Leben im Arbeitsmodus.

Kennt ihr diese schönen, weichen Momente? Geklaute Augenblicke, wenn alles weichgezeichnet ist und sich unheimlich gut anfühlt? Wenn man das, was man gerade erlebt, spürt, fühlt, gerne für immer halten möchte?

Die Momente, Augenblicke dauern nicht lange. Flashs. Kommen, bleiben kurz, ziehen vorüber. Zumindest bei mir. Ich denke, ihr wisst, wovon die Rede ist. Für mich sind das, ich hoffe das klingt jetzt nicht viel zu pathetisch, lyrische Momente. Ich habe das Gefühl, dass sich dann Tore öffnen, die den Weg freigeben. Zu einem Palast, einem großen Schloss, einem Versaille. Zu einem Ort, der Raum gibt und dabei etwas Elegisches hat. Klingt nach Kitsch. Ich weiß, das ist ja das Problem. Wie viel Emotion ist in unserem Leben erlaubt? Was dürfen wir? Welche Menge an zugelassenen Gefühlen passt? Im Alltag. Real Life.

Die Romantiker haben in ihren Gedichten permanent von Sternen und Himmel geschrieben. Von Weite und Gott. Friedrich von Hardenberg, Novalis. Das ist eine Tür, die heute geschlossen ist. Die Pop-Musik darf das. Chris Martin von Coldplay darf das. “Look at the stars. Look how they shine for you. And everything you do. Yeah they were all yellow.” Und es löst eine Sehnsucht aus, der Millionen Menschen folgen, weil sie die Musik hören. Live, im Radio, vom iPod.

Heute Morgen stand ich in der Küche. Zoe hat bei einer Freundin übernachtet, weshalb ich nur Jim zu versorgen hatte. Weniger Aufwand, mehr Zeit. Weil er gerade eine feste Zahnklammer bekommen hat, kann er momentan nur Weiches essen. Die Zubereitung im Handumdrehen, warme Milch auf ein paar Reispops. Also hatte ich Zeit. Machte mir einen Cappuccino und hörte Coldplay. Stand mit dem Rücken an der Küchentheke und konnte Martins Worten folgen. The Scientist. “Nobody said it was easy. No one ever said it would be this hard. Oh, take me back to the start.”

Nobody said it was easy. Diese Musik löst in meinem Kopf etwas aus. Ich habe das Gefühl, ich würde in einer Keller gehen und dort wartet eine Tür auf mich. Alt und abgenutzt und aus Holz und voller Sticker und Bandaufkleber. Hinter dieser Tür, die ich selbstverständlich öffne und durchschreite, erwartet mich ein langer dunkler Tunnel, der dorthin führt, wo sich alles gut anfühlt. Wo ich Panzer und Mäntel ablegen kann. Ein Ort, der summt, klingt, sich so gut anfühlt, weil die Gewichte fallen. Von den Schultern. Weil nichts mehr geschützt sein muss, weil alles gut ist. Genau so. Wo Worte zählen, weich sein dürfen. Schön.

Chris Martin geht mit den Menschen durch diesen Tunnel, nimmt sie mit. Und dann wieder ist alles ein Traum und ich schalte um auf Arbeitsmodus. Die schusssichere Weste anziehen, um durch das tägliche Bagdad zu gehen. Augen auf, Sinne. Mit der Sensibilität eines Wüstenfuchses. Sprengfallen, Informationen an jeder Ecke, die ich so gar nicht brauche, die sich als Trojaner einschleichen. Leben in der Welt der Bots. Herumschwirrende, angreifende Maschinenpartikel (ich hätte mit Jim gestern nicht “Real Steel” im Kino schauen sollen). Als ich da stand in der Küche, kamen mir die ersten Zeilen eines Gedichtes in den Sinn. Ich habe sie gehen lassen, um den Moment zu wahren. Nun sitze ich hier am Schreibtisch, in der Kommandozentrale meines Lebens, und kehre Buchstabe für Buchstabe zurück in die Realität. Draußen herrscht Novembernebel, