stark, hart machte, das sie aber nur allzu schnell verlor, wenn die Welt auf sie einprasselte. Cat ging viel zu früh los, nahm den Weg durch die Stadt, verzichtete auf den Bus, auf ihren Platz in der Ecke hinter dem Fahrer. Sie ging am Fluss entlang, traf auf die Menschen, die ihre Hunde ausführten, im Park. Setze sich auf eine Bank, atmete tief, genoss ihre Zufriedenheit, den Moment, in dem ihre innere Waage austariert war. Ein schönes, unglaubliches Gefühl. Intensiv, offen. Als es Zeit wurde, zur Schule zu gehen, ging sie los und setzte ihre Füße schnell voreinander. Ein energischer Schritt, ein zuversichtlicher Rhythmus. Es würde gut gehen, sie hatte es gefühlt, sagte sie sich immer wieder. Alles.

Projekt Elaine 6

Irgendwann traf sie Bob, einen Fotografen. Einen schönen Mann. Einen, der tragen kann, was er will. Jeden Look. Einen mit Ausstrahlung. Einen mit diesem Lächeln, dem Blick der zarten Seele und der notwendigen Verruchtheit. Einen, der im richtigen Augenblick den richtigen Satz sagt. Einen mit schwarzen Punkten auf der Seele. Genügend Mann und immer noch genügend Junge. Sie hatte in einem alten Bunker gekellnert, um sich das wenige Geld zu verdienen, dass sie hier brauchte. Das Wochenende allein reichte inklusive der Trinkgelder fast zum Leben. Die Miete war lächerlich gering. Den Rest verdiente sie mit Jobs, die sich überall auftaten. Umzüge, Modell stehen, Wände streichen. Irgendwer hatte immer irgendeinen kleinen Job. Es gab viel zu tun. Bob hatte sie im Bunker angesprochen, weil er Models suchte, um die Kollektion eines Freundes, eines Designers zu fotografieren. Frauenkleidung aus alten Uniformen geschneidert. Martialisch, figurbetont, wild. Kurze Faltenröcke aus Filz kombiniert mit Fliegerjacken und schweren Stiefeln. Er beschrieb ihr den Job, sagte, dass sie ihm aufgefallen sein, wegen ihrer Größe und dem ungewöhnlich schönen Gesicht.

Er hatte es ernst gemeint. Sie hatten sich nach ihrer Schicht verabredet, waren über den Prenzlauer Berg gezogen, hatten sich auf Wodka geeinigt und waren in ihrem Bett gelandet. Am nächsten Tag hatten sie sich gegenseitig gepflegt. Er hatte am frühen Nachmittag Kaffee gekocht, sie hatte Aspirin besorgt. Sie waren wieder im Bett gelandet, konnten nicht genug kriegen. Lagen sich in den Armen, waren verzaubert, verliebt.

Sie wurde sein Model, seine Muse, seine Begleiterin. Emmi war im Westen angekommen. Anfangs verstand sie nicht, weshalb ihr Leben so gar nichts mit dem zu tun hatte, was sie erwartet hatte. Föderalismus, Bundestag, Mittelgebirge. Nichts davon bekam sie zu Gesicht. Stattdessen eine Stadt ohne Grenzen, einen Ort, der sich selbst erfand. Voller Geschichte, die zu fühlen war. Die aber nur benutzt wurde, um Neues zu schaffen. Ein bunter Baukasten mit Versatzstücken, Zeitfetzen. Material. In den Kneipen wurde Brecht gelesen, Heiner Müller. In Rap-Form, begleitet von selbstgezimmerten Instrumenten. Geschrien. Hammond-Orgeln, kleinen Posaunen, Töpfen, Tonbandgeräten. Mit unterlegten Beats. Eingebettet in aufkommenden Techno. Electronic. Pillen. Emmi nahm es als Zirkus, als Theater, als real existierende Fantasiewelt. Das Bunte trennte sie vom Kaputten. Sie blickte ins Licht. Dieses Deutschland gefiel ihr. Ein Märchenland jenseits kapitalistischer Zwänge. Nichts durchgerechnet, betriebswirtschaftlich optimiert. Wer eine Wohnung brauchte, konnte sich eine suchen. Wer ein Theater eröffnen wollte, der tat es. Ohne Kalkulation, wirtschaftlichen Zwang als Pistole an der Schläfe. Aufbruch, Morgendämmerung, Freiheit.

Bobs andere Frauen störten sie nicht. Manchmal war er einfach weg. Kurz vorher hatte er sie noch geküsst, hatte sie umarmt, ihr Liebe ins Ohr geflüstert. Dann hat er sich in Luft aufgelöst. War vom Set verschwunden, von Partys, aus ihrem Zimmer. Ein Getriebener, einer, der den Kick sucht, der ihn braucht, der das Adrenalin im Blut spürt und liebt. Sie verstand es nicht, konnte das nicht nachfühlen. Manchmal gab es Streit, wenn er sein Spiel zu offensichtlich, zu gefühllos, zu provokant trieb. Er hatte versucht, es ihr zu erklären. Dass er als Fotograf in dieser Zeit an diesem Ort nicht gewöhnlich sein kann. Dass er raus muss, das Leben an die Grenzen treiben, mit der Gefahr spielen, mit der Lust. Nur dann könne er kreativ sein, könne Ungewöhnliches schaffen, könne abheben, sich aus Mustern lösen, seine tief verwurzelte Spießigkeit überwinden. Er sagte, er würde es mit Neil Young und Curt Cobain halten, der sich gerade mit einer Schrotflinte den Kopf weggeschossen hatte: „It’s better to burn out, than to fade away.“

Es war ihr nicht egal, aber fraß sie auch nicht auf. Sie war froh, ihn zu haben. In Teilen zu haben. Komplett hätte sie ihn wahrscheinlich nicht ertragen. Die Pausen gaben ihnen die Möglichkeit, zusammen zu sein. Sie musste nicht mehr kellnern, teils hatte Bob lukrative Jobs aufgetan. Mainstream. Sie modelte ab und an für Marken, wurde hofiert, bekam für ein Shooting Geld für einen ganzen Monat. Als sie schwanger wurde, sie war sich fast sicher, dass Bob der Vater war, hatte sie genug Geld für ein Jahr. Sie zog sich aus dem wilden Leben zurück, durchstreifte die Stadt, erinnerte sich an ihren Vater, besuchte Museen, saß in feinen Cafés, lernte kochen, wurde häuslich und wurde es nicht. Wie sie sich auf dieses Kind freute. Ihr Kind. Ein Neuanfang ihrer Familie. Ein Leuchten. Es war ein Mädchen. Bei der Geburt weinte sie. Bob war nicht da. Aus einem Impuls heraus gab sie ihrer Tochter, gegen die Namensgebungsgewohnheiten der Szene, den Namen ihrer Mutter: Susanne.

Projekt Elaine 5

Nach der Wende, als die Mauer in Berlin gefallen war und sich der kalte Krieg in die neuen Konflikte der Welt aufzulösen begann, kam sie aus Prag. Sie wollte die komplette Wende, die Ablösung ihrer Vergangenheit durch einen gleichsam globalen und individuellen Wandel. In Prag gehörte sie der deutschen Minderheit an. Ihr Leben lang hatte sie sich dort als Fremde gefühlt, als eine Deutsche unter Tschechen, obwohl sie beide Sprachen akzentfrei sprach. Ihr Vater sagte „Eines Tages werden wir frei sein, werden dieses Land verlassen und nach Deutschland gehen.“ Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater sie noch intensiver deutsch erzogen, hatte sie nach der Schule, nach dem Unterricht in tschechischer Sprache, unterrichtet. Hatte mit ihr die Klassiker gelesen. Er erklärte ihr den Aufbau der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, das föderalistische Prinzip, die Aufteilung in Bund und Land, in Bundestag und Bundesrat. Sie kannte das Grundgesetz, das Wahlrecht. Die geografischen Gegebenheiten, die Mittelgebirge und Ebenen, die Flüsse und Seen, die großen Städte und die Geschichte. Er wollte sie vorbereiten auf einen Tag, an dem sie Tschechien verlassen konnten. Dann sollte sie so weit sein, sollte wissen, was auf sie zukommt und wie das Leben dort im Westen Deutschlands funktioniert. Ihre Mutter war früh an Krebs gestorben, da war sie, Emmi, zehn Jahre alt. Ihr Vater gab dem Sozialismus die Schuld am Tod seiner Frau, er zerbrach, verweigerte sich innerlich, kappte die Verbindung zur Welt und konzentrierte sich darauf, seiner Tochter eine Bildung jenseits des sozialistischen Systems geben zu können.

Als die Wende kam, war ihr Vater bereits ein Jahr tot. Er hatte sie herannahen sehen, hatte bis zu letzt gehofft und musste doch vorher kapitulieren. Das Herz setzte aus, Bypässe und ein Schrittmacher wurden gesetzt, es half nicht. Sie hatte trotz Doppelbelastung ihr Abitur geschafft und wollte studieren, als die Grenzen geöffnet wurden. Sie war allein, hatte wenige Freunde. War ungebunden. Sie jobbte in Kneipen als Kellnerin, schlief ab und an mit Männern, deren Lächeln ihr gefiel. Sie wollte Spaß, wollte Lachen, eine Sehnsucht befriedigen. Es gelang ihr nicht. Obwohl es in Prag brodelte, die Veränderung überall Einzug hielt, plötzlich so vieles möglich war, sie wollte weg. Die Stadt war ihr zu grau, zu grimmig, zu sehr vom Alten besetzt.

Sie wollte nur für ein Wochenende fahren. Nach Berlin. In die kommende Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Es war ihr nicht klar, ob sie wegen ihres Vaters fuhr oder aus ihrem eigenen Verlangen nach Veränderung heraus. Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal. Ihre Eltern waren tot, der Sozialismus begraben, ihre Vergangenheit war wie ausgelöscht. Für sie gab es nur noch Gegenwart und Zukunft. Sie stand am Anfang eines neuen Lebens. Sie wollte Tschechien nicht aufbauen, kein Teil eines Neuanfangs werden. Es war ihr egal. Sie wollte leben.

Berlin erreichte sie per Bahn. Sie hatte ihren Koffer gepackt und war losgefahren. Wahrscheinlich würde sie nicht zurückkommen. Sie hatte ein gutes Gefühl, ein wildes Gefühl. Als sie in Berlin eintraf, lächelte sie. Sie konnte bei einer Tschechin, die sie flüchtig kannte, am Prenzlauer Berg unterkommen. Wohnraum gab es genug. Sie hatte ein großzügiges Zimmer für sich allein in einer Altbauwohnung. Sie landete inmitten einer neuen Kultur der Projekte. Jedes Ladenlokal wurde zu einem Atelier, einer Galerie, zur Schaltzentrale eines Aktionsbündnisses. Hinterhöfe wurden besetzt, Werkstätten, Hallen umfunktioniert. Szenekneipen schossen wie Pilze aus dem Boden. Discotheken in Kellern, Bars, Clubs. Mit Lizenz, ohne Lizenz, egal. Keinen kümmerte es. Es war ein riesiger Tummelplatz entstanden, ein von den Behörden im Wendengewimmel nicht zu beherrschendes Chaos. Freiraum, Möglichkeiten, Inspiration, Leidenschaft, Enthusiasmus allerorten. Und Emmi mittendrin. Sie hatte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität Germanistik studieren wollen. Das war ihr grober Plan, den sie sich in weiteren Facetten nicht ausgemalt hatte. Aber dazu kam es nicht, dazu ließ ihr die Stadt keine Zeit. Sie hielt sie im Osten, am Prenzlauer Berg, lockte sie, rief. Sie blieb.

Projekt Elaine 4

Am Sonntag vor dem großen Tag, dem ersten Schultag Susannes in ihrer neuen Schule, dem Tag, an dem Cat sie das erste Mal sehen würde, löste sich Cats Verkrampfung. Die Schnur zog sich von ihrem Hals, sie hatte das Gefühl, wieder frei atmen und denken zu können. Die Lethargie war eingeschlafen, hatte sich in die Höhle zurückgezogen. Beim gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern lächelte sie still. „Bist du wieder da?“, fragte ihre Mutter zögerlich. „Ein wenig.“ Mehr konnte und wollte sie nicht sagen. „Wieso, wo war sie denn?“ „Lass. Bitte. Lass. Es ist gut so.“ Ihr Vater verstand nichts, wollte vielleicht nichts verstehen, konnte nichts verstehen.

Den Nachmittag über räumte sie ihren Kleiderschrank aus und ein. Probierte jede Hose, jeden Rock, jedes Kleid, jede Bluse, jedes Hemd. Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt. Hatte in den vielen Kunst-, Design- und Fotobüchern ihrer Mutter jenen nüchtern androgynen Stil entdeckt, der Farben reduziert, auf Arabesken verzichtet und aus jeder Naht eine definierte Linie macht. Für ihre Mutter war es nicht leicht, mit ihr einzukaufen. Kaufhäuser, Jeansläden, H&M und all die Ketten und Shops, wo sich Menschen ab der Pubertät mit ihrem Styling versorgen, passten nicht. Cat kaufte in Boutiquen. Die kleinsten Größen, 34 und 36, passten ihr. Sie war mittelgroß und schlank mit langen, dünnen Armen und Beinen. Ihr dunkelblondes Haar trug sie kurz mit steifem Seitenscheitel. Streng durchgestuft, keine wirren Strähnen oder aus der Form hervortretenden Haarbüschel. Ihre bevorzugte Farbe war schwarz. Schwarze Blusen, schwarze V-Pullover, schwarze T-Shirts. Immer in strenger Form, ohne Schnörkel, keine Muster, keine Überflüssigkeiten. Klar in Form und Farbe. Zu streng für ihr Alter, zu anspruchsvoll, zu wenig bereit, Kompromissbereitschaft auszudrücken. Ihre Mutter ließ sie gewähren, lief mit ihr durch die Boutiquen, hätte ihr gerne Ratschläge gegeben oder kommentiert. Einmal hatte sie eine farbige Bluse gesehen, hatte sie genommen und Cat in die Umkleidekabine gereicht. „Schatz, probier die doch mal. Nur mal probieren. Die ist so schön und würde das Blau deiner Augen hervorheben.“ Cat hatte sie aus der Kabine rausgeschleudert. Auf den Boden. Eine sündhaft teure Bluse irgendeines bekannten Labels. Die Verkäuferin hatte sie aufgehoben. Schweigen im Raum, stille Peinlichkeit, unausgesprochenes nicht miteinander Können.

Sie hatte den großen Spiegel unten im Flur, direkt rechts neben der Freitreppe, von der Wand abgehangen und in ihr Zimmer geschleift. Ihre Mutter hatte helfen wollen, aber Cat wollte alleine schleppen. Der morgige Tag war für sie der wichtigste in ihrem Leben, glaubte sie. Deshalb wollte sie es richtig machen. Wollte bei ihrem ersten Aufeinandertreffen passend aussehen. Sie wählte eine einfache, sündhaft teure Jeans und eine enge, körperbetonte Bluse in schwarz. Sie versuchte ein wenig so auszusehen, wie andere Mädchen ihres Alters auch. Sie wollte sich nicht abheben, sondern diesen ersten Kontakt auf gleicher Ebene, Auge in Auge geschehen lassen. Sie würde ein ganz wenig Make-up auftragen. Sie würde einen teuren, dezenten Duft ihrer Mutter tragen, den sie an sich ausprobiert hatte, der ihr das Gefühl gab, dem Draußen ein wenig von ihr selbst zu erzählen.

