Wer sind wir und wenn ja wie viele?

Ich kam vom Sport, setzte mich ins Ofenzimmer und ließ den Tag ausklingen. Ela putzte sich die Zähne, küsste mich zur Nacht und ging schlafen. Da saß ich allein mit den Gedanken und der Welt. Versöhnt, in Frieden. Dort hätte ich sitzen können, an alles mögliche denken, tat ich aber nicht.

In der Post des Tages war das magazin der kulturstiftung des bundes herbst/winter 2011 (könnt ihr hier kostenlos bestellen: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek/magazin/bestellen/index.jsp). Vom Format und vom Papier her eine Zeitung. Der Bund hat also eine Stiftung, die Kultur fördert. Das ist ja äußerst positiv. Noch positiver ist, dass sich diese Stiftung tatsächlich engagiert kümmert. Gedanken macht. Das ist aktuell ein großer Luxus und wichtiger denn je.

Weshalb? Ich muss ausschweifen. Bis 1991 studierte ich an der RWTH Aachen unter anderem Internationale und Technische und Wirtschaftliche Zusammenarbeit (ITWZ). In diesem Fach ging es um Entwicklungspolitik. Wir beschäftigten uns intensiv mit den Fragen der Zukunft und wie wir auf diesem Planeten zukünftig leben wollen. Das wurde für mich irgendwann sehr frustrierend, weil die einzige Antwort auf die drängenden Fragen war: Mehr Wachstum. Ein Hase- und Igelrennen. Schaffen wir es, durch technologischen Fortschritt die zentralen Probleme in den Griff zu bekommen. Schneller zu sein als die Veränderungen, die den Planeten belasten? Das war schon vor 20 Jahren nicht absehbar. Die Probleme haben eher exponential zugenommen.

Mittlerweile wissen wir, dass unser Denken in eine Sackgasse geführt hat. Wir haben es bislang nicht geschafft, zentrale Probleme auch nur im Ansatz zu lösen: Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung. Als ich 1965 geboren wurde, lebten 3,5 Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es 7 Milliarden, 2050 werden es 9 Milliarden sein.

9 Milliarden Menschen, die essen, trinken, lernen, heizen, autofahren und fliegen möchten. Wir werden diese 9 Milliarden Menschen über unser Wachstumskonzept nicht ausreichend versorgen können. Nicht mit unserem heutigen Konzept der internationalen Konkurrenz und des bislang scheinbar unverzichtbaren wirtschaftlichen Wachstums. Ein Beispiel, das Tim Jackson im Artikel mythen des wirtschaftswachstums im besagten Magazin des Bundes anführt: Die Kohlendioxidreduzierung bis 2050. Um die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten, verlangt das International Protocol of Climate Change (IPCC) eine Reduzierung der weltweiten Emissionen um 80 % bis 2050. Gibt es nun bis 2050 wirtschaftliches Wachstum, das versucht, dann 9 Milliarden Menschen in einem westlichen Lebensstil zu nähren, wie bitteschön soll dann dieses Ziel erreicht werden? Tim Jackson: “Durch dieses einfache Gedankenexperiment wird deutlich, dass die Dekarbonisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten eine riesige Aufgabe darstellt. Man beötigt eine 130-fache Reduktion der Kohlenstoffintensität innerhalb der nächsten 40 Jahre.” 130-fach. Wer Lust hat, kann mal schauen, was aktuell weltweit an Einsparung erzielt wird… Steht bestimmt im Netz.

Nach mir die Sintflut, dann werde ich bald tot sein. Also: Shit happens, who care? Leider lässt mich das nicht los. Und leider reicht es im Rahmen dieses Themas nicht, auf ein paar Flüge zu verzichten. Der Kohlendioxiddruck nimmt mit wachsender Weltbevölkerung und der rasanten Industrialisierung weiterer Volkswirtschaften extrem zu. Hinzu kommen: Müllprobleme, Wasserknappheit, Verwüstungstendenzen. Wer die entsprechende Literatur liest, bekommt eher schlechte Laune. 2005 durfte ich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung fünf Forscher des Projektes GLOWA – Globaler Wandel des Wasserkreislaufes interviewen, um diese Broschüre texten zu können. Ich kann nur sagen: Probleme über Probleme…

Was ist nun am Ende des Tages die Lösung? Wachstum ist es nicht. Die treibt uns in Konkurrenz und Wettbewerb und Wettkampf. Und kämpfende Menschen sind erbarmungslos und greifen zu fast jeder Waffe, weil sie sich ständig angegriffen fühlen. Globalisierungsdruck. Angst vor den Chinesen. Angst vor den “hereinflutenden” Afrikanern. Angst essen Seele auf, Angst ist ein schlechter Berater.

Was nun also ist zu tun? Im ersten Schritt: Denken, nachdenken. Die Wissenschaft hat hier einige interessante Denkansätze, wie es mir scheint. Bestellt euch das besagte Magazin und lest nach. Plötzlich spielen dort Gesellschaftswissenschaften und sogar Kunst wieder eine Rolle, weil wir aktuell spüren, dass uns die Beherrschung durch die Betriebswirtschaftslehre, das Primat des finanziellen Denkens, ins Chaos führt. Das Denken der BWL greift nicht weit genug, findet nur auf der Ebene des Wirtschaftens und nicht des Zusammenlebens statt.

Wir haben eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die durch die Vereinten Nationen 1948 verabschiedet wurden. Wir haben in Deutschland einen ersten Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wie werden wir die Würde des Menschen im Jahr 2050 schützen? Ernst nehmen?

Das geht nur durch Wandel. Durch Umbau. Letztlich werden wir uns neu aufstellen müssen. Wachstum kann nicht mehr das Kriterium Nummer eins sein, dem alles untergeordnet ist. Wir brauchen Fortschritt: Im Denken und technologisch. Es haut nicht hin, dass wir immer mehr haben möchten. Unsere Kleiderschränke sind voll, an Geburtstagen hoffen wir, nicht zu viel geschenkt zu bekommen, weil wir eh alles haben. Mehr als das. Sperrmüll wäre mal wieder gut. Was uns fehlt, ist soziales Miteinander. Bereitschaft, zu teilen. Davon haben wir zu wenig. Ein echter Mangel. Bruttosozialglück statt Bruttoszialprodukt. Es geht um das Modewort Nachhaltigkeit. Auf gesellschaftlicher Ebene – ein Begriff der siebziger und achtziger Jahre. Wir müssen Gesellschaft neu erfinden. Wir müssen neu denken. Wir müssen andere Prioritäten setzen. Wir brauchen Visionen, Utopien. Diskussionen. Alle wissen: So kann es nicht weiter gehen. Also ist es Zeit zu schauen, wie es weitergehen kann. Das besagte Magazin führt in diese Diskussion ein, zeigt, dass es längst Menschen gibt, die weiterdenken, die Lösungsansätze entwickeln, die an der Zukunft arbeiten. Nun liegt es an uns, ein neues Denken in unsere Köpfen fernab der Klischees zu implementieren. Und dieses Denken in die Welt zu tragen.

Nach den frölichen Beiträgen der letzten Tage nun wieder Ernsthaftiglkeit. Sorry. Ich kann nur über das schreiben, was mir begegnet. Gestern Abend war es dieses spannende Magazin mit seinen ungewohnt langen Artikeln, die wirklich lesenswert sind. Bitte bestellt es, lest es, seid offen. Danke. Und jetzt schnell absenden, weil das RWE uns gleich den Strom für drei Stunden abstellt. Off. fiftyfiftyblog im Wartungsmodus. Kann ich noch ein wenig weiterlesen:) Ciao…

P.S. Ein im oben beschriebenen Sinne interessantes Interview: Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Thomas Pogge im Interview mit Christian Schlüter: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek/magazin/magazin15/pogge/

Zitat aus diesem Interview: “Die lebensgefährliche Armut, die heute rund 40 Prozent der Weltbevölkerung bedrückt, stellt in fast allen Fällen eine Verletzung ihrer Menschenrechte dar, eben weil sie vorhersehbarerweise von Regeln produziert wird, die von anderen Menschen formuliert und durchgesetzt werden. Durch solche Regeln werden jährlich 18 Millionen Menschen umgebracht, und Milliarden der Zugang zu hinreichendem Trinkwasser, gesunder Nahrung, Obdach, Kleidung, medizinischer Versorgung und Bildung verwehrt. Die Armen in dieser Welt leben nicht nur in menschenunwürdigen, sondern auch in menschenrechtswidrigen Verhältnissen.”

Schwimmen mit dem Enkel des Monsieur Hulot

Ich gebe ihm einmal den Namen Bruno. En francais c’est: Brünoo. Der Enkel des Jaques Tati, des Monsieur Hulot, der sich 1953 filmisch in den Ferien tummelte. Ich bin ihm begegnet. Nicht Jaques, nein, bewahre, Bruno. In den Ferien, wie hätte es anders sein können. Das Leben verläuft in Parallelen, um zu sagen “Seht her, ich bin wunderbar und voller fantastischer Zufälle.”

Es hat mich, der Ferien und der Kinder wegen, die bewegt werden wollten, in dieses öffentliche Hallenbad getrieben. In dieses Aquarium voller badebeanzugter Menschen mit ihren so unterschiedlichen Körpern und Stilen.

Erinnerung, Traum, Wirklichkeit, Schrei. Im Hintergrund donnert Musik. Der dicke Bademeister hat das Gemeindekonzept zur Steigerung der Besuchszahlen mit fetten Bassboxen umgesetzt. Rihanna knallt durch die Becken. Die Kleinsten müssen aufpassen, vom Beat der Boxen nicht vom 3-Meter-Brett gefegt zu werden.

Ich versuche, mich hineinzubegeben in diese Welt der Freude. Lasse meine ungelenken Knie grooven, so wie alles es machen. Stelle mich mit den Kindern in die lange Reihe der Wartenden, die alle rutschen wollen. Mit einem dicken Gummireifen unter dem Arm die enge Wendeltreppe hoch. Bumm, bumm. Vor mir ein junger Mann. Unheimlich dick. Mit Boardshorts und darunter befindlicher Unterhose. Feinripp. In Augenhöhe das tiefe Tal zwischen den Arschbacken, die Ritze. So eng die Wendeltreppe, wohin blicken. Weil alle nass sind, tropft es. Von oben. Das Wasser die Körper herab zu den Füßen und von dort im Takt tropf, tropf über die Zehen auf die Stufen und von dort herab auf meinen Kopf, meinen Körper. Ich versuche nicht an den Weg zu denken, den das Wasser gegangen ist. Ritze.

Einmal. Der Kinder wegen. Dann ist gut. Dann gehe ich duschen. Abseifen. Desinfizieren. Die Kids sagen: Rückwärts! Ich habe nichts zu verlieren, denke ich fälschlicherweise und mache mich zum Papadeppen. Rückwärts die Rutsche runter! 40 Meter durch die Dunkelheit schlage ich atemlos unten im Auffangbecken ein. Adrenalin. Vollidiot, was denkst du dir? Überlebt, das ist die Hauptsache.

Die Musik wummert die Charts runter. Da muss noch jemand schnell die Welt retten und vorher seine Mails checken. Bumm. Ich ziehe mich zurück, so wie man sich inmitten eines Menschentsunamis zurückziehen kann. Ergattere einen Liegestuhl neben den Sprungbrettern. Im Sekundentakt Anlauf, Schrei, Platsch. Raus aus dem Aquarium, Modenschau an mir vorbei. Dicke Bäuche, kurze Beine, lange Arme, dicht behaart, krumm gewachsen. Alle lächeln, mehr oder weniger. Gezwungen und echt.

Ich lese Freiheit von Jonathan Frantzen. Das ist sie also. Die Freiheit. Bumm, bumm. Lese das Buch, sehe die Sprünge, entdecke Bruno. Nein. Der sieht ja aus wie der kleine Tati. Hühnerbrust, lange Spargelbeine, runder Rücken, Kurzhaarfrisur mit abstehenden Ohren und spitzer Nase. Die großen Füße des Bernhardiner Welpen schlappen an mir vorbei. Die Badehose stimmt. Schwarz, knielang. Wo kann man eine solche Hose kaufen? 1953, Bretagne. Es muss ein Erbstück sein. Der Dreier öffnet, the show must go on, die Musik schmeißt die Künstler mit ungeahnter Kraft aus der Höhe herab. Todesmutige Drehungen, die selten die 360 Grad schaffen. 330, 390, 410, 270. Zahlen, die für Schmerzen stehen, ungelenkes Eintauchen, Aufplatschen. Try and error. Wieder hoch. Egal. Ein Indianer kennt nur den weg nach vorne.

Keiner ist dabei so einzigartig wie Bruno. Er zelebriert den Sprung. Frantzen, wer schon ist Frantzen? Was hat der gegen diese Show zu bieten? Bitte. Bruno geht vorne ans Brett. Ich erwarte eine mehrmaliges Anhüpfen und kunstvolles Abfliegen. Mais non. Er schaut, nimmt den Raum auf, sieht in die Ferne. Dreht ab. Wird er gegen die Schlange die Leiter herab steigen? Bruno geht bis ans Ende. Schlappt. Die Bärentatzen am Boden, der krumme Rücken, die durchatmende Hühnerbrust. Don Quichotte de la Mancha kommt mir in den Sinn. Das Springen von 3-Meter-Brettern ist das Anrennen gegen Windmühlen.

Bruno erreicht das Ende des Brettes, dreht sich, beugt sich vor – ganz klar ein Tati – atmet tief und rennt, rennt, rennt und springt und fliegt und rudert und zerschellt in den Tiefen des azurblauen Plastikmeeres im Bumm, bumm des Chlorbeckens. Ein Held. Er paddelt zum Beckenrand, erklimmt die Leiter. Erst sehe ich den durchwirbelten Haarschopf, dann die spitze Nase, die winkenden Ohren, die sich wölbende Brust und ein breites, siegvolles Grinsen. Der Sprung seines Lebens. Zehn mal die innere Zehn für Wagemut, Haltung, Eintauchphase. Elegance. Spratz.

Adieu, Frantzen. Du hast mir an diesem Tag wirklich nichts mehr zu bieten. Wechsle die Fronten und werde zum Kampfrichter im Haifischbecken der Eitelkeiten. Salti, missglückte Schrauben, Freuden- und Schmerzensschreie. Egal. Der Mann vom Einer. Den Anderthalbfachen mit Highspeed in die Waagerechte gesprungen und mit gespreizten Beinen gelandet. Irgendwie zum Schluss ein Rad geschlagen. Hätte ich doch eine Zeitlupe. Wie soll ich da gerecht bewerten? Aua. Kleiner Bauchansatz, Haarverlust, die Eierkneifer-Badehose höher gezogen als nötig. Ästhetisch unannehmbar. Er ist stolz auf sich. Was für ein Sprung. Ich spüre die Schmerzen, er den Erfolg. Klettert wie ein Klippen herunter springender Südamerikaner aus dem Becken und stellt sich wieder an. Gleich hinter die kleinen Mädchen und Jungs, denen die Taschen und Schildchen aus den schief gerutschten Bademoden hängen. Hier ist nix gerade. Alles schief, verbogen, krumm. Bumm, bumm.

Direkt hinter ihm Bruno. Teambuilding. Die Weitspringer. In direkter Reihenfolge. Der waagerechte Anderthalbfache ist einstudiert. Ich glaub es nicht. Der zweite Sprung identisch, der Schmerz hat Methode. Wieder mit gespreizten Beinen eingeschlagen. Bruno wieder nach vorne, nach hinten, vorgebeugt, Anlauf mit Vollgas und Bob Beaman acht Meter Neunzig. Mindestens. Einschlag. Der prügelt Glücksgefühle aus dem Körper in die Blutbahn, anders ist das Lächeln nicht zu erklären.

Drei Stunden. Familientarif. Ich sammle die Kinder ein, beziehungsweise schaue, was von ihnen übriggeblieben ist. Bumm, bumm. Alle unter die Dusche. Bruno. Unfassbar. Selbst das Duschwasser schwingt im Takt. Der dicke Bademeister hat zum Abschied noch einmal an den Reglern gedreht. Da geht was. Hoffentlich baut sich im Becken keine soundgetriebene Monsterwelle auf. Es wäre schade um den kleinen Tati und all die anderen Helden des Alltags. Herabgespült von den Höhen des Triumphbogens. Au revoir. Es wäre wirklich schade.

Besuch von Heinrich

Guten Morgen. Er sagte es, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Mir wurde es kalt und warm, als er plötzlich mitten auf der Wiese vor mir stand, in seinem dunkelbraunen Anzug im Fischgrät-Muster. Heinrich! Meine Stimme war gelähmt. Hinter ihm standen zwei Männer, die ich noch nie gesehen hatte – zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. Das konnte nicht sein, die drei hier an einem Sommertag auf einer Wiese voller Blumen, aufgetaucht aus dem Nichts. Ihre dunklen Augen fixierten mich und sahen mir auf den Grund meiner Seele. Geröntgt, gescannt. Ich konnte ihnen nichts vormachen, sie kannten mich in- und auswendig. Mein Tarnmantel rutschte von den Schultern, meine Schutzmauer aus Beton bröckelte und fiel zu Boden, meine Sätze und Worte der Irreführung blieben mir im Hals stecken. Von einer Sekunde auf die andere transparent, komplett durchsichtig. Sie haben mich durchschaut. Wir standen dort in der Sonne still und unbeweglich wie auf einem Gemälde. Mir war klar, sie stehen dort und sind gleichzeitig in mir, ein Teil von mir, mein Fundament, meine Geschichte. Meine Augen zuckten, versuchten standzuhalten, etwas zu erkennen, sich zu wehren. Der Blick huschte über die starren Gesichter. Hätte ich versucht, ihre Blicke aufzunehmen, sie hätten mich umgeworfen, hypnotisiert. Zu intensiv, zu plötzlich. Was war das? Eine Fantamorgana, ein Trugbild, ein Spiel meiner Psyche, meines Ichs? Gänsehaut überzog meinen Körper, der linke Fuß begann zu zittern. Mir kam der Gedanke, wegzulaufen, der Situation zu entfliehen und gleichzeitig wusste ich, dass die Sache ausgetragen werden musste. Sie würden mich finden, überall, sie waren andere Wesen. Sie brauchten kein Fernglas, kein Telefon, keine Abhöranlagen, keinen Plan, kein Auto oder Flugzeug. Das Zittern des Fußes nahm mir den sicheren Stand und verstärkte die Unsicherheit. Sie standen und standen, fixierten mich und reichten keine Hand. Hätte ich wenigstens sprechen können – frech herausschreien „Was wollt ihr verdammten Idioten hier auf dieser Wiese? Haut ab, lasst mich. Verpisst euch dorthin, wo ihr hergekommen seid.“ Angst stieg in mir auf – merkwürdigerweise nicht vor den Männern, sondern vor mir. Vor mir? Weshalb sollte ich vor mir Angst haben? Fast hätte ich mir in die Hose gemacht, wie peinlich. Als wäre die Situation nicht kurios genug gewesen, stürzte plötzlich ein Bussard vom Himmel und griff mit der Kraft seiner Greifer eine kleine Maus. Meinem Gesicht englitt ein zynisches Lächeln. Ihr glaubt, ich bin eine kleine Maus und ihr könnt mich hier stellen? Meine Seele kontrollieren, mich hopps nehmen, mir rücksichtslos auf den Zahn fühlen? Ich hatte Ihnen nichts getan, niemals. Vielleicht hatte ich sie verraten, aber das war eine Sache des Standpunktes.

Heinrich trat einen Schritt vor und verscheuchte den Vogel mit einer winzigen Handbewegung. Vollkommen stolz, selbstsicher ohne einen Hauch des Zweifels, dass der Vogel seiner Anweisung folgen würde. Dann nahm er die tote Maus und warf sie mit einem kurzen Zucken des Handgelenks weit weg. Meine Augen folgten dem Flug des Tieres und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der leblose Körper in dem hoch stehenden grünen Gras verschwand. Heinrich trat zurück, verlagerte sein Körpergewicht auf ein Bein und steckte die Hände in die Hosentasche. Ich erwartete ein süffisantes, herablassendes Grinsen, sah aber weiterhin nichts als Neugierde. Sie untersuchten mich, das war es, sie wollten wissen, was aus mir geworden ist, wie ich in der Welt stehe, ob ich meine Sache gut mache. Ein Tribunal, ein personifiziertes Gewissen. Mein Mut sank, mein Leben lief in ny-Sekunden vor meinem geistigen Auge ab. Wie oft hatte ich versagt, die falschen Entscheidungen getroffen, war nicht mutig und entschieden genug gewesen, meine Pläne zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Zu viele lose Enden, die hinter mir lagen und noch immer die Energie der Konzentration raubten. Einmal war ich ein Held gewesen, in New York auf der 5th Avenue. Auf dem Weg downtown hatte der Bus gehalten und eine alte, wirklich dicke Frau konnte nicht einsteigen. Sie stand, sah auf den Busfahrer, der Busfahrer sah aus seiner Glaskabine auf sie. Alle im Bus sahen abwechselnd auf die Frau und den Fahrer. Nach einem Druck auf einen Knopf senkte sich der Bus, um der Frau den Einstieg zu erleichtern. Nichts tat sich, sie war zu dick und brauchte Hilfe. Eine schier unendliche Zeit in Hilflosigkeit saßen wir in diesem Bus, der sich entschuldigend vor der Welt verneigt hatte. Alle Blicke waren jetzt auf die Frau gerichtet, niemand wagte etwas zu sagen. Der Moment machte uns alle gemeinsam einfach nur klein. Ein Mann stieg aus und ging weg. Verräter. Ich sagte mir, ich tue es und stand auf. Spürte die Blicke auf mich geheftet – noch ein Verräter. Ich stieg aus, ging zu der Frau, fragte sie, ob ich ihr helfen könne und fasste ihr unter den Arm, zählte bis drei und gab ihr den Schwung und den Halt für den Schritt. Es ging ganz leicht und sie stand vor dem Fahrer, zeigte ihm ihre Karte und setzte sich. In der Zwischenzeit war ich durch die hintere Tür wieder eingestiegen und hatte mich auf meinen Platz gesetzt. Leichtigkeit durchzog mich, gab mir ein gutes Gefühl, wie einfach das Leben doch ist. Nur ein Griff. Plötzlich stand ein Mann auf und zeigte mit dem Finger auf mich „Look that young man, he helped the old lady!“ Alle applaudierten und ich zog mich hinter meine Wand aus Beton zurück, blickte wie unbeteiligt aus dem Fenster und sah auf die Rush-Hour der 5th Avenue. Mein Mut versank in den stehenden Autos und die Leichtigkeit des Seins verlor sich in der Schwere der Wolkenkratzer. Trotzdem war ich stolz und lächelte – nur niemand sah es.

Die Gedanken an das Buserlebnis gaben mir halt, das Zittern im Fuß hatte aufgehört und mein Stand wurde sicherer. Mein Atem fand zurück in einen angenehmen, ruhigen Rhythmus. Mein Blick wurde weicher und wärmer, die Angst verließ mich und es war mir egal, was jetzt passieren würde. Ich hatte den ersten Schritt getan und war drauf und dran, mich umzudrehen und die drei stehen zu lassen. Der Situation war die Schärfe genommen, ich hatte meine Handlungsfähigkeit zurückerlangt und fragte unvermittelt: „Was wollt ihr?“ Sie lächelten, tatsächlich, sie lächelten. Heinrich kam auf mich zu, seine Augen begannen zu leuchten und sein Gesicht verlor die Spannung. „Wir haben uns überlegt, dass wir dich besuchen. Ich wollte dich sehen und den beiden vorstellen.“ Ich konnte es kaum fassen, hatte ich gerade noch an das Schlimmste gedacht, war es nun wie eine Verabredung zum Sonntagskaffee – gute alte Freunde bei Apfelkuchen mit Sahne zu Besuch. „Schön dich zu sehen, Heinrich, auch wenn es mich überrascht. Und das du die beiden mitgebracht hast. Kaum zu glauben.“ Dieses Grinsen hatte ich nie zuvor bei ihm gesehen. Früher war er ein alter Mann voller Jähzorn, um Kontrolle und Macht bemüht. Unzufrieden mit dem Augenblick und gequält von der eigenen Energie. Vor Sonnenuntergang war er immer zum Teich gegangen. Drei Kilometer bei jedem Wetter und im Winter in der tiefen Dunkelheit. Dann hatte er sich ans Ufer auf seinen Stuhl gesetzt und hatte die Ruhe genossen – die Ruhe in sich. Einen Augenblick Frieden mit der Welt, um dann zurückzukehren in den Alltag der Mühen. Er legte seine früher von Erde geschwärzten Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Tränen liefen herunter als er sagte „Ich habe dich vermisst“. Er rief die beiden anderen zu sich, um mich anzuschauen. „Los kommt, ihr müsst ihn sehen, schaut ihn euch an.“ Jetzt kamen mir die Tränen und ich musste Heinrich packen, ihn umarmen, ganz fest drücken, schütteln. Mehr als eine Ewigkeit hatte zwischen uns gelegen und noch einiges mehr. Jetzt fiel es von mir ab. Wie konnte es sein, dass das geschieht. Ich hatte es mir nicht gewünscht, hatte den Zustand als gegeben hingenommen und wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich jemals etwas daran ändern lassen würde. Nun hatte es sich geändert. Heinrich hatte die beiden mitgenommen, weil er sonst den Mut nicht gehabt hätte. Deshalb hatte er mich so lange angesehen, weil er nicht wusste, ob ich ihn bei mir haben wollte. Die beiden kamen hinzu und schüttelten mir die Hand. Fritz und August, Ziegelmeister und Maurer. Starke Hände, gerader Rücken, starker Stand. Wie nah sie mir waren. Heinrich schüttelte den Kopf und begann zu lachen. Er konnte selbst nicht glauben, was er sah. Hätte ich gewusst, dass ich ihm auch nur ein klein wenig wichtig bin, ich hätte ihn nicht so gehen lassen.

Wir setzten uns in Gras und erzählten einander, was geschehen ist in all den Jahren. Tauchten ab in die alten Zeiten und sie nahmen mich mit in eine Welt, die ich nicht kennen konnte. August holte eine Flasche mit klarem Wasser aus der Tasche und reichte sie rum. Ich trank das Wasser, als sei es das Wasser des Lebens. Nun waren wir verbunden, für immer verbunden. Sie sagten, sie müssen nun gehen, wir umarmten einander und im nächsten Moment waren sie so lautlos verschwunden, wie sie gekommen waren. Ich wäre gerne bei ihnen geblieben, mit ihnen gegangen, wo immer sie auch hingegangen sind. Ich legte mich auf die Wiese, sog die Sonnenstrahlen in meinen Körper und schlief ein. In der Nacht erwachte ich durch die Feuchtigkeit, die sich in meine Kleidung gezogen hatte. Ich ging und begann, die losen Enden zu verknüpfen.

nOVEMBER 2006

P.S. – Liebe Annegret, beim Suchen alter Gedichte bin ich auf diesen Text gestoßen. Der lag noch im Archiv. Als Ausgleich der nun fehlenden Lyrik, dieser Text. Als kleiner Ausgleich.

Projekt Elaine 14

Am nächsten Morgen brannte der Scheinwerfer noch. Im Zimmer roch es nach Ölfarbe. Es war dunkel, früh am Morgen, kein Vogel krähte oder zwitscherte. Cat fragte sich oft, wo und wie Vögel im Winter wohl schlafen. Mit der Kälte, dem Frost umgehen. Nur mit so ein paar Federn bekleidet. Manchmal taten sie ihr leid, vor allem die kleinen. In der Nacht hatte sie unruhig geschlafen, wirr geträumt, gleichzeitig schön und schrecklich. Ihre Seele, ihr Geist hatte sich ausgetobt und für Cat ungewöhnliche Szenen und Bilder in den Raum geworfen. Sie war verunsichert, überrascht. Ein Blick auf ihr Wandbild genügte als Erklärung. Wenn sich etwas löst, reißt es vieles mit sich. Manchmal staut sich etwas und bricht sich zum richtigen oder falschen Zeitpunkt seine Bahn. Unvorhergesehen. Cat stand auf, schaltete den Scheinwerfer aus und berührte mit der Spitze ihres Zeigefingers das Werk, um zu sehen, zu spüren, ob es real ist, ob die Farbe getrocknet ist und nicht abblättert, einfach abfällt von der Wand, vom Grund des Bildes. Sie zog sich an, schnappte sich ihre Tasche, schlich in die Küche, goss sich einen Kaffee auf, trank ihn langsam und dachte an Sue. Dieses Gefühl, diese Sehnsucht war wieder da. Sie wollte zu ihr, wollte, dass sie wieder da ist, wollte sich entschuldigen und eine Entschuldigung hören. Sie würde sich bewegen müssen, in jedem Fall. Sie konnte nicht klar denken, konnte sich nicht konzentrieren. Sie hatte Angst, einen Fehler gemacht zu haben und mit einem Satz eine Freundin, die Freundin verloren zu haben. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit Streitsituationen. Sie hatte Neuland betreten. Ihrer Mutter wollte sie sich nicht anvertrauen, weshalb, wusste sie selbst nicht genau.

Als ihr Jérôme einfiel, wer sonst, stieß sie die Tasse um. Im gleichen Augenblick des aufkommenden Gedankens hatte sie auch schon ihre Tasche greifen wollen. Der Kaffee sickerte in die weiße Tischdecke, wurde aufgesogen. Cat sah kurz ein Muster, dachte an ihr Wandbild, an Formen, die in jedem Augenblick ganz natürlich entstehen. Egal. Sie musste zu Jérôme, musste ihn um Hilfe bitten, mit ihm sprechen, ihn fragen, löchern, aushorchen. Mit Sicherheit hatte er mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen und Freunden. Sie rief ihn nicht an, sondern lief einfach los. Den Fluss entlang durch den Park bis in die Innenstadt. Er würde noch schlafen in seiner Wohnung über dem Laden, die eigentlich nur ein Zimmer mit Klo und Kochnische war. Jérôme war vor zwei Jahren aus Brüssel hergekommen, um im Antiquariat seines Onkels zu arbeiten. Seine Eltern hatten ihn hergeschickt, nachdem er sich parallel zum Studium „einige Dummheiten erlaubt hatte“. So lautete die offizielle Version, die Cat von ihm und seinem Onkel gehört hatte. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen, weil Jérôme weder so aussah, als würde er irgendwelche Dummheiten begehen noch verriet irgendetwas anderes an ihm eine Neigung dazu. Er sprach gut deutsch, obwohl sie sein Französisch lieber mochte und wirkte auf sie französisch. Meist trug er Hemden und darüber feine Wollpullover in Unifarben, unter den Hüftjeans lugten Chucks hervor. Ein gleichsam cooler und feiner Typ, einer, der nicht viel brauchte, um wahrgenommen zu werden. Als sie ihn das erste Mal sah, räumte er Bücher aus einem Karton in ein Regal. Sie war in den Laden gekommen, um nach neuen gebrauchten Kunstbänden zu sehen. Der Großteil ihres Taschengeldes landete hier. Ihre Garderobe zahlte ihre Mutter, Geld für Cafés, Kneipen oder Discos hatte sie bislang nicht gebraucht. Jérôme schaute sie über einen Buchrücken hinweg an. Dieses erste Bild hatte sich ihr eingeprägt. Die kurzen braunen Locken, die braunen Augen, die das Lächeln in seinem Gesicht verrieten. Sie hatte zurückgelächelt und sich über sein „Salut“ gefreut. Als sie im Regal der Kunstbände stöberte, kam er zu ihr. Mit leichtem französischem Akzent fragte er sie, ob er ihr helfen könne. „Kennst du dich mit Kunst aus?“ „Ja, ein wenig. Ich habe in Brüssel zwei Semester Kunstgeschichte studiert. An der Université libre de Bruxelles.“ Cat hatte zuvor nie von der Université libre de Bruxelles gehört, empfand den Klang aber als exotisch. Als habe er in einer fernen Welt gelebt, studiert. Tatsächlich kam ihr Brüssel so weit weg vor, als habe er Chicago gesagt. Oder Hongkong. „Kennst du dich auch mit zeitgenössischer Kunst aus?“, hatte sie ihn gefragt. Die beiden kamen ins Gespräch, glichen ihren Wissenstand ab und hatten sich gegenseitig überrascht. Irgendwann brachte ihnen Paul, Jérômes Onkel, eine Kanne mit Tee und Gebäck. „Jetzt steht ihr hier schon zwei Stunden und redet und redet und redet. Ich werde nie verstehen, was es mit dieser Kunst auf sich hat. Beuys, Fettecken, Rauschenberg, Lichtenstein, Warhol. Herrje, als hätte die Welt nichts anderes zu tun, als sich mit Abstraktionen auseinanderzusetzen. Fräulein Catherine, ich bin einfach immer froh, wenn sie diese unchristlichen Bücher mit sich nehmen. Sie befreien mich, nehmen mir eine Last von der Schulter. Ja, qui, es ist eine gute Tat, die sie da Woche für Woche vollbringen. Das kann ich ihnen sagen. Und nun setzt euch, der Mensch muss auch mal dem Körper etwas Nahrung zuführen. Heute wollen alle so dürr sein. Sehen sie sich Jérôme an. Eine Katastrophe. Das soll ein junger Mann sein? Ah.“ Cat lächelte, bedankte sich und setzte sich artig an den kleinen Besuchertisch vorne direkt hinter der großen Scheibe des Schaufensters. Jérôme ließ sich noch auf ein kleines Scharmützel mit seinem Onkel ein, betonte, sowohl Shakespeare als auch Sartre und sowieso dieser Foucault seien überbewertet. Vollkommen überbewertet. Paul winkte ab, wusste die Retourkutsche des Neffen zu parieren. Seit diesem ersten Aufeinadertreffen war Jérôme ihr wichtigster Gesprächspartner geworden. Viele ihrer Bildbände hatte er für sie besorgt. Aus Nachlässen, über das Internet, auf Flohmärkten, die er mit Paul am Wochenende auf der Suche nach neuer, alter Ware besuchte. Für Cat war das Auftauchen von Jérôme ein Glücksfall gewesen. Sie wusste nicht genau, was er für sie war. Bücherverkäufer, Freund, Geliebter. Manchmal war sie in ihn verliebt. Nach Treffen mit ihm ging sie tänzelnd nach Hause. Dann wieder vergaß sie ihn, verlor ihn vorübergehend aus dem Blick, zog sich in sich zurück und tauchte erst nach Wochen wieder im Laden auf. Einmal hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen. Es war eine förmliche Einladung. „Mademoiselle Catherine, darf ich sie morgen Nachmittag auf einen Kaffee und Kuchen einladen? In das Café am Markt? Es würde mich sehr freuen.“ Cat hatte lachen müssen. „Machen das Franzosen so? Werden sie dann immer so förmlich?“ Jérôme hatte den tief Getroffenen gespielt. „Sie haben mich einen Franzosen genannt. Mon Dieu. Belgique, das Land meiner Väter. Und Mütter, ja, die auch.“ Cat hatte sich mit einem Lachen entschuldigt und die Einladung angenommen. Sie hatten den ganzen Nachmittag im Café am Markt gesessen und über Kunst und Brüssel gesprochen. Zu mehr war es nicht gekommen. Kein Verlangen, keine Leidenschaft, keine sehnsüchtige Liebe. Sie hatten es versucht, es war nicht entstanden. Aber sie waren eine Art Freunde geworden. Bücherfreunde.

Cat stürmte die schmale Metalltreppe am Laden aus rotem Backstein hinauf und klopfte an die Tür. Jérôme öffnete die Tür, sah ihr verschlafen mit abstehenden Locken, schmalen Augen und in Boxershorts ins Gesicht. „Was machst du hier? Es ist noch dunkel.“ Cat ging ohne zu antworten ins Zimmer. Sie war vorher noch nie in der Wohnung gewesen, wusste nur aus Erzählungen, dass er hier oben über dem Laden wohnte. Sie ging zur Küchenzeile und setzte Kaffee auf, während Jérôme seine Klamotten zusammensuchte, sich anzog und ganz allmählich wach wurde. Er zog sein Bett glatt, warf die Tagesdecke über und setzte sich. Cat gab ihm eine Tasse Kaffee, nahm sich auch eine und setzte sich neben ihn. „Ich brauche deine Hilfe, deinen Rat.“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, versuchte ihm Sue begreiflich zu machen und überschlug sich dabei in ihren Ausführungen. „Du möchtest sie nicht verlieren. Das ist es, was du mir sagen möchtest?“ Cat nickte. „Gut. Zwar kenne ich deine Sue nicht, aber da sie gerne in deinen Bildbänden blättert, hätte ich da ein Geschenk, das du ihr machen könntest. Habe ich am Wochenende entdeckt und eigentlich für dich zur Seite gelegt. Schenk es ihr. Geh zur Schule, setz dich neben sie und schieb es ihr rüber. Sie wird es verstehen und lächeln oder nicht verstehen und dann hakst du sie einfach ab. Wir gehen runter, ich geb’s dir.“ Jérôme schloss den Laden auf, suchte das Buch raus und gab es Cat. „Ich schenke es dir, damit du es verschenken kannst. Ein Freundschaftsdienst, sozusagen.“ Cats Augen wurden glasig. „Wie kann ich mich bei dir bedanken?“ Jérôme lächelte und hielt ihr die Wange hin. „Mademoiselle Catherine, in ihrem Fall bin ich mit einem kleinen Kuss auf die Wange fürstlich entlohnt.“ Cat küsste ihn, drückte ihn darüber hinaus, ging.

Die weiteren Elaine Teile:

Projekt Elaine 1

Projekt Elaine 2

Projekt Elaine 3

Projekt Elaine 4

Projekt Elaine 5

Projekt Elaine 6

Projekt Elaine 7

Projekt Elaine 8

Projekt Elaine 9

Projekt Elaine 10

Projekt Elaine 11

Projekt Elaine 12

Projekt Elaine 13

Projekt Elaine 13

Wie sollte sie reagieren? Cat fühlte sich verraten, vor den Kopf gestoßen. In Momenten der Krise öffnet die Seele die Schotten, lässt alles passieren, die Vorurteile, gefärbten Erinnerungen, unschönen Konstruktionen. Die zu Anklagen formulierten Hypothesen, die sich wie junge Staatsanwälte auf ihre Gegenüber werfen, um ihnen die Klauen des Rechts, der Moral in die ungeschützten Flanken zu rammen. Die Farben ändern sich, aus Annahmen werden Gewissheiten. Cat legte sich ins Bett, sagte ihrer Mutter, sie sei krank, habe Fieber, eine Erkältung, Kopfschmerzen, ihre Tage und überhaupt. Ihre Mutter ließ sie. Brachte frischen Orangensaft, mundgerecht geschnittenes Obst, kümmerte sich, genoss es. Drei sorgfältig auf einen kleinen Teller dekorierte Zwiebacke dokumentierten den Status anerkannte Krankheit.

„Mama, kannst du mir aus dem Atelier Papier und einen Kohlestift mitbringen? Einen breiten für dicke Striche.“ Ihre Mutter stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie oft hatte sie versucht, Cat zum Malen zu bringen, sie in die Kunst einzuführen, in ihr Atelier einzuladen. Sie hatte es bereits aufgegeben, hatte sich mit der Enttäuschung abgefunden. Cat wollte die im Gegenlicht der tief stehenden Wintersonne schwarz gefärbten Zweige vor ihrem Fenster malen. Dieses dunkle Labyrinth, das ineinander lief, sich verhedderte, grelles Licht durch Öffnungen fielen ließ, das Schwarz an Überschneidungen in ein weit finstereres Schwarz verwandelte, das Himmel und Erde verband. Sie suchte eine Metapher, einen Ausweg. Ihren Gedanken glaubte sie nicht. Sie wollte Sue nicht verurteilen, ihr nichts Böses an den Hals wünschen, auch wenn die innere Stimme ihr das einzureden versuchte. Ihre Mutter freute sich still, brachte ihr eine große Unterlage, eine Auswahl an Papier und einen kompletten Kasten voller Kohlestifte und ließ Cat allein. Mit sich, ihren Fragen, ihrem Unmut, ihrer Enttäuschung, den Zeichenutensilien. Breite Striche zogen sich langsam über das Papier, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Zweigen draußen hatten. Cat war keine Zeichnerin, hatte Zeichnen nicht wirklich gelernt. Es half ihr. Als würden diese dunklen, breiten Linien direkt aus ihr heraus laufen, als hätte sie einen Graben nach draußen geschaffen. Aus den dunklen Straßen, den Zweigen, wurde ein Gesicht. Hilflos verfremdet, fern jeder Realität und doch intensiv. Sie zeichnete Sue, dachte an Sue, vermisste Sue. Schon jetzt, nach nur einem Tag. Vielleicht würde es besser. Sie wusste es nicht, konnte ihre Verworrenheit nicht einschätzen. Vielleicht würde sie die Sehnsucht verlassen, mit dem Kohlestaub auf dem Papier aus ihr heraus fließen. Sie sah Sue auf dem Sofa sitzen, ihr gegenüber. Sie kannte Sues Gesten, ihre Bewegungen, als hätte sie sie studiert, in sich aufgezeichnet. Sie musste lächeln und weinen, versuchte es neu und anders.

Sie ließ The Cure laufen, Sue hatte ihren Stick vergessen. War nach Cats Aufforderung aufgestanden und wortlos gegangen. Die Musik mischte sich mit den Sonnenstrahlen, die der helle Wintertag mit blauem Himmel in das Zimmer fallen ließ. An der Wand tanzten die Schatten der Zweige im leichten Winterwind. Cat musste lachen, um wie viel besser die Natur sich selbst zeichnen, lebendig inszenieren konnte. Sie legte ihre Suezeichnungen zur Seite, nahm einen breiten Kohlestift und bannte die Schatten auf die Wand um die Tür herum. Ein dickes Geflecht schwarzer Adern entstand. Immer wieder ging sie einige Schritte zurück und schaute, welche Zweige sie wollte und welche nicht. Sie stieg auf ihren Stuhl, führte die Linien in Bögen, fügte kleine Zweige ein. Mit Bedacht wählte sie kleine und große Äste, suchte nach einer Form, die mit wenigen Bögen und Linien eine Harmonie entstehen ließ, zugleich filigran und authentisch kraftvoll. Eine Krähe landete draußen im Baum, im Bild, schickte ein Krächzen hinein, der Flügelschlag des Davonfliegens zog sich als Schwarz-Weiß-Filmsequenz quer über die Wand. Zwischendurch schoben sich Wolken ins Bild, die den Schatten wegräumten, die Vorlage tilgten. Sie nahm sich einen großen Bogen, warf das bereits Entstandene als Skizze aufs Papier und probierte. Konzentrierte sich, versuchte in Kopfbildern, nahm das Konstrukt des Schattengeflechts in ihren Schädel. Die Gedanken an Sue verschwanden für einen Moment, Cat fühlte eine produktive Harmonie, fühlte sich ausgelastet, gut. Als würde sie mit jedem Kohlestrich auf Papier und Wand ein Stück weit Frieden schließen. Mit Sue und mit vielem mehr. Sie begann, ihre Welt zu gestalten, sich auszudrücken, eine Form zu finden, die ihr entsprach, die ihr Klarheit gab. Sie räumte den Schrank zur Seite, um Platz an der Wand zu schaffen. Sie lief ins Atelier, holte sich Pinsel und schwarze Ölfarbe. Ihre Mutter blieb im Hintergrund, beschäftigte sich in der Küche, obwohl sie darauf brannte zu sehen, was Cat in ihrem Zimmer veranstaltete. Sie sagte nichts, rührte sich nicht. Spürte den Moment, wollte nichts im Keim ersticken, es nicht vermasseln. Cat wusste nicht, wie sie mit Ölfarbe malen, umgehen sollte. Sie probierte aus. Langsam, drückte die Farbe auf ein Tellerchen, das ihre Mutter zum Mischen benutzte. Mit kleinen Pinseln zeichnete sie Kohlelinien nach. Schaute, wie die Farbe dicker wurde und Aststrukturen auf der Wand entstanden. Zur Decke und zu den Seitenwänden hielt sie Abstand. Ihr schwebte ein Ausschnitt vor, den sie in ihrer Vorstellung Zweig für Zweig komplettierte. Mittlerweile hatte sie die Grundzeichnung auf einen großen Papierbogen übertragen, auf dem sie Größenverhältnisse und Astpositionen zunächst mit Bleistiftlinien, die sie wegradieren konnte, und dann mit Kohlestrichen ausprobierte. Hatte sie einen Zweig gefunden, übertrug sie ihn mit Ölfarbe auf die Wand. Sie nahm sich Zeit, genoss die innere Ruhe, die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollte. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, dem Impuls, mit Farben zu arbeiten, nachzugeben, um Kontraste zu setzen, Blicke zu führen. Sie blieb beim Schwarz, der Nichtfarbe. Als die Sonne am Nachmittag unterging, lieh sie sich von ihrer Mutter einen Scheinwerfer aus dem Atelier. Sie verpasste das Abendbrot, hörte Sues Stick komplett durch, fühlte sich in ihr Bild an der Wand gezogen, in die Schatten und Zweige. Tief in der Nacht war ihr Bild, ihr Wandgemälde fertig. Gerne hätte sie Sue angerufen, hätte es ihr gezeigt. Sie legte sich in ihr Bett, schaute auf die vom Scheinwerfer angestrahlte Wand und war fast wieder gesund.