Projekt Elaine 6

Irgendwann traf sie Bob, einen Fotografen. Einen schönen Mann. Einen, der tragen kann, was er will. Jeden Look. Einen mit Ausstrahlung. Einen mit diesem Lächeln, dem Blick der zarten Seele und der notwendigen Verruchtheit. Einen, der im richtigen Augenblick den richtigen Satz sagt. Einen mit schwarzen Punkten auf der Seele. Genügend Mann und immer noch genügend Junge. Sie hatte in einem alten Bunker gekellnert, um sich das wenige Geld zu verdienen, dass sie hier brauchte. Das Wochenende allein reichte inklusive der Trinkgelder fast zum Leben. Die Miete war lächerlich gering. Den Rest verdiente sie mit Jobs, die sich überall auftaten. Umzüge, Modell stehen, Wände streichen. Irgendwer hatte immer irgendeinen kleinen Job. Es gab viel zu tun. Bob hatte sie im Bunker angesprochen, weil er Models suchte, um die Kollektion eines Freundes, eines Designers zu fotografieren. Frauenkleidung aus alten Uniformen geschneidert. Martialisch, figurbetont, wild. Kurze Faltenröcke aus Filz kombiniert mit Fliegerjacken und schweren Stiefeln. Er beschrieb ihr den Job, sagte, dass sie ihm aufgefallen sein, wegen ihrer Größe und dem ungewöhnlich schönen Gesicht.

Er hatte es ernst gemeint. Sie hatten sich nach ihrer Schicht verabredet, waren über den Prenzlauer Berg gezogen, hatten sich auf Wodka geeinigt und waren in ihrem Bett gelandet. Am nächsten Tag hatten sie sich gegenseitig gepflegt. Er hatte am frühen Nachmittag Kaffee gekocht, sie hatte Aspirin besorgt. Sie waren wieder im Bett gelandet, konnten nicht genug kriegen. Lagen sich in den Armen, waren verzaubert, verliebt.

Sie wurde sein Model, seine Muse, seine Begleiterin. Emmi war im Westen angekommen. Anfangs verstand sie nicht, weshalb ihr Leben so gar nichts mit dem zu tun hatte, was sie erwartet hatte. Föderalismus, Bundestag, Mittelgebirge. Nichts davon bekam sie zu Gesicht. Stattdessen eine Stadt ohne Grenzen, einen Ort, der sich selbst erfand. Voller Geschichte, die zu fühlen war. Die aber nur benutzt wurde, um Neues zu schaffen. Ein bunter Baukasten mit Versatzstücken, Zeitfetzen. Material. In den Kneipen wurde Brecht gelesen, Heiner Müller. In Rap-Form, begleitet von selbstgezimmerten Instrumenten. Geschrien. Hammond-Orgeln, kleinen Posaunen, Töpfen, Tonbandgeräten. Mit unterlegten Beats. Eingebettet in aufkommenden Techno. Electronic. Pillen. Emmi nahm es als Zirkus, als Theater, als real existierende Fantasiewelt. Das Bunte trennte sie vom Kaputten. Sie blickte ins Licht. Dieses Deutschland gefiel ihr. Ein Märchenland jenseits kapitalistischer Zwänge. Nichts durchgerechnet, betriebswirtschaftlich optimiert. Wer eine Wohnung brauchte, konnte sich eine suchen. Wer ein Theater eröffnen wollte, der tat es. Ohne Kalkulation, wirtschaftlichen Zwang als Pistole an der Schläfe. Aufbruch, Morgendämmerung, Freiheit.

Bobs andere Frauen störten sie nicht. Manchmal war er einfach weg. Kurz vorher hatte er sie noch geküsst, hatte sie umarmt, ihr Liebe ins Ohr geflüstert. Dann hat er sich in Luft aufgelöst. War vom Set verschwunden, von Partys, aus ihrem Zimmer. Ein Getriebener, einer, der den Kick sucht, der ihn braucht, der das Adrenalin im Blut spürt und liebt. Sie verstand es nicht, konnte das nicht nachfühlen. Manchmal gab es Streit, wenn er sein Spiel zu offensichtlich, zu gefühllos, zu provokant trieb. Er hatte versucht, es ihr zu erklären. Dass er als Fotograf in dieser Zeit an diesem Ort nicht gewöhnlich sein kann. Dass er raus muss, das Leben an die Grenzen treiben, mit der Gefahr spielen, mit der Lust. Nur dann könne er kreativ sein, könne Ungewöhnliches schaffen, könne abheben, sich aus Mustern lösen, seine tief verwurzelte Spießigkeit überwinden. Er sagte, er würde es mit Neil Young und Curt Cobain halten, der sich gerade mit einer Schrotflinte den Kopf weggeschossen hatte: „It’s better to burn out, than to fade away.“

Es war ihr nicht egal, aber fraß sie auch nicht auf. Sie war froh, ihn zu haben. In Teilen zu haben. Komplett hätte sie ihn wahrscheinlich nicht ertragen. Die Pausen gaben ihnen die Möglichkeit, zusammen zu sein. Sie musste nicht mehr kellnern, teils hatte Bob lukrative Jobs aufgetan. Mainstream. Sie modelte ab und an für Marken, wurde hofiert, bekam für ein Shooting Geld für einen ganzen Monat. Als sie schwanger wurde, sie war sich fast sicher, dass Bob der Vater war, hatte sie genug Geld für ein Jahr. Sie zog sich aus dem wilden Leben zurück, durchstreifte die Stadt, erinnerte sich an ihren Vater, besuchte Museen, saß in feinen Cafés, lernte kochen, wurde häuslich und wurde es nicht. Wie sie sich auf dieses Kind freute. Ihr Kind. Ein Neuanfang ihrer Familie. Ein Leuchten. Es war ein Mädchen. Bei der Geburt weinte sie. Bob war nicht da. Aus einem Impuls heraus gab sie ihrer Tochter, gegen die Namensgebungsgewohnheiten der Szene, den Namen ihrer Mutter: Susanne.

Ich biet’ euch Trotz, ihr Sterne!

Da kommt Unterstützung von einem alten Schreiberkollegen. Shakespeare, mein Freund. Romeo und Julia. Verona. Der hatte es drauf. Was für eine Sprache – und ich habe die gesammelten Werke, alle Stücke, auf dem Speicher eingemottet. Schäm dich aber auch, Herr Schönlau! Der Schönheit Glanz nur allzu dürftig gar verpackt in Umzugskartons! Neumodische Einrichtungsideen, die Klarheit durch die Abwesenheit von Bücherregalen erzeugen. Raum! Atmen! Kein Shakespeare, oh.

Der Satz, das Zitat der Überschrift kam mir gestern in den Sinn. Ich hatte die bremsende Sternenkonstellation im gestrigen Schmalspur-Beitrag erwähnt und prompt antwortete Pia per Mail. Sie sendete mir eine detaillierte Beschreibung der momentan schwierigen Sternenkonstellation, die für uns menschlich-irdischen Wesen so gar nicht einfach ist. Pia? Kennt ihr noch nicht alle. Ich darf die Gelegenheit nutzen und sie euch kurz vorstellen. Eine sehr spannende Frau mit vielen guten Eigenschaften. Auf einer Burg aufgewachsen, wird sie nun wieder auf eine Burg ziehen und dort mit Ihrem Mann leben. Das wird sie inspirieren, noch schönere Zeichnungen anzufertigen. Sie zieht von Köln aufs Land! Pia ist geheimnisvoll, trägt das alte Wissen der Frauen in sich und veröffentlicht ihre Zeichnungen in ihrem Blog Unterdenerstenzehn. Hier möchte ich gerne eine Empfehlung mit Leuchtsternchen aussprechen. Ich hoffe, ihr erlaubt…

Er redet wieder. Herr Schönlau, zurück zum Punkt. Der Sterne Qual. Jetzt versucht er’s auch noch mit Poesie. Lass Gnade walten. O.K, O.K. Weiter im Text. Kleine Arabeske. Also: Pia sendete mir folgendes Zitat von einem gewissen, von Frau Uhlemann sehr geschätzten Herrn Winfried Noé. Ich habe recherchiert und seine Seite im Internet aufgetan – war ja nicht schwierig. Rein in Google und ab dafür, wie Zoe immer sagt. Hier der Link – unten rechts findet ihr die monatliche Sternendeutung. Und was hat der gute Herr Noé für den Oktober und gar die momentanen Tage geschrieben? “Überhaupt könnte man sagen, dass Sie mit dem Neumond vom 07.10. ungehindert voll durchstarten könnten, es langfristig bergauf geht, wenn da nicht vom 20.-23.10. das Mars-Neptun Quadrat vom Skorpion in den Wassermann wäre, das auch die super vorbereiteten Projekte zum Scheitern bringt. Man will und kann nicht. Deshalb an diesen Tagen Füße hoch legen und still sein.”

Freibrief. Könnt ihr jetzt ausdrucken, euch selbst, dem Chef oder Angela Merkel (die ich gerade nicht mehr mag, muss ich jetzt mal sagen) vorlegen und dann die Pausentaste des Lebens drücken und abwarten. Zurücklehnen und mal wieder Shakespeare lesen. Allerdings nicht Romeo und Julia, denn sonst kommt ihr an die Stelle, wo es “Ich biet’ euch Trotz, ihr Sterne” heißt! Und was würdet ihr dann machen? Ich für meinen Teil habe mich zumindest entschieden, auf Romeo zu hören und es zu versuchen. Mit diesem Text. Gegen alle Sterneneinflüsse. Als versuchte ich, sternenklar zu sein. Clean, streifenfrei sauber.

Wir werden sehen, wie der weitere Tag läuft. Ach ja, was ich noch sagen wollte. Denkt bitte nicht, ich würde den Sternen nicht glauben. Mittlerweile kenne ich ihre Kräfte. Der Mond zum Beispiel, der gute Bruder über uns, lässt kurz bevor er voll am Himmel steht meine Kinder unruhig schlafen. Als die Babys waren, war die Nacht auf Vollmond oft einfach abzuhaken. Hier spricht also das geheime Wissen der Väter. Und wenn ich zurückschaue auf die merkwürdige Stimmung in diesem Land, die seit Wochen eine unausgegorene, trübselige Schlaffigkeit angenommen hat, dann muss ich sagen: Herr Noé. Sie machen einen guten Job!

So, dann macht mal. Alles so, “Wie es euch gefällt”. Entweder ihr zähmt das/der/die Widerspenstige in euch, oder ihr lasst geschehen, was eh unaufhaltsam ist. Die Sterne, die Sterne und du… Ciao.

Heute mal entschleunigt.

Gestern Abend war es spät. Gestern Nacht. Nach einem schönen Abend mit leckerem Essen und Wein haben wir noch die Küche so weit aufgeräumt. Teller in die Spülmaschine, Schüsseln gespült. Dann ab ins Bett. Jetzt bin ich ein wenig schlaftrunken und noch müde. Gähn. Hab aber ein paar Sachen auf dem Schreibtisch. Dabei bin ich heute so was von überhaupt nicht motiviert. Ich könnte mich jetzt sehr gut in mein Bettchen kuscheln und die Decke drüber ziehen. Das Einzige, was hilft, ist Entschleunigung. Heute muss alles mal langsamer und entspannter ablaufen. Mach ich halt länger. Für das Mittagessen ist noch Lasagne und Tiramisu da und für heute Nachmittag wäre da auch noch ein Stückchen Käsekuchen. Hat alles gut gepasst, da muss nix weggeworfen werden.

Erste Maßnahme im Rahmen der heutigen Entschleunigung ist das Schreiben des kürzesten Blogartikels meiner Bloggerkarriere. Beim Spaziergang mit Cooper hatte ich überlegt, worüber ich heute schreibe. Ich hatte mehrere Themen, habe aber nicht den richtigen Drive. Für gute Blogtexte brauche ich einfach eine Einflugschneise mit Speed. Da ist heute nix zu holen. Gestern Abend sprach irgend jemand von einer schwierigen Sternenkonstellation momentan. Ja, wenn das so ist… Damit ihr heute nicht vergeblich auf einen Eintrag wartet – erst wollte ich gar nicht schreiben – hier nun also einfach diese Statusmeldung zur Information. Morgen gibt es dann wieder einen richtigen Beitrag. Ciao.

Wenn Männer Damenunterwäsche kaufen…

…kann es schon einmal peinlich bis turbulent zugehen. Ich spreche aus Erfahrung. Aktueller Erfahrung. Yes, I did it. Ich habe meiner Freundin Unterwäsche gekauft und geschenkt. Zum Geburtstag. Als sie mit den Kindern in den Herbstferien auf Schiermonnigkoog war, bin ich Shoppen gewesen. In Siegen. Ich hatte mich vorab für drei Geschenke entschieden, was die Sache nicht einfacher gestaltete. Unterwäsche, Parfum und einen Ring. Ups! Größenwahn. Die dreifache Herausforderung, der ultimative “Kenne-ich-meine-Freundin-wirklich-Test”.

Beim Parfum habe ich mich relativ schnell entschieden. Ich hatte eine genaue Vorstellung, bin in den Laden, habe getestet, gekauft und war zufrieden. Das mit dem Ring war wesentlich schwieriger. In den Läden lag irgendwie nur so konventionelles Zeugs rum. Siegen? Nichts Flippiges, Modernes, Gewagtes, Außerordentliches. Ich war in so vielen Schmuckläden und nichts aber auch gar nichts hat mir gefallen. Letztlich fündig geworden bin ich einem Katalog. Der lag bei uns Zuhause rum und darin sind viele schöne Sachen für Frauen. So weit ich das beurteilen kann. Unter anderem war da ein Ring, der aus einem dicken Silberdraht ungleichmäßig aufgewickelt ist. Keine gerade, einfache Form. Ein Durcheinander. Hat mir gut gefallen, habe ich dann dort gekauft. Sorry, Fachhandel.

Das war also nicht ganz so einfach. Schwieriger wurde es mit der Unterwäsche. Eine Gratwanderung. Was mir da so alles entgegenleuchtete, schien teilweise eher für die pornografische Industrie gemacht. Üppig, ausladend, unterstützend, weglassend. Ich weiß nicht genau, ob Frauen so etwas fühlen oder da ein Markt für Männerfantasien befriedigt wird. Vieles wirkte einfach billig bis extraordinär billig. Musste ich durch. Von Laden zu Laden, von Fachgeschäft zu Fachgeschäft. Vieles war mir einfach zu grob. Dicke Rüschen und fette Spitze. Nix für Ela, denke ich.

Fündig geworden bin ich, ihr glaubt es kaum, bei Karstadt. Jenem fast insolventen deutschen Traditionskaufhaus mit dem Einkaufscharme einer anderen Zeit. Manche mögens, manche findens vielleicht kultig, manche sehens pragmatisch. Nun gut. Ich war hilflos und suchend. Hatte mir schon einige Male von Frauen, die neben mir nach Unterwäsche forschten, Blicke zuwerfen lassen müssen. Was immer die bedeuteten. Zumindest kam mir das so vor. Wahrscheinlich war das einfach meine verklemmte Vorstellung, dass frau mich für einen Wäschefetischisten oder Wolllüstling hielt. Die Wäscheabteilung ist einfach kein Männerrevier. Ich sah junge Paare, die gemeinsam Wäsche kauften. Aber ein Mann, der sich da allein durchwühlt? Verdächtig. Oder Männer-Paranoia…

So stand ich da im Karstadt zwischen Push-ups und Strings, zwischen alten Frauen mit Übergrößebedarf und jungen Frauen mit reichlich kleinen Teilen in der Hand. Und umgekehrt. Ich habe nicht gestarrt, neugierig beobachtet oder bewertet. Es ließ sich einfach nicht vermeiden, das zu sehen. Im war mittendrin! Letztendlich bin ich bei Unterwäsche der Marke Triumph gelandet. Ein etwas unglücklicher Name, der eher an Nachkriegsunterwäsche erinnert. Ganz alte Zeiten. Aber, Überraschung. Sehr wunderbar. Fein verarbeitet, schöne Formen, angenehmes Material. Dezent. Auf jeden Fall habe ich mich gefreut, Wäsche gefunden zu haben, die zu mir passt. Äh, ich meine, die zu Ela passt. Freudsche Fehlleistung. Is ja auch egal.

Problematisch war die Größe – diese Zahlen-Buchstaben-Kombination. Ela schneidet die störenden Zettel immer raus. Ich hatte was im Kopf, wollte das aber lieber mit einer Verkäuferin abklären. Es kam, wie es kommen musste. “Ist sie so gebaut wie ich?” Herrje. Wo sollte ich denn da hingucken? Aktives Vergleichen von Ist-Zustand und Erinnerung. Ela war schließlich auf Schiermonnigkoog. Wir haben uns dann allmählich angenähert, an die Größe, und letztendlich hat alles gepasst. Puh! Heute habe ich Ela das Ergebnis meines Wäscheabenteuers in Siegen geschenkt und – es hat ihr gefallen. Und passen tut sie auch, die Unterwäsche. Bei dem Parfum ist sie noch unsicher. Sie ist Waage. Abwarten, wie sich das entwickelt. Der Ring gefällt ihr sehr gut.

Ihr seht, es ist gar nicht so einfach, Mann zu sein. Manche Herausforderungen sind wirklich um ein Vielfaches größer als das Fällen eines riesigen Baumes. Euch allen einen schönen Tag. Jens.

P.S. Ela war einverstanden, dass ich an ihrem Geburtstag über das Thema blogge. Sie musste schmunzeln. O.K. Jetzt verbringen wir einen gemeinsamen Tag und heute Abend wird gefeiert.

Projekt Elaine 5

Nach der Wende, als die Mauer in Berlin gefallen war und sich der kalte Krieg in die neuen Konflikte der Welt aufzulösen begann, kam sie aus Prag. Sie wollte die komplette Wende, die Ablösung ihrer Vergangenheit durch einen gleichsam globalen und individuellen Wandel. In Prag gehörte sie der deutschen Minderheit an. Ihr Leben lang hatte sie sich dort als Fremde gefühlt, als eine Deutsche unter Tschechen, obwohl sie beide Sprachen akzentfrei sprach. Ihr Vater sagte „Eines Tages werden wir frei sein, werden dieses Land verlassen und nach Deutschland gehen.“ Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater sie noch intensiver deutsch erzogen, hatte sie nach der Schule, nach dem Unterricht in tschechischer Sprache, unterrichtet. Hatte mit ihr die Klassiker gelesen. Er erklärte ihr den Aufbau der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, das föderalistische Prinzip, die Aufteilung in Bund und Land, in Bundestag und Bundesrat. Sie kannte das Grundgesetz, das Wahlrecht. Die geografischen Gegebenheiten, die Mittelgebirge und Ebenen, die Flüsse und Seen, die großen Städte und die Geschichte. Er wollte sie vorbereiten auf einen Tag, an dem sie Tschechien verlassen konnten. Dann sollte sie so weit sein, sollte wissen, was auf sie zukommt und wie das Leben dort im Westen Deutschlands funktioniert. Ihre Mutter war früh an Krebs gestorben, da war sie, Emmi, zehn Jahre alt. Ihr Vater gab dem Sozialismus die Schuld am Tod seiner Frau, er zerbrach, verweigerte sich innerlich, kappte die Verbindung zur Welt und konzentrierte sich darauf, seiner Tochter eine Bildung jenseits des sozialistischen Systems geben zu können.

Als die Wende kam, war ihr Vater bereits ein Jahr tot. Er hatte sie herannahen sehen, hatte bis zu letzt gehofft und musste doch vorher kapitulieren. Das Herz setzte aus, Bypässe und ein Schrittmacher wurden gesetzt, es half nicht. Sie hatte trotz Doppelbelastung ihr Abitur geschafft und wollte studieren, als die Grenzen geöffnet wurden. Sie war allein, hatte wenige Freunde. War ungebunden. Sie jobbte in Kneipen als Kellnerin, schlief ab und an mit Männern, deren Lächeln ihr gefiel. Sie wollte Spaß, wollte Lachen, eine Sehnsucht befriedigen. Es gelang ihr nicht. Obwohl es in Prag brodelte, die Veränderung überall Einzug hielt, plötzlich so vieles möglich war, sie wollte weg. Die Stadt war ihr zu grau, zu grimmig, zu sehr vom Alten besetzt.

Sie wollte nur für ein Wochenende fahren. Nach Berlin. In die kommende Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Es war ihr nicht klar, ob sie wegen ihres Vaters fuhr oder aus ihrem eigenen Verlangen nach Veränderung heraus. Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal. Ihre Eltern waren tot, der Sozialismus begraben, ihre Vergangenheit war wie ausgelöscht. Für sie gab es nur noch Gegenwart und Zukunft. Sie stand am Anfang eines neuen Lebens. Sie wollte Tschechien nicht aufbauen, kein Teil eines Neuanfangs werden. Es war ihr egal. Sie wollte leben.

Berlin erreichte sie per Bahn. Sie hatte ihren Koffer gepackt und war losgefahren. Wahrscheinlich würde sie nicht zurückkommen. Sie hatte ein gutes Gefühl, ein wildes Gefühl. Als sie in Berlin eintraf, lächelte sie. Sie konnte bei einer Tschechin, die sie flüchtig kannte, am Prenzlauer Berg unterkommen. Wohnraum gab es genug. Sie hatte ein großzügiges Zimmer für sich allein in einer Altbauwohnung. Sie landete inmitten einer neuen Kultur der Projekte. Jedes Ladenlokal wurde zu einem Atelier, einer Galerie, zur Schaltzentrale eines Aktionsbündnisses. Hinterhöfe wurden besetzt, Werkstätten, Hallen umfunktioniert. Szenekneipen schossen wie Pilze aus dem Boden. Discotheken in Kellern, Bars, Clubs. Mit Lizenz, ohne Lizenz, egal. Keinen kümmerte es. Es war ein riesiger Tummelplatz entstanden, ein von den Behörden im Wendengewimmel nicht zu beherrschendes Chaos. Freiraum, Möglichkeiten, Inspiration, Leidenschaft, Enthusiasmus allerorten. Und Emmi mittendrin. Sie hatte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität Germanistik studieren wollen. Das war ihr grober Plan, den sie sich in weiteren Facetten nicht ausgemalt hatte. Aber dazu kam es nicht, dazu ließ ihr die Stadt keine Zeit. Sie hielt sie im Osten, am Prenzlauer Berg, lockte sie, rief. Sie blieb.