Projekt Elaine 12

In der Schule wurde es für Susanne und Cat schwieriger. Während Cat früher, vor Susannes Auftauchen, einfach mehr oder weniger unbehelligt in ihrer Bank saß und ihr Außenseitertum stoisch pflegte, wurde die Bank der beiden nun zu einer Provokation. Cat schwieg weiterhin, hielt ihren Status, Susanne positionierte sich als kritische Stimme. Sie ging keinen Millimeter auf irgendwen zu. Im Gegenteil. Sie ging allen aus dem Weg, hielt sich an Cat. Wirkte fast arrogant. Im Unterricht war sie nicht bereit, irgendetwas hinzunehmen und ging keiner Diskussion aus dem Weg. Ihr Mantra war das Hinterfragen von Aussagen. Wo sie ein Klischee witterte, eine allgemein, akzeptierte Meinung, ein dahin gesagtes Argument, intervenierte sie. Vor allem bei Beiträgen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. „Woher weißt du das? Das ist doch jetzt einfach nur so gesagt, weil alle das so sagen. Hast du vorher mal nachgedacht?“

Oft wurde sie gemaßregelt, sie möchte ihren Ton mäßigen und in der Diskussion konstruktiv bleiben. Das fiel ihr schwer. Gleichwohl hob sie den Unterricht auf ein neues Niveau. Wer etwas sagen wollte, antizipierte automatisch Susannes Kritik. Es kam zu Meinungsschlachten, die ihr gleichzeitig Respekt und Feindschaften einbrachten. Nach wenigen Wochen hatte sie es geschafft, sich ebenfalls als Außenseiterin zu etablieren. Selbst diejenigen in der Klasse, die inhaltlich auf ihrer Seite standen, die ihre Argumente und Meinungen unterschrieben hätten, selbst denen stieß sie vor den Kopf. Es wäre ihr wie ein Verrat an ihrem bisherigen Leben vorgekommen, sich hier zu etablieren. Weitere Freundschaften zu knüpfen, die über die zu Cat hinausgingen. Sie wollte auf keine Partys eingeladen werden, sich nicht nachmittags verabreden oder sich abends in Kneipen treffen. Sie lehnte jegliche Kontaktaufnahme strikt ab. Susanne sehnte sich nach ihrem Berlin, nach der Schnodderigkeit, nach den Ideen, nach dem Ungewöhnlichen, dass hinter jeder Ecke wartete. Sie wollte hier nicht ankommen. Ihr fiel die Decke auf den Kopf, fühlte sich, als wäre sie in die Falle gegangen, hatte nur Cat und ihre Mutter. Die anderen aus der Klasse begannen, von der Hexenbank zu sprechen. Von den beiden verrückten Lesben, die es in der Villa am Stadtrand miteinander trieben. Einmal stand in dicken schwarzen Edding-Lettern LESBEN quer über die Bank geschrieben. Sue hatte die Lehrerin gerufen und hatte laut gesagt „Hier steht Lesben. Scheinbar gibt es in dieser Klasse feige Menschen, die ein Problem mit Homosexualität haben. Wenn mir jemand was zu sagen hat, dann kann er das jetzt und hier tun oder er soll einfach die Fresse halten.“ Es war eine Sozialkundestunde bei Frau Saalbach, die Sue eindringlich ermahnte. „Susanne, ich kann deinen Ärger verstehen, auch ich heiße es nicht gut, was hier geschehen ist. Dennoch möchte ich dich bitten, deinen Ton zu zügeln und deine Ausdrucksweise zu korrigieren. Bitte setz dich.“ Die weitere Stunde wurde aus dem aktuellen Anlass heraus genutzt, gleichgeschlechtliche Liebe zu thematisieren. Doch niemand traute sich, eine der Homosexualität gegenüber ablehnende Position einzunehmen. Letztlich wurde es eine Geschichtsstunde, in der geschichtliche Fakten von der Verfolgung im dritten Reich über die Abschaffung der Strafverfolgung bis zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften zusammengetragen wurden. Cat und Sue ließen die schwarzen Lettern stehen. Für sie war es kein Affront, es war ein Symbol ihrer Freundschaft. Manchmal nun begrüßte Sue Cat am Morgen mit einem fröhlichen „Hi Lesbe.“ Susanne wusste, wer die sechs Buchstaben auf ihre Bank geschrieben hatte, aber es war ihr schlicht egal. Während sie gesagt hatte, „der soll einfach die Fresse halten.“, hatte sie ihm direkt ins Gesicht gesehen, so dass jeder in der Klasse Bescheid wusste. Die folgende Stunde war für denjenigen ein einziges Spießrutenlaufen gewesen. Zu weiteren öffentlichen Affronts kam es in der Folge nicht. Ab und an wurden Susanne auf dem Gang kleinere Beleidigungen zugezischt oder es gab den einen oder anderen Rempler ganz aus Versehen, aber letztlich waren die Karten verteilt. Susanne war es recht, Cat auch.

Im folgenden Winter gab es kaum einen Nachmittag, den sie nicht in Cats Zimmer verbrachten. Ein Antlantiktief nach dem anderen ließ Regen und Wind durch die Stadt und um das Haus peitschen. Die kahlen dunklen Äste der Bäume vor dem Fenster ließen das Draußen unfreundlich, fast gruselig erscheinen. Drinnen sorgte ein großer Stahlheizkörper für wohlige Wärme, es gab keinen Grund, das Haus öfter als nötig zu verlassen. Cats Mutter genoss es, die beiden im Haus zu haben, auch wenn sie im Zimmer nicht geduldet war. Brachte sie Tee mit Keksen oder Kakao mit Kuchen hinauf, kam meist nie mehr als ein knappes Gespräch zustande, weil Cat die Konversation mit einem „Mama, wir müssen jetzt lernen!“ abbrach. So, als wolle sie ihre Freundin nicht teilen. Cats Mutter war froh, dass ihre Tochter Sue hatte. Denn Cat veränderte sich. Wurde normaler, altersgerechter. Sue schleifte sie regelmäßig ins Kino, um sich mit ihr Hollywood-Blockbuster anzusehen. Anfangs fand Cat die Storys platt und das Ende immer so vorhersehbar. Aber von Film zu Film war sie mehr bereit, sich einfach fangen zu lassen. Sue hatte ihr den Trick verraten. „Du darfst das nicht ernst nehmen und du darfst nicht, niemals nach dem Sinn oder der Botschaft fragen. Die ist genauso genommen fast immer Kacke. Schön ist einfach nur das Gefühl und das, was die Clooneys, Jolies, Depps, Pitts, Bridges & Co. auf die Leinwand zaubern. Das ist schön. Einfach gucken, keine Gedanken machen. Unterhaltung.“ Das fiel Cat zunächst schwer. Mit ihren Eltern hatte sie viele Avantgarde-Klassiker gesehen. Europäisches Arthouse-Kino, die amerikanischen Wilden.

Etwas war Cat an Sue aufgefallen. Es gab ein Tabuthema. Sues Mutter. Manchmal hatte Cat gefragt, ob sie am Nachmittag nicht auch einmal zu Sue nach Hause gehen sollten. Sue hatte immer gleich geantwortet: „Nein.“ Dieses „Nein“ hatte Cat akzeptiert. Sie hatte einfach angenommen, dass Sue ihre Gründe hätte. Doch mit der zeit bekam sie Sues Mutter gegenüber ein schlechtes Gewissen. Auch, weil Sue nun öfter bei ihr schlief und dann auch abends nicht Zuhause war. Sie wollte nicht, dass da ein komisches Verhältnis entsteht, dass Sues Mutter das Gefühl entwickelte, ihre Tochter würde ihr weggenommen, vorenthalten. Cat hatte angefangen, nach Sues Mutter zu fragen. „Ich würde sie gerne kennen lernen.“, sagte sie an einem dieser Nachmittage, an denen sie in Cats Zimmer lernten, Sues Musik hörten und über den vergangenen Tag in der Schule redeten. Es war wie ein zweiter Unterricht, in den sich Cat am Nachmittag einschaltete. Oft hatte sie am Morgen in der Schule die Diskussion verfolgt und sich eine eigene Meinung gebildet. Hier, in ihrem Zimmer, Sue gegenüber, vertrat sie die Meinung dann. Fasste sie in Worte. Sue hatte gegenüber Cat nicht das Verlangen, sie in Grund und Boden zu argumentieren und an die Wand zu drücken. In Sues Augen hatte Cat schräge Ansichten. Überhaupt kein Mainstream, eine ganz eigene Sicht der Dinge. Für sie waren es oft Meinungen wie aus einem Paralleluniversum. Mit einem komplett anderen Fundament. Auf diese Gespräche ließ sie sich gern ein, auch weil sie sie an Zaos Andersartigkeit erinnerten. Auf ein Gespräch über ihre Mutter dagegen, ließ sie sich nicht ein. Anfangs hatte Cat das akzeptiert, nun wollte sie wissen, was los ist. Es kam ihr merkwürdig vor. Sie wollte nicht, dass sich Sue wegen ihrer Mutter oder wegen einer kleineren Wohnung oder wegen was auch immer schämte. Sie spürte hier eine ungewöhnliche Distanz. Einen Graben, ein Tabu, das sie nicht verstand, dass sie aber zunehmend störte. An einem Nachmittag fasste sie sich ein Herz. „Sue, ich weiß, du willst darüber nicht sprechen. Aber ich will. Weshalb darf ich deine Mutter nicht kennen lernen? Weshalb versteckst du sie?“ Sue lag auf dem Jugendstilsofa, schloss die Augen. Sie spürte, dass es Cat ernst war, sie nicht ausweichen konnte. „Weshalb kannst du nicht einfach alles so lassen, wie es ist?“ „Weil du auch nie irgendetwas so lässt, wie es ist? Wer ist denn hier die, die immer nachfragt? Die keinen Stein auf dem anderen lässt? Die jedem predigt, er solle mal genauer hinsehen und nachdenken?“ Vor ein paar Monaten noch, da war das Mädchen, das dort auf ihrem Bett lag, eine Betonwand gewesen, dachte Sue. Anfangs war ihr selbst ein Gespräch über das Wetter zu intim. Und nun versuchte Cat, in sie einzudringen. Sue wollte ihr nicht länger ausweichen, auch wenn sie Angst hatte vor dem, was sie Cat sagen würde. Trotzdm entschied sie sich, es zu tun. „O.K., Cat. Hör zu, ich kann es dir nicht genau sagen. Wahrscheinlich ist es so, dass dich meine Mutter sofort mögen würde. Und dann würde sie sich hier vielleicht noch wohler fühlen. Das will ich nicht. Ich will zurück. Unbedingt. Ich will hier nichts vermischen, was sich dann nicht mehr auflösen lässt.“ Cat schluckte, sah auf ihren Warhol, in das Gesicht von Josph Beuys und sagte: „Kannst du jetzt bitte gehen. Ich möchte allein sein.“

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine 11

Projekt Elaine 11

Bald wurden Susanne und Cat von ihren Mitschülern spöttisch die Twins genannt. Cat hatte Susanne vom ersten Tag an für sich vereinnahmt und Susanne hatte sich gerne vereinnahmen lassen, um nicht das Gefühl zu haben, an diesem ungeliebten Ort anzukommen. Cat war für sie ein nicht definierter, freier Raum. Irgendetwas zwischen ihrem bisherigen Leben in Berlin und der neuen Wirklichkeit in dieser Kleinstadt mit Fluss. Ein Luftschutzbunker, in dem sie die Zeit überdauern konnte, eine Rettungsinsel. Mit Cat fühlte sie sich wohl, umgekehrt war es genauso. Für Cat war es ein komplett neues Leben, das sich in allem anders anfühlte – vom Aufwachen am Morgen bis zum Einschlafen. Sie hatte tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Freundin. Einen echten Menschen an ihrer Seite, eine Gleichaltrige. Eine, die sie nahm, wie sie war. Vorsichtig näherten sie sich.

Susanne ertappte Cat ab und an dabei, wie sie sie anstarrte. Als wollte sie mit einem mikroskopischen Blick in sie eintauchen. Sie sagte dann „Cat, du starrst wieder.“ Cat entschuldigte sich dann, Susanne lächelte, schüttelte den Kopf oder sagte „Du spinnst.“ oder Ähnliches. Cat musste Freundschaft geradezu lernen. Manchmal machte sie sich tagelang Gedanken über Szenen, die zwischen ihr und Susanne passiert waren. Alltagsszenen, in die sie Bedeutung legte. Susanne nannte sie manchmal Kaspar Hauser der Neuzeit. „Sag mal, wo warst du die letzten Jahre? Auf dem Mond? Cat! Wenn ich sage Leck mich, dann ist das ein Spruch. Verstehst du? Das haut man raus. Ohne Nachdenken, ohne Hintergedanken. Das heißt nicht Verpiss dich, ich will nie wieder mit dir sprechen. Klar? Das bedeutet nichts. Oder einfach was anderes. Weiß nicht. “ Nach solchen unvorhersehbaren Zwischenfällen kam es dazu, dass sich Cat zurückzog. Dass sie Zuhause blieb, nicht in die Schule ging, an der Freundschaft zweifelte und sich nach ihrer alten Isolation zurücksehnte. Sie hatte dann das Gefühl, dass es ein Fehler war, den eigenen Schutzpanzer aufzugeben, sich anzuvertrauen. Für Susanne war es das Problem, mit Cat nicht streiten zu können. Ihren Freundinnen in Berlin hatte sie einfach Dinge an den Kopf knallen können. Schimpfwörter gehörten zur Alltagssprache, waren Teil der normalen Kommunikation. Cat dagegen reagierte sensibel, teils extrem empfindlich. Manchmal ging sie plötzlich weg, ohne dass Susanne gewusst hätte, weshalb. Cat grübelte nach solchen Eklats in ihrem Zimmer. Als wolle sie als Menschenforscherin einen fremden Stamm in einem fernen Land erkunden, näherte sie sich dem, was für alle anderen scheinbar so normal war. Sie hatte jahrelang in einer Raumkapsel gelebt. Fernab in unbewohnten, unbelebten Sphären. Manchmal war es Susanne ganz recht, ein wenig Abstand zwischen sich und Cat zu fühlen, weil ihr die Nähe unheimlich wurde. Sie wollte keine Abhängigkeit, keinen Anker in das Hier und Jetzt werfen, der sich am Grund dieser Stadt festkrallte. Sie hoffte, die Stadt bald wieder zu verlassen. Ihre Mutter hatte das Thema Rückkehr auf die No-Go-Liste gesetzt. Sie weigerte sich, mit Susanne darüber zu diskutieren und Susanne wusste, dass sie nur mit ihrer Mutter zurück nach Berlin konnte. Zao suchen, finden. Wenn er wenigstens ein Handy gehabt hätte, aber dann wäre er eben nicht Zao gewesen. Bei ihrem Vater zu wohnen, war keine Alternative. Sie wusste, wo das enden würde. Morgens nicht aufstehen, keine Schule, keine Gewohnheiten, kein regelmäßiges Essen, Zähneputzen, Erinnern an Termine, Klassenarbeiten, Arztbesuche. Sie brauchte ihre Mutter. Noch.
Nach ein, zwei Tagen meist rief Cat an. Es entstanden merkwürdige Gespräche, in denen sie die Situation, in der das jeweilige Missverständnis oder was auch immer entstanden war, detailliert reflektierte. Gedanken aus Stunden, Theorien, Annahmen drangen aus dem Hörer. Susanne hörte zu. Konnte es nicht fassen, wie kompliziert die Dinge sein können. Anfangs versuchte sie die Missverständnisse aufzuklären. Einfach zu sagen „Hey, Cat. Das hatte nichts zu bedeuten. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Verstehst du? Sorry.“ Aber das verkomplizierte nur noch mehr. „Du wolltest nicht? Aber warum machst du das dann? Ich verstehe das nicht. Du sagst es und meinst es nicht so? Woher soll ich dann wissen, wann du etwas so meinst, wie du es sagst und wann nicht?“ Susanne ging dazu über, sich auf Cats Theorien einzulassen, ihr zuzuhören. Meist ging es dann zu wie in einem linguistischen Seminar. Susanne erklärte Wortbedeutungen, Konnotationen. „Wenn ich das so sage, dann bedeutet das nicht, dass ich das so meine. Leck mich ist weder eine Aufforderung zu tatsächlicher körperlicher Berührung noch ist es der Versuch, dir vor den Kopf zu stoßen oder dich zu beleidigen. Du musst auf den Tonfall hören. Wenn mich ein Typ anbaggert, ich ihm einen Korb gebe und der dann blöd kommt, dann hau ich ein gelangweiltes Leck mich raus. Wenn ich das zu dir sage, ich weiß, das hört sich jetzt komisch an, dann ist das eine Freundschaftsbekundung. Ich sage dir: Ich mag dich, wir gehören zusammen. Und weißt du was? Das meine ich auch so.“ In solchen Augenblicken herrschte meist Schweigen am Telefon. Für Cat war es das Umschwenken vom einen Extrem ins andere. „Ja. Ich glaube, ich verstehe. Wahrscheinlich lässt sich das dann so nicht sagen. Sehen wir uns morgen?“ „Ja, Cat, wir sehen uns morgen. In alter Frische, Darling.“ „Ja, in alter frische Darling.“ Lachen am Telefon, lächeln. Annäherung zweier Kulturen. Neuland für beide, ein aufeinander Zugehen. Stück für Stück füllten sie einen Teil ihrer Sehnsucht aus, lernten, wurden einander ähnlicher, schufen sich eine gemeinsame Sprache, ein Verstehen, eine Susanne-Cat-Kommunikation. Cats Panzer riss tiefer ein. Ging ihr das zu schnell, zog sie sich zurück, als scheue sie das Feuer, als warte da irgendetwas, das nicht an sie heran dürfe. Tatsächlich hatte sie Angst davor, enttäuscht zu werden. Was wäre, wenn Susanne plötzlich wieder weg wäre? Zurück nach Berlin gehen würde, weil ihre Mutter es sich anders überlegt hätte? Oder Susanne hätte plötzlich keine Lust mehr, sie zu treffen oder ihr Selbstverständlichkeiten aus dieser anderen Welt zu erklären. Wurde die Angst zu groß, bleib sie für sich in ihrem Zimmer. Sagte Susanne ab, vertröstete sie, wand sich, spielte Klavier, blätterte in ihren Bildbänden oder ging zu Jérôme.

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine (Teil 10)

Das Zimmer war groß, hatte für ein Mädchenzimmer luxuriöse Ausmaße. Cat hatte es in einer Mischung aus modern und alten Möbeln eingerichtet. Ihre Mutter hatte sie unterstützt. Von der Tür aus fiel der Blick geradeaus durch die Fenster des Erkers in den Garten, unter den beiden Sprossenfenstern rechts des Erkers stand Cats Bett, ein japanisches Bett ohne Rahmen. Der Futon auf einem flachen Tatami, einer Matte aus Reisstroh. Rechts an der Wand, neben dem Bett, stand ihr Klavier, ein altes deutsches Modell mit Rennermechanik und tiefem Klang. Ein Erbstück, eine kleine Kostbarkeit, ein Bechstein. In die Mitte der Wand links hatte sie ihr Jugendstilsofa, auch ein Erbstück. gestellt. Kitschig elegant verschnörkelt mit neuem Samtbezug. Auf dem Boden rund ums Zimmer waren, an die Wand gelehnt, Cats Schätze, ihre Bücher, aufgereiht. In der Mehrzahl Bildbände, Kunstbände. Viele Renaissance-Klassiker und noch viel mehr Contemporary Art, moderne Architektur und modernes Design. Über dem Jugendstilsofa hing eine Original Andy Warhol Lithografie. Joseph Beuys, Cats Kunstidol, mit Hut und festem Blick, in nummerierter Auflage. Ihre Mutter hatte die Lithografie über Umwege und einen befreundeten Galeristen besorgt. Es war Cats Konfirmationsgeschenk, ihr Stolz, die Seele ihres Zimmers. Ganze Nachmittage verbrachte Cat damit, in ihren Kunstbänden zu lesen. Selbst traute sie sich nicht, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, oder einen Stift, eine Bleistift, einen Marker. Im Atelier war alles vorhanden. Ihre Mutter hatte es ihr oft angeboten. „Wenn du malen willst, zeichnen, Ideen hast, dann steht dir mein Atelier jederzeit offen. Geh runter, geh rein, nimm was du brauchst. Papier ist im Schrank, Stifte und Maluntensilien in den Schubladen. Ich würde mich freuen, einmal etwas von dir zu sehen. Dein Kopf muss voller Bilder sein. Lass sie raus, Catherine.“ Cat reagierte nicht auf das Angebot ihrer Mutter, sie ignorierte es. Sie. Nach außen. In ihr tobte längst ein Kampf. Gerne hätte sie es ausprobiert. Aber sie hatte einen besonderen Ehrgeiz entwickelt, eine Vorstellung von Perfektion. Sie wollte nicht kopieren, nicht einfach an Themen anschließen, sie aufnehmen, variieren. Sie wollte ihre eigene Kunst.

Susanne hatte einige der Bücher durchgesehen. Sie dachte, wenn sie die Bücher verstehen würde, wüsste sie ein wenig mehr. Mehr über Cat. Kunst war ihr gleichzeitig eine so nahe und so fremde Welt. In Berlin war ihr überall Kunst begegnet. Alle machten Kunst, fast alle. Sue nicht, sie war davon umgeben, begab sich aber nicht in diese Welt. Zao war Künstler. Sue hatte Zao vor ihrer Abreise, ihrem Wegziehen aus den Augen verloren. Lief er ihr sonst einfach über den Weg, war er nun wie vom Erdboden verschwunden. Sie hatte, vor allem als der Umzugstermin näher kam, rumgefragt. War in die Galerien gegangen, in denen Bilder oder Skulpturen von Zao ausgestellt waren. Niemand wusste, wo er war. Niemand war beunruhigt, denn es war scheinbar normal, dass er auftauchte und abtauchte. Allgemeiner Tenor war, er wäre irgendwo in einem Atelier hängen geblieben. Zao hatte keine feste Adresse, keinen Wohnsitz, keinen Festnetzanschluss oder ein Handy. Er war unerreichbar. Das hatte Sue so an ihm fasziniert. Zao war ein wenig älter, etwas über Zwanzig vielleicht. Genau konnte Sue das nicht einschätzen und sie hat ihn auch nicht gefragt. Das hätte keinen Sinn gehabt, weil er ausweichend geantwortet hätte. „Weiß nich“ oder „Hab ich vergessen“ oder „Interessiert nich“. Was sie von ihm wusste, war, dass er Sohn vietnamesischer Einwanderer war. Das hatte sie während einer Vernissage in einer Galerie am Prenzlauer Berg auf einem Zettel gelesen. Die Galerie hatte drei Arbeiten Zaos ausgestellt. Großformatige Ölbilder. Niemand wusste, wie die Galerie es geschafft hatte, drei Bilder zusammen zu bekommen. Zaos Bilder entstanden spontan. Zumindest in der Umsetzung. Er tauchte irgendwo in der Stadt im Atelier eines Künstlers auf und fragte, ob er malen könne. Seine Pinselmappe hatte er dann dabei und alles Zubehör für den Zusammenbau eines großen Rahmens. Anfangs hatten die Künstler ihn aus Mitleid bei sich malen lassen, hatten ihn für einen Spinner gehalten. Als Zaos Bilder dann größer wurden, eine eigene Sprache, Welt, entwickelten, wurde die Szene aufmerksam. Erste Galerien versuchten, sich Zaos zu sichern. Das war nicht einfach, weil Zao kein festes Atelier hatte. Seine Werke waren verstreut. Manchmal hatte er sie einfach zurückgelassen. Als Bezahlung, als Ateliermiete. Einfach so. Wortlos. Er hätte die Bilder sowieso nirgends aufbewahren können, er hatte keine feste Bleibe, keinen dauerhaften Unterschlupf. Mit dieser Art zu leben passte er zu der Stadt, die das Ungewöhnliche liebte, das Schräge. Einer, der Kunst macht, sich aber nicht um sie schert.

Zaos Bilder bekamen einen Wert. Einige Sammler hatten angefangen, zu recherchieren und aufzukaufen. Die Preise waren noch nicht hoch, weil die Unsicherheit zu groß war. Zao war nicht fassbar, nicht stringent vermarktbar. Wie hätte man Interviewtermine vereinbaren sollen? Andererseits machte das Geheimnis, das ihn umgab, spannend. Er entzog sich. Als Sue ihn zum Abschied suchte, war er wie vom Erdboden verschwunden.

Blätterte sie in Cats Bildbänden, musste sie an Zao denken. Sie hatte sich in ihn verliebt, in den merkwürdigen Vietnamesen, der mit so wenigen Menschen sprach. Wenn er sie sah, hatte er sie angelächelt. Mit leichten Grübchen. Ein kleines Lächeln, das für ihn schon eine große Geste war. Sie waren teils so etwas wie ein Paar gewesen. Gerade so eng aneinander gebunden, wie Zaos Art, die Dinge, das Leben zu sehen und leben, es zuließ. Jetzt, wo er weg war, wo sie weg war, wusste sie, dass sie ihn liebt. Er fehlte ihr so. Die Sehnsucht, das Gefühl im Bauch, die Verzweiflung, hier in dieser fremden Stadt gefangen zu sein. Ihn womöglich nie wiederzusehen. Hatte er sie verlassen oder hatte sie ihn verlassen? Manchmal wurde ihr übel vor Angst. In Cats Zimmer war sie Zao nah. Wegen der ihr unbegreiflichen Kunst, wegen Cat.

Projekt Elaine (Teil 9)

„Wie hast du es ausgehalten, nur dort zu sitzen und nie etwas zu sagen?“, fragte Susanne. Es war ein Spätsommertag und Cat und Sue waren nach der Schule in die Villa gegangen, um sich gemeinsam zurückzuziehen und zu lernen. Die Sonne stand auf der anderen Seite des Hauses, so dass es einigermaßen kühl und angenehm im Zimmer war. Für Sue war das alles immer noch neu. Sie war jetzt seit einem Monat in dieser Stadt und fast genauso lange kannte sie nun Cat, aus der sie nicht schlau wurde. Wie konnte man so sein? In der Öffentlichkeit sprechen, keinen Kontakt aufnehmen, der Welt den Rücken zukehren. Sue zog das an. Nach dem Kennenlernen im ersten Blick vorne in der Schulbank, diesem viel zu lange dauernden Moment, hatte sie Freundschaft geschlossen. Ihrer Mutter hatte sie erzählt, dass es in der Klasse ein Mädchen gebe, das ein wenig Großstadt sei, ein wenig Berlin, Geheimnis, verrückt, anders. Das hatte Sue von Anfang an gefallen, auch wenn sie vieles nicht verstehen konnte. Ab und an versuchte sie mit Fragen etwas zu erfahren, meistens liefen die Fragen ins Leere. Als wüsste Cat nicht zu antworten, als würde sie es selbst nicht wissen. Oder als wolle sie einfach nichts sagen.

Cat antwortete nicht auf Sues Frage. Sie lag auf ihrem Bett und hörte der Musik zu. Musik, die sie bislang nicht kannte oder zu der sie bislang keinen Zugang hatte. Sue hatte ihren USB-Stick mit ihren Favorites mitgebracht und in die Anlage gesteckt. Per Random-Play wühlte sich die Anlage durch Sues Musikgeschmack. Nichts Aktuelles, nur Songs der Vergangenheit. Siebziger, achtziger Jahre. Eurythmics, Iggy Pop, Prince und Verqueres wie Ton Steine Scherben. Cat genoss dieses neue Leben, das mit Sue Einzug gehalten hatte. Sie wollte langsam vorgehen, um nicht überrollt zu werden. Vieles ging ihr zu schnell, war zu radikal, hatte den Speed der Großstadt. Sue wollte alles auf einmal, wollte Cat begreifen. Cat wollte das nicht zulassen, weil es zu viel war. Sie hatte sich entschlossen, ihre Betonmauer nicht aufzugeben. Sie wollte Sue gerne herein lassen, aber nur in kleinen Dosen, in Schritten, die sie vertrug. Kamen Sues Fragen, antwortete knapp, ausweichend oder gar nicht. So war das Zusammensein aufregend, herausfordernd und teils auch merkwürdig. Dennoch oder gerade deshalb genossen es beide. Sie fühlten sich im Gleichgewicht, ausgewogen in dem, was sie waren und wofür sie standen. Keine war stärker oder überlegen, beide hatten ihr Geheimnis, ihren Bereich, in den sie die andere nur langsam herein ließen. Auch Cat hatte viele Fragen im Kopf, die sie nur sporadisch stellte. Sie genoss es, Sue Stück für Stück kennenzulernen. Sie wollte dieses neue Leben zelebrieren, weil es ihr so wertvoll war. Sie wollte die Kontrolle behalten, um nichts zu zerbrechen. Irgendwann war in ihr der Impuls, den nächsten Schritt zu gehen und wieder eine kleine Frage der Annäherung zu stellen.

„Sue, wo hast du diese ganze Musik her?“ Cat, die auf dem Rücken und mit dem Kopf am Fußende ihres breiten Bettes lag, setzte sich auf, sah Sue an, die es sich auf dem Jugendstilsofa, ihrem Lieblingsplatz der letzten Wochen, bequem gemacht hatte. „Gekauft, von Freunden, aus dem Netz gesaugt, von meinem Vater. Der hat ’ne riesige CD-Sammlung mit lauter Seventies- und Eighties-Kram in seinem Studio. Die totale Musik-Bibliothek.“ antwortete Sue. „Weißt du, ich kann mir dein Leben in Berlin so gar nicht vorstellen. Wie hält man es aus in einer Stadt, in der so viel passiert. Wie schafft man es, den Kopf frei zu halten und diese ganzen Menschen und Eindrücke zu wegzupacken.“ Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Sue lächelte, schloss die Augen, ließ ihr Berlin, ihre Erinnerungen vorbeiziehen. „Weißt du, da war jeder Tag anders. Plötzlich warst du aus irgendeinem Grund in einem anderen, total anderen Teil der Stadt. Bewegung. Immer was los. Ideen. Und meistens lief mir irgendwo Zao über den Weg. Das war manchmal komisch, als hätten wir uns angezogen. Weißt du, Zao ist ein wenig wie du. Da hab ich auch nie hintergeblickt. Aber wenn er plötzlich da war, in der U-Bahn, in ’nen Club rein kam, dann hat sich was verändert. Die Welt wurde besser. Für mich. Heller, weicher. Kann ich gar nich beschreiben.“

Projekt Elaine (Teil 8)

Cats Zimmer war zu ihrer Zuflucht geworden, nachdem sich Cats Vermutung, dass sie und Susanne Freundinnen werden würden, auf den ersten Blick bestätigt hatte. Susanne verbrachte seither einen Großteil ihrer Zeit in der Villa am Stadtrand. Manchmal schlief sie auf dem großen, alten Jugendstilsofa in Cats Zimmer. Als Susanne das erste Mal in die Klasse kam, eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn, war sie von allen beäugt worden. Die Neue. Sie hasste das Gestarre in dem Augenblick, die oberflächlich bewertenden Blicke, den ersten zählenden Eindruck. Was wussten all diese Augen schon von ihr. Die Lehrerin begrüßte sie, winkte sie nach vorne, um sie der Klasse vorzustellen. „Du bist Susanne Schuhmacher. Darf ich vorstellen, eure neue Mitschülerin. Setz dich vorne zu Catherine und dann komm erst einmal an. Herzlich willkommen.“

Cat hatte nicht gestarrt, hatte nach dem Klopfen an der Tür, dem Öffnen der Tür nur gehört und empfunden. Sie wollte Susanne spüren, sie mit ihrem stärksten Sinn empfangen. Sie brauchte zunächst kein Bild, ihr war es egal, wie Susanne aussah. Sie spürte, dass ihr Susanne nah sein würde. Als sie dann vorne stand, war Cat dennoch von ihrem Äußeren verblüfft. Sie hatte eine andere erwartet, schob den ersten Blick aber beiseite. Ihr war Susannes Äußeres egal. Wirres, abstehendes blondes Haar, intensive blaue, geschminkte Augen, T-Shirt mit einem Bandnamen, eine wilde Kette, Armreifen, schwere Stiefel, kurzer Rock, Umhängetasche. Berlin. Susanne setzte sich neben Cat, sagte „Hi, ich bin Sue.“, gab ihr die Hand und sah sie intensiv an. Cat konnte sich nicht entscheiden, etwas zu sagen oder die Hand zu greifen, ihr Schweigen in der Klasse zu durchbrechen. Sie nahm sich eine halbe Ewigkeit, tauchte in ihr Gegenüber ein, spürte nach, sagte nichts. Susanne schaute zurück, hielt dem Blick stand, wusste den merkwürdigen Blick dieses merkwürdigen Mädchens nicht zu deuten. Der Blick war zu intensiv für ein erstes Aufeinandertreffen, für eine Höflichkeitsphase, in der man sich gegenseitig mit Namen vorstellt. Für sie war es komisch, mit diesem Blick gescannt zu werden und sich nicht unwohl zu fühlen. Sie war auf diesen Blick nicht vorbereitet, sie hatte nicht gewusst, dass dort ein Mädchen sitzen würde, das auf sie gewartet hat. Sie war vollkommen neutral in diese Klasse gekommen. Vielleicht mit einem Hauch Skepsis, mit der Unlust, der von ihr unterstellten unliebsamen Bürgerlichkeit dieser Kleinstadt, dieses netten verschlafenen Nestes, in Berührung zu treten. Sie hatte Berlin nicht verlassen wollen, wäre lieber zu Bob, ihrem Vater, gezogen. Sie hatte Zao suchen wollen, der verschwunden war, den sie nirgends hatte finden können, bevor sie ging. Nicht einmal verabschieden hatte sie sich können. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie mitkommt, dass sie mit ihr Berlin verlässt, um Berlin zu entkommen. In Cats Gesicht zeigte sich keine Regung. Sie starrte nicht, obwohl ihr Blick wie ein Starren aussah. Susanne empfand eine überraschende Intensität, mit der sie an diesem Ort nicht gerechnet hätte. Der Unterricht ging weiter, als sich die beiden immer noch ansahen. Susanne ließ es zu. Zog ihre Hand zurück, hielt dem Blick stand. Deutschunterricht, die Wiedervereinigung, Texte der Bewegung rund um die Leipziger Nicolaikirche.