Coca-Colas neues Storytelling…

Ihr Lieben, heute mal was Berufliches. Coca-Cola. Kennt ihr, klar. Groß, rot, süß. America. Die haben sich entschlossen, ihre Werbung komplett auf Storytelling umzustellen. Das heißt, die erzählen jetzt Geschichten, die Spaß machen oder bewegen oder beides. Der Vorteil: Die Menschen sehen sich die erzählende Werbung gerne an und nehmen die Botschaft beiläufig auf. Ich finde, das hat was. Eine klassische Win-Win-Situation. Geben und nehmen. Auf jeden Fall allemal besser als dauernd zu schreiben: “Oh, teste jetzt die neue Coke. Cool, fresh und irre tasty. Probier jetzt auch Coke-Waldmeister-Limone im Historienflschen-Testset…”

Dann doch viel lieber so Spots wie oben. Denn die machen einfach mehr Spaß und haben noch eine gute, positive Botschaft. Ein Spot, in dem ein Sprayer Peace tagged. Is eigentlich verboten. Aber doch sehr sympathisch. Mir jedenfalls. Werde morgens wach und einer hat PEACE an unser Haus geschrieben. Würde ich sagen: Korrekt. In meinem Job versuchen wir den Kunden zunehmend zu sagen, erzählt Geschichten. Öffnet euch, macht euch erlebbar. geht über Produktvorteile hinaus. Bewegt. Geht in die Emotion. Der Prozess läuft, Coke ist ein schönes Beispiel, wie man es machen kann…

So, Ihr Lieben, viel Spaß mit Coke, die mir den Spot freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Danke auch. Da mache ich mal gerne Werbung, weil ich dann eine kleine Story über Storytelling habe:) Die ganze Welt voller Geschichten… Süß und intensiv.

Lasst uns die Welt mit anderen Augen sehen… Prost. Hicks.

Parameter des Augenblicks

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Outstanding moments.

Manchmal hat das Leben einen wissenschaftlichen Touch. Vielleicht dann, wenn man zur Ruhe kommt und dem Luxus Zeit frönt. Heute Mittag habe ich mir einen Augenblick gestohlen und habe etwas getan, was eher eine Vorstellung als eine Wirklichkeit ist. Ich bin ins Hotel van der Werff gefahren. Mit Herrn Cooper im Schlepptau. Wir haben den Gastraum betreten und uns einen Platz am Fenster gesucht.

Ich wollte dort sitzen, bei einem der Kellner im blauen Anzug ein Bier bestellen und ein Gedicht schreiben. Dazu hatte ich mir einen Block gekauft und so einen Bic-Kulli, bei dem man zwischen vier Farben wählen kann. Herr Schönlau war bei der Waffenwahl nicht älter als sechs Jahre. Spielkind.

Dort saß ich im Hotel neben dem Billardtisch und dem Eingang zur Lobby. An einem Nachbartisch saßen ein Vater mit seinem Sohn und ein Paar. Die Erwachsenen unterhielten sich auf Englisch über die Zustände des Lebens und die Wirklichkeit. Währenddessen flirtete ein Kellner mit Herrn Cooper – schnalzte ihm zu, fütterte ihn mit Leckerlis. Dieser Gastraum ist tatsächlich ein wenig unwirklich. Ich hoffe, er wird niemals renoviert. Sie könnten Wesentliches übertünchen.

Der Raum kam mir vor wie ein Labor, in dem die Menschen die Laborratten sind. Wie viele Einflüsse, wie viele Parameter sorgen dafür, wie sich die Anwesenden fühlen? Jeder Einzelne kommt mit seiner ganzen Geschichte und der Geschichte des laufenden Tages herein. Zwischenzeitlich kamen neue Hotelgäste, weil die Fähre angelegt hatte. Die Tür flog auf, die Temperatur änderte sich, es zog, Kinderwagen wurden hereingefahren, Gepäck hineingeschleppt, Tische gerückt, um den Weg frei zu machen.

Und wie viel Einfluss hat die Geschichte dieses Raumes? Die Ölbilder von Segelschiffen, das ausgestopfte Krokodil im Regal hinter dem Tresen, die Inselfotos aus vergangenen Zeiten, all diese memorierenden Requisiten? Der Gastraum des Hotels van der Werff ist einer meiner Lieblingsorte, an die ich gerne zurückkehre. Nun habe ich dort tatsächlich ein Gedicht geschrieben. Das hatte ich vorher schon einige Male probiert. Vielleicht Schreibereitelkeit. Die oben erwähnte Vorstellung von. Da sitzen wie die Romanciers in alter Zeit und so melancholisch wunderbar am Leben leidend. Mit einer Kippe im Mundwinkel und der ausstehenden Miete im Nacken.

Ja, ich habe ein wenig geschauspielert. Mache ich manchmal. Den Alltag in seinen Möglichkeiten dehnen. Eine Freundin nennt mich deshalb tuckitucki und so ganz allmählich habe ich eine Ahnung, was sie meint. Hat Spaß gemacht, dieses Spiel aus Wissenschaft, Parameteränderung, Lyrik, Bier, Hund, Fotos, Bühne voller Requisiten.

Morgen ist dann Schluz. Ab nach Hause. Fähre, Autobahn, Heimat. Zurück in die Normalität, Spielende:)

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Held der Arbeit.

Der Mann an der Kasse im Supermarkt. Was für ein Wort S-U-P-E-R-M-A-R-K-T. Think Big. Da steht der ältere Herr. 65. Arbeiter. Der Körper verspannt, leichtes Hinken. Immer malocht. “Mit Karte?” “Nehmen Sie Mastercard?” Da hatte er mich schon. Im Aldi mit Mastercard. Klar. Die Reihe beginnt zu schauen. Schauspiel. Das würde voll daneben gehen. Einen Vormittag in der Schlange. Die Stones spielen, in Ost-Berlin gibt’s ’79 Bananen. In etwa so. 78 Euro. Zwei Paletten süßer Joghurt. Der mit der Ecke. Schokokugeln und son Gedöns. Naschkatze, dicker Bauch. Wochenendeinkauf. Die Augen nicht mehr so gut. “Nee, nur EC-Karte.” “Ja?”. Er fragt tatsächlich. Ich meine, hey. ALDI. Quadratisch, praktisch, gut. Da gibt es keine Fragen. Du nimmst die Sachen aus dem Karton, weil dus schnell und billig haben willst. Das ist der Konsumquickie. Aus dem Karton in den Wagen, den Mund. Er sieht nicht mehr so gut. Hat rotblonde Haare, Jeans, eine helle Jacke.Klein, kräftig. Fährt, wie ich später sehe, einen 83er Polo. Coupe. Metallic-Silber, Aufkleber. Klar. Fantasialand oder Sylt oder so ‘n Scheiß. Ich habs nicht gesehn. Kein Peace, kein AKW nee, kein Jesus lebt. Er legt seine Geldbörse auf die Kassenablage. Seine Hände sind etwas steif, greifen nicht so, wie sie sollten. Eher so Rückkehr zum ersten Greifen im ersten Lebensjahr. Ich gehe näher ran, will ins Portemonnaie sehen. Ein Foto von ihm auf einem Ausweis. Scheiße, ich kanns nicht sehen. Wie soll ich denn die Story im Kopf zusammenbekommen, wenn die Fakten fehlen. Was arbeitest du, Mann? Jetzt hier Rede und Antwort. Hau rein. Bleibt mir verschlossen. Ich denke, er sieht aus wie ein Ire. Er sieht nicht so gut. Also noch schlechter, als ich gedacht habe. Kramt die EC-Karte aus einem Klarsichtfach. Natürlich in der roten Kreissparkassen-Schutzhülle. Herrje. Weihnachten hab ich was vor. Die müden Hände schieben den Daumen in den Schlitz. Zwei Anläufe. Ich weiß, was kommt. Die Karte ins Terminal. Das ist so eine verfickte 3D-Denksportaufgabe mit Zuschauern. Wer wird Millionär? Na, haben wir die Karte mal wieder falsch rein geschoben? Doof oder was? Haben wir da nicht Icons? Wo gehört der Magnetstreifen hin und wo das Messingplättchen? Können wir nicht gucken oder gar begreifen? Ich sehe das als Meditationsaufgabe. Ruhig bleiben. Hinsehen, umsetzen, reinschieben. Nummer tippen, OK drücken und die Welt ist in Dortmund. Aber wennste nix siehst? Er tut mir leid. Würde ihm ja helfen, aber was würde der denken, was ich von ihm denke? Muss er durch. Ich setze auf ihn, mag ihn. Der hat Charakter, der hat sich nie gedrückt, war immer da, hat alles gemacht. Der Blick seiner Frau erzählt das. Sie liebt ihn, steht zu ihm. Dicht dabei. Die Kassiererin nimmt die Karte, führt sie ein. “Geheimzahl. OK” Drei mal macht es PIEP. Mir ist klar, das war nix. Die Kassierein löscht. Drückt drei Mal. “Sie müssen vier Zahlen eingeben. Es muss vier Mal Piep machen und dann OK.” Er lässt es piepen. Drei Mal. Ich habs mir gedacht. The same procedere again. Es ist mucksmäuschenstill. Der Backautomat, die TK-Geräte haben den Dienst eingestellt, lauschen, hinter der undurchsichtigen Spiegelwand lauert der Chef. Die Kassiererin drückt den Rufknopf. Plan B, zweite Kasse. Emergency Case. Auf ihrem königsblauen ALDI-Pullover steht AZUBI. Cool. Hat schon was gelernt. “Noch einmal die Nummer bitte.” Drei Mal Piep beim Löschen, vier Mal Piep beim Eingeben. “Die Geheimnummer ist falsch.” Geil. Jetzt fängt es an, richtig gut zu werden. Er bleibt so cool. “Kann nicht sein.” Klar, kann nicht sein. Das Terminal irrt sich, lügt ihm frech ins Gesicht. Dann eben die gleiche Nummer nochmal. Peng! Bingo! Jackpott! Siehste, das Terminal lügt. War doch klar. Hoffentlich hat er nicht den Code für die atomaren Sprengsätze der US-Force eingegeben. Wo alles vernetzt ist. Bauts. Nee. Er hat gezahlt. Ich würde gerne applaudieren, aus vollem Herzen. Der Mann ist ein Held. Der geht mit Würde durchs Leben. Ich mag Männer. Alte Männer. Gezeichnete Männer. Standhafte Männer, die dem ALDI standhalten, selbst, wenn es Scheiße läuft. Nach ihm bin ich dran. Bar oder Karte? “Karte natürlich, Baby.” Großes Kino, Highnoon. ICH WILL AUCH STANDHAFT SEIN. Bin noch nicht alt genug. Alles läuft easy durch. Wie langweilig. Wie will man sich im Leben beweisen…

Au revoir.

Au revoir.

Wenn ich Veronika gefragt hätte, wäre es dann anders gewesen? Hätte sie sich anders entschieden? Ich bin auf dem Weg nach Paris im Thalys mit einem Hinfahrtticket in der Tasche. Das erste Mal Paris und gleich unter dramatischen Umständen. Vater ist letzte Woche gestorben. Plötzlicher Herztod. Gestern war die Beerdigung. Alles schön, viele Blumen, eine liebevolle Predigt, Kaffee, Kuchen, Bier, Schnaps, Lachen. Einer hat gekotzt, heimlich, draußen, ich war kurz rausgegangen, frische Luft schnappen, nach Atem ringen, traf auf dieses Würgen, stoßweise Auswerfen von Sahnekuchen, Käsebrötchen und Pils. Stand neben dem Mann, roch die Kotze, hielt eine Hand auf seinem Rücken, schaute mir die Details an, den Prozess der Zersetzung. Magensäure, Bakterien. Eine Masse, Pampe, ein Konvolut aus Anverdautem. Mir war danach, den Moment aufzunehmen, die Kotze zu fotografieren, jedes Stückchen, jeden Brocken zu nummerieren und zu kategorisieren. Ein wenig Halt, Struktur im Moment der Auflösung. Mir war danach, etwas zu tun, zu handeln. Gerne hätte ich den Mann in seine Kotze geschubst, ihn von der Seite getreten. Stattdessen sagte ich „Arschloch“.

Heute Früh hat Veronika mit mir gesprochen. Es ist aus. Es geht nicht mehr. Es ist ein Punkt erreicht. Wir saßen in der Küche am Tisch auf den Plätzen, auf denen wir immer gesessen haben in den letzten zehn Jahren. Sie hatte zwei Cappuccino vorbereitet in französischen Kaffeeschalen. Es hätte ein schöner Moment sein können mit Croissants und einem Gespräch über Vergangenheit, Erreichtes, Schönes, Liebe, Sex. Die Sonne schien ins Fenster und warf Schattenkreuze der Fensterstreben auf den Tisch, die ich mit dem Finger nachfuhr. Früher als Kind, mit dem Matchbox-Porsche in Braun, Metallic, mein Lieblingsauto. Mit großem Spoiler, ein Neunelfer mit breitem Heckspoiler. Ich hatte kein gutes Gefühl, Veronika sah so ernst aus, als hätte sie mir etwas Wichtiges, Veränderndes zu sagen. Wir hätten Revue passieren lassen können, was war. In Fülle eintauchen, in eine Sommerwiese voller Düfte. Über Kinder sprechen, Urlaube, Freunde, Pläne, das Alter. Ich hätte sie angesehen, tief in die Augen und wäre mit meiner Hand über ihre Wange gefahren, sie hätte gelächelt. Sie lächelte nicht, stattdessen liefen ihr Tränen über die Wange, die ich nicht wegstreichen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich das durfte. Sie war so weit weg, abgetaucht, hatte eine Mauer um sich errichtet. „Victor“, sagte sie, „Victor, es ist aus.“ Das Spiel ist aus, Deutschland hat verloren, geht vom Platz, geht nicht über Los, spielt nicht im Finale. Ausgeschieden. „Ich habe mich verliebt. In einen anderen.“ Ich nahm die Kaffeeschale und trank. Der Geschmack war intensiv, ein starker Kaffee, das Koffein wirkte direkt. Das heiße Gefühl in der Kehle, weil ich zu schnell trank. Fast hätte ich gehustet. Vom Magen in die Blutbahn zum Herzen, das zu rasen begann. Ich wollte etwas sagen, wollte sprechen, reden, das Unumstößliche mit einem Satz verwandeln in eine Annahme, eine Möglichkeit, etwas Sanfteres als einen feststehenden Beschluss. Sie lächelte. Ich konnte sie nicht ansehen. Sie schien glücklich. Mir war etwas amputiert worden.

Der Hund kam, als hätte er gespürt und ließ sich kraulen. Es klingelte an der Tür, Veronika ging, öffnete, nahm ein Amazon-Päckchen entgegen. Es kam mir unwirklich vor, dass das Leben einfach so weiterging. Dass Postautos fuhren, Telefone klingelten, die Sonne schien. Wieso hielt die Erde nicht einen Moment inne, um mir die Chance des tiefen, sofortigen Verstehens zu geben?

„Ich werde dich immer lieben. Es ist nicht so, wie du glaubst.“ Sie trank kleine Schlücke ihres Cappuccinos und sah mich mit ihrem Forscherblick an, der zu sehen suchte, was in mir geschah. Der Seelenblick. Ich wand mich unter dem Mikroskop, konnte mich nicht preisgeben, wollte keine Mikrobe, kein Versuchskaninchen mit Überdosis sein. Was fühlte ich denn? Ich weiß es nicht, weiß es jetzt noch nicht, hier im Zug nach Paris, wo etwas Neues wartet, was immer das ist. Jürgen sagte, ich würde fliehen. Ich hatte ihn angerufen und gesagt, dass ich meine Sachen gepackt hätte, um zu gehen. Weg. „Überleg dir das gut. Wirf nicht alles weg. Komm erst einmal zur Ruhe. Du solltest jetzt um Gottes Willen nichts überstürzen.“, sagte er. Arschloch. Er hätte sagen sollen „Junge, komm vorbei. Wir besaufen uns und singen schmutzige Lieder. Wir treiben es mit den schönsten Frauen der Stadt und machen die Nacht zum Tag. Wir lassen nichts anbrennen und geben Vollgas.“ Nichts überstürzen. Das hätte er Vater und Veronika sagen sollen.

Den Hund habe ich zurückgelassen, obwohl es mein Hund ist. Ich kann ihm das alles nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht erklären kann. Belgien fliegt vorbei, Brüssel. Seit Köln sitze ich im Restaurant und trinke sündhaft teures Bier. Flasche um Flasche. Dazu zwei Whiskey. Die Bedienung schaut, schätzt ab, wie weit ich es schaffe und ob ich dann noch zahlen kann. Ich hasse sie in ihrer zu engen Uniform mit dem aufgesetzten, verlogenen Lächeln. „Darf es noch etwas sein?“, fragt sie mich. Mit einem Unterton des Hinauskomplementierens, weil sie weiß, dass ich sie nicht ausstehen kann und es ihr umgekehrt genauso geht. „Die Bockwurst mit Kartoffelsalat, danke.“

Christine wartet am Gare du Nord. Wir haben zusammen studiert, sie ist nach Paris gegangen. Wir waren kein Paar und doch irgendwie. Oft habe ich mit ihr in einem Bett geschlafen und hätte gerne, aber sie strahlte mir gegenüber eine Aura schwesterlicher Unberührbarkeit aus. Sie roch gut. Immens gut. Lag ich hinter ihr und mein nicht zu verbergender steifer Schwanz forderte mehr, kicherte sie. „Was ist das?“ „Sorry, ist nicht so gemeint.“ „Wer meint das nicht so? Du oder er?“ „Christine, das ist nicht willentlich, das ist eine rein nervlich-hormonelle Regung. Pavlow. Reiz-Reaktions-Schema. Männliche Banalität. Vergiss es, schlaf gut, träum süß.“ Und dann ließ sie es sich nicht nehmen, mit verstellter Vamp-Stimme „Baby, irgendwann werden wir es tun“ in den Raum zu hauchen, um sich dann kaputt zu lachen. Und mit mir ging die Fantasie durch.

Ich werde bei ihr schlafen. Keine Ahnung, wie sie wohnt, lebt. Mit, ohne Freund, Mann, Kind, Hund. Ich habe ihr gemailt, dass ich nach Paris komme, dass ich Probleme habe und eine Unterkunft brauche. Sie hat geantwortet, ich solle kommen, ihr die Ankunftszeit mailen, sie würde mich abholen. 19 Uhr 37. Diese krummen, hässlichen Zahlen stören mich, weil ich sie einfach nicht mag. Wie will man da pünktlich sein? Wer will um 19 Uhr 37 irgendwo ankommen? Ich nicht.

Der Kartoffelsalat ist widerlich. Ich muss an die Kotze vom Tag vorher denken. Falsche Entscheidung. Sämige Kartoffeln, Mayonnaise und ein wenig Alibi-Petersilie oben drauf. Um mich herum Männer und Frauen im Businesslook und im Gespräch mit ihren iPhones, obwohl hier überall Aufkleber mit durchgestrichenen Handys hängen. Alle tuscheln, tippen, gucken, keiner sagt was. iPhones sind keine Handys. Scheinbar.

Paris habe ich mir bislang geschenkt. War nie dort, habe keinen Fuß in die Stadt der Liebe gesetzt. Eine Stunde noch und ich werde dort sein. Ankommen. Was für ein großes Wort. Mein Französisch ist so Olala, Schule, elfte Klasse abgewählt aus Faulheit. Vokabeln. Passte irgendwie nicht in mein Abi-Punktekonzept. Da gab es nichts zu holen. Schulfranzösisch. Bonjour. Au revoir. Madame!

Der Alkohol wirkt, die Mayonnaise. Mir ist schlecht aus den unterschiedlichsten Gründen. „Bitte zahlen!“. Schleppe mich in ein Abteil mit freiem Platz. Erste Klasse, obwohl ich nur ein Zweite Klasse-Ticket habe. Ich schlafe ein, ruckele durch mein Leben bis nach Paris. Irgendwann werde ich ankommen. „Bonjour, Christine! Madame!“

Rat Pack on the Run

Es hatte den ganzen Tag geschneit und die weiten Felder waren bis zum Horizont mit einer dicken weißen Schicht bedeckt. Es war Abend, der Vollmond schien, keine Wolke bewegte sich am Himmel. Sterne über Sterne prangten am Himmel, als ein kleiner Pritschen-LKW mit Plane sich über die Landstraße schlängelte.

„Boah ey, wo hat denn der Typ fahren gelernt. Ich muss echt gleich kotzen.“ meinte Pit. „Hey, kannste dich mal zusammennehmen. Wir sitzen hier in einem Boot, äh Käfig, da kommt Kotzen ziemlich schlecht.“ Pernilla hatte wirklich schlechte Laune, weil sich der Tag zum ganz Schlechten gewendet hatte. Hier saßen die beiden Angorahasen in ihrem Käfig und wurden kurz vor Weihnachten in die Stadt gefahren, um in der Tierhandlung am Markt die Angorahasenbestände aufzufüllen. „Ist dir auch so scheißekalt?“ „Pit, kannste bitte in dieser vertrackten Situation ein klein wenig mehr Haltung bewahren? Das wäre nett.“ „Nett, nett. Hier hier is gar nix nett. Überleg mal. Wir sitzen hier in diesem duseligen Käfig, gefangen wie der Graf von Montechristo und werden bald in dieser duseligen Tierhandlung zum Begaffen und Rumgetatsche freigegeben. ‚Och schau mal, wie süß. Ob das ein Pärchen ist? Die wären doch was für unsere kleine Lilly, oder was sagst du, Opa?’ Das erwartet uns.“ „Woher weißte denn das?“ „Haben die anderen erzählt. Wenn du Pech hast, kommste ins Schaufenster. Da hockst du dann wie in der Peepshow und wirst beglotzt. Biste grad mal weggedöst, haut irgend so’n Hirni gegen die Scheibe. Terror, sage ich die dir.“ „Weißte Pit, du kannst einem aber auch Freude bereiten. Kannste jetzt mal bitte einfach die Klappe halten?“ „Klappe halten, Klappe halten? Ne, ne. Sollen es ruhig alle hören. Meinetwegen auch der Stümper am Lenkrad. Wie fährt der überhaupt? Weißte, die Menschen, die sind fein raus. Haben alles. Menschenrechte und so. Charta der Vereinten Nationen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und wir? Werden ohne Prozess eingesperrt. Straftatbestand: Geboren als Angorahase. Das ist purer Rassismus. Das ist. Ah, ich darf gar nicht dran denken.“ Mit seinen Pfoten trommelt Pit gegen die Gitterstäbe und schreit so laut er kann verzweifelt in die Welt „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ „Jetzt hör mal auf!“ schnauzt ihn Pernilla an, „Ich muss nachdenken.“ „Nachdenken, guter Zeitpunkt.“ „Genau der richtige Zeitpunkt. Wir müssen hier raus sein, bevor wir in der Stadt sind. Pit, wir machen die Biege.“ „Ja klar, Eisenbieger-Pernilla. Willste die Gitterstäbe auseinanderbiegen und wie ein Vogel in die Freiheit fliegen?“ „Kannste mal bitte, bitte mit dem destruktiven Gefasel aufhören? Wenn du hier die großen Hasenrechtereden hältst, dann kannste auch genauso gut einen Ausbruchsplan entwerfen.“ „Klar, Frau Pernilla ist ja so klug, die weiß, wie wir hier rauskommen.“ „Zumindest steck ich nicht den Kopf ins Futter und lass mir das hier gefallen. Zwei Hasen in diesem blöden Käfig. Zum Pinkeln in die Ecke, kaum Streu und Futter is auch keins da. Was die sich denken.“ „Haste ’nen Plan?“ Pernilla zieht sich in eine Ecke zurück, mummelt sich ein, legt die Angorahasenohren nach hinten und schließt die Augen. „Hey Pernilla, pennste jetzt, oder was?“ „Ruhig Pit. Situationsanalyse.“ „He?“ „O.K. Setz dich, schließ die Augen. Wir denken nach. Fakt ist folgendes: Wir sitzen in einem beschissenen Käfig. Sind eingesperrt. Von der Freiheit trennen uns ein paar Gitterstäbe. Der Käfig hat unten eine Plastikwanne, durch die wir uns nicht durchnagen können. Zu glatt, habe ich probiert. Obendrauf sitzt der Gitterkäfig. Der wird mit zwei Verschlüssen rechts und links gehalten. An die kommen wir nicht ran, weil die außen liegen. Oben ist das Törchen, das mit einem kleinen Riegel verschlossen ist. Auch außen. Plan A: Wir öffnen die Verschlüsse an der Seite, Plan B: Wir versuchen es mit dem Törchen. Was uns fehlt, ist Werkzeug. Mist.“ „Pernilla, Pernilla. Ich hab’s.“ „Ja?“ „Die Wasserflasche.“ „Die Wasserflasche?“ „Ja, hilf mir. Schau, wir ziehen das Trinkröhrchen raus. Das ist aus Alu, das können wir als Hebel benutzen, um den Riegel wegzuschieben.“ „Pit, du bist genial.“ Und so ziehen die beiden das Aluröhrchen aus der Flasche und Pernilla setzt den Hebel an, um den Riegel zu öffnen, was ganz leicht ist. Sie klettert auf Pits Rücken und drückt die Klappe nach oben auf. „Pssst. Jetzt ganz ruhig, Pit. Ich gehe vor, und geb dir meine Pfote. Daran kannst du dich hochziehen. O.K.?“ „O.K.“ Gesagt, getan. Nach wenigen Sekunden klettern die beiden über die anderen Käfige. Niemand sonst will mit, will das Risiko Freiheit wagen. „Ihr Schnarchnasen“, sagt Pit. Schon stehen sie hinten an der Ladeklappe und schauen in die Vollmondnacht. „Und Action, baby, wir müssen springen.“ „Pit, denk mal bitte schön nach. Wollen wir uns die Knochen brechen? Das hier müssen wir durchdacht durchziehen. Wir warten, bis der LKW an einer Kreuzung hält und dann: Jump.“ So stehen Pit und Pernilla dort hinten und schauen auf die Straße, über die Felder in den Vollmond beschienenen Sternenhimmel. Da hält der LKW kurz an einer Kreuzung. Die beiden sehen sich an, geben sich lautlos Zeichen, Pernilla springt, Pit hinterher. Mit ihren kleinen Hasenhintern landen sie im tiefen Schnee, ducken sich, ziehen die Ohren ein und warten. Endlos scheint die Zeit. Hat sie der Fahrer im Spiegel springen sehen? Werden sie gleich die Tür hören, Schritte? Der LKW fährt an, die Motorengeräusche entfernen sich, vier Hasenohren stellen sich auf, zwei Hasennasen erheben sich aus den Schneekuhlen, wittern. Sie springen auf, geben sich Five, lachen, toben durch den Schnee. „Frei, frei, frei!“ Dort sitzen sie nebeneinander. Glücklich. Doch es ist kalt. Sehr kalt. Sternenklare Nacht, es friert. „Du Pit, und jetzt?“ „Äh, keine Ahnung.“ „Weißt du Pit, wir sind Angoras. Drinnenhasen und so. Die andern hier, die Draußenhasen, die sind anders. Die wohnen irgendwo da unten in ihren Erdlöchern und haben es kuschelig.“ „Erdlöcher? Ich. Da wird ja das Fell ganz schmutzig. Ne du, nix für mich. Allein die Vorstellung. Dreck und Pampe und so. Uaahhh.“ „Aber Pit, wir müssen was machen. Wir brauchen einen Plan, sonst sind wir hier morgen steif gefrorene Osterdeko zu Weihnachten.“ „Pernilla, deinen schrägen Humor kannste dir echt mal einrollen. Krass. Du kannst doch nicht in dieser Situation…“ „Quatsch keine Opern, mir ist scheißekalt. Da hinten irgendwo ist ein Licht. Los, beweg dich. Kann der feine Angoraherr auch laufen?“ „Ungern, aber wenn es sein muss. Und Abgang.“ Die beiden laufen, was das Zeug hält, dem fernen Licht entgegen. Die Strecke wird kaum kürzer und sie haben Hunger. Pernilla läuft voraus und zieht Pit hinter sich her. Ermuntert ihn, nicht aufzugeben. Kämpft, mit der Kälte, den schmerzenden Pfoten, den Schneeklumpen im Fell, dem Jammern hinter sich. „Ich hasse Natur. Wer ist bloß auf die duselige Idee mit dem Schnee gekommen. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Das ist anstrengend, kalt, doof, doof, doof…“ Und so zetert Pit und schimpft und Pernilla läuft und zerrt und motiviert. „Da vorne, schau, ein Hof. Dort gibt es mit Sicherheit ein schönes Plätzchen für uns. Einen Stall mit Heu.“ Tatsächlich. Der Hof liegt ruhig in der Schneenacht, der große Hund im Zwinger schläft tief und fest und gleich neben der Traktorenhalle, wo die riesigen Geräte unheimliche Schatten werfen, finden Pernilla und Pit den Heuschober. Mit ihren Pfoten bahnen sie sich einen Weg hinein und bauen sich ein kleines Nest. Futtern vom guten, duftenden Heu. Erschöpft legt sich Pit in seine Lieblingsschlafposition auf die Seite, legt eine Pfote auf die Wange und schläft sofort. Pernilla kuschelt sich an seinen weichen Angorabauch, legt die Ohren fein zurück, schließt die Augen und denkt „Wie schön ist Weihnachten in Freiheit.“

P.S. Zoe konnte gestern Abend nicht einschlafen. Da habe ich ihr in etwa diese Geschichte erzählt. Ein Ritaul, das Wunder wirkt. Und so gemütlich. Kein Mucks ist von ihr zu hören und am Ende immer, wenn die Tiere irgendwo gut und sicher angekommen sind, ist ihr Atem ganz ruhig und es dauert nicht mehr lange, bis sie eingeschlafen ist. manchmal ist es einfach so schön, Papa zu sein. Und weil bald Weihnachten ist, habe ich sie euch heute Morgen aufgeschrieben. Die Sprache ist übrigens so gewählt, weil das mit den ganz süßen Storys nicht mehr läuft. PAPA! Da muss also schon ein wenig mehr Power drin sein, weshalb Pit und Pernilla ein wenig relaxter reden:) Macht mir auch Spaß, frecher zu sein.