Wie würde Susanne sein? Ein ganz normales Mädchen, eines, wie die anderen ihrer Klasse? Eine, die sich nicht für sie interessieren würde? Sie hatte den Spiegel die Treppe wieder hinuntergetragen und musste ihre Mutter bitten, ihr beim Aufhängen behilflich zu sein. Sie wusste, dass ihre Mutter sich fragte, was sie da oben gemacht hat und hoffte inständig, dass sie nicht dieses verschwörerische Mutter-Tochter-Lächeln der Kategorie Ich-weiß-Bescheid aufsetzen würde. Sie tat es nicht. Die Kleidung für den nächsten Tag hatte sie fein säuberlich auf einen Stuhl gelegt. Mit der Hand war sie darüber gefahren als wollte sie sagen „Wir schaffen das schon.“ Sie lächelte, setze sich an ihr Fenster, blickte in den Garten und versuchte sich Susanne vorzustellen. Gerne hätte sie geträumt, hätte sich Bilder einer Freundschaft ausgemalt, hätte einen Kitschfilm Mädchenfreundschaft in ihrem Kopf ablaufen lassen. Aber es kamen keine Bilder, kein Film. Ihr wurde warm und kalt, sie bekam Angst. Wenn Susanne sie einfach nicht beachten würde. Wenn sie einfach von den anderen der Klasse umringt und auf deren Seite gezogen würde. Wenn sie nicht stark genug wäre, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen. Sie wusste, sie würde sprechen müssen. Am nächsten Tag musste sie aus ihrer Hülle raus und in die Welt treten. Was sie nicht wusste, war, wie die anderen in der Klasse reagieren würden. Ob es heißen würde „Wow, hört mal, es kann sprechen.“ Sie versuchte sich vorzubereiten, mental zu rüsten. Ihre größte Sorge war es, dass sie in Tränen ausbrechen würde.

Die Nacht über konnte sie kaum schlafen, weil zu viel auf dem Spiel stand. Dieser kommende Tag würde über so vieles entscheiden, da war sie sich sicher. Es wäre die Entscheidung zwischen Erlösung und fortdauernder Verzweiflung, zwischen einem Hauch Glück und einem langsamen, stetigen Untergang. Irgendwann in der Nacht stand sie auf, ging die Treppe herunter, um sich in der Küche einen Saft aus dem Kühlschrank zu holen. Aus dem Atelier ihrer Mutter kam Licht, die Tür stand einen Spalt geöffnet. Cat ging hin, sah ihre Mutter am Schreibtisch sitzen. Wie gerne hätte sie sie angesprochen, hätte gesagt „Mama“. Sie konnte nicht, sie wusste nicht, wie. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihre Mutter ansprechen sollte. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank, schloss ihn und ging ohne Saft zurück in ihr Zimmer, um sich hinzulegen und sofort einzuschlafen.

Projekt Elaine 3

Die Lehrerin hatte es vor den Sommerferien angedeutet. Es kommt eine neue Schülerin, ein Mädchen aus der Stadt, aus Berlin. In der Klasse wurde getuschelt, es gab Gerüchte. Berlin, Drogen, Sumpf, Moloch. Cat hörte die Kommentare in den Pausen, das Flüstern. Merkwürdigerweise war ihr diese neue Schülerin nicht gleichgültig. Von Anfang an nicht, als die Lehrerin, Frau Saalbach, von ihr erzählte. Sie hatte gesagt “Die neue Schülerin heißt Susanne Schuhmacher. Ihre Mutter zieht aus beruflichen Gründen hierher und wir werden Susanne aufnehmen, als hätte sie schon immer in diese Klasse gehört. Ich erwarte Kollegialität, Unterstützung und Freundlichkeit. Ihr wisst, was ich meine. Von Anfang an, keine Spielereien, keine testenden Provokationen. Ihr seid in einem Alter, in dem das möglich sein muss”. Ihre Mutter. Sie hatte gesagt, dass die Mutter aus beruflichen Gründen herzieht. Und der Vater? Hatte Susanne einen Vater? Noch nie waren Cat wegen einer Mitschülerin, sogar wegen einer, die noch gar nicht da war, so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Sie lächelte und ihre Lehrerin fragte gleich “Catherine, ist etwas mit dir?” Die Klasse horchte auf. Sie war angesprochen worden. Würde sie reden? Den Gefallen wollte sie niemandem tun, sie wollte ihr Schweigen nicht brechen, ihre Isolation nicht aufgeben, ihren Panzer, den Schutzraum, das Innere des Igels nicht verlassen.

Cat war aufgeregt. Es war ihr unerklärlich. Sie flog in den Ferien mit ihren Eltern auf die Kanaren. Der Vater hatte von einem Anwaltskollegen, den er aus Studienzeiten kannte, ein Haus am Meer gemietet. Luxuriös mit vielen Zimmern, Pool, Garten und eigenem Weg zu einer kleinen Sandbucht. Cat versuchte, sich abzulenken, nicht an die Neue, an Susanne, zu denken. Es gelang ihr kaum. Ihr Vater war wieder so gut wie nie da. Er nutzte die Gelegenheit, zu golfen. “Das ist für mich die pure Entspannung, wo ich sonst doch immer arbeite und so viel um die Ohren habe. Einmal im Jahr brauche ich das. Ich hoffe, ihr habt Verständnis?” Ihre Mutter nickte. Cat war es egal. Sie wollte eh lieber allein sein. Am Strand, am großen Felsen. Einfach dort liegen und denken. Es war eine neue Situation. Sie entdeckte in sich das Gefühl von Hoffnung. Es könnte sein, dass da ein Mensch kommt, der sie versteht. Der sie beachtet, ihr vielleicht sogar nah sein will. Sie hatte Angst, so zu denken. Es stand zu viel auf dem Spiel. Wenn sie nun ein Konstrukt errichtete, ein übergroßes Gebäude, dass dann zusammenbrechen würde. Was wäre dann? Was würde sie dann tun? Es war nicht auszudenken, allein der Gedanke schmerzte, drohte Risse in ihr Inneres zu treiben.

Nach den Ferien war keine Susanne da. “Sie kommt nächste Woche erst, weil in Berlin die Ferien später begonnen haben.” Sie hielt es kaum aus, war nervös, fahrig, launisch wie nie. Schrie ihre Mutter an, schleuderte einmal sogar ihr Mittagessen vom Tisch, weil ihre Mutter gefragt hatte “Cat, was ist mit dir los?” Sie war weinend in ihr Zimmer gelaufen, hatte sich eingeschlossen und sich so abhängig gefühlt. Von ihrem Inneren, von ihren Wünschen, von ihrer Verletzlichkeit. Sie hatte eine Vorstellung, eine Fatamorgana in sich herein gelassen, hatte wie beim Glücksspiel alles auf eine Karte, eine Zahl gesetzt.

Den Rest der Woche hatte ihre Mutter sie in der Schule krank gemeldet. Cat saß in ihrem Zimmer, schaute aus dem Fenster in den Garten und sah den Septemberregen kommen. Zu allem Überfluss verstärkten tiefe dunkle Wolken über der Stadt die dunkle Stimmung. Sie saß dort, bewegte sich nicht, sah den Regen an den Scheiben runter laufen, aß wenig. “Cat, ich weiß, du willst nicht reden, aber du musst. Was ist los?” Cat schwieg. Sagte kein Wort, blieb einfach teilnahmslos sitzen. Wieder verließ ihre Mutter das Zimmer, weil sie die Spannung im Raum nicht ertrug. Dann kamen die Tränen. Cat weinte und weinte. Warf sich aufs Bett, vergrub sich in den Decken und schlief und schlief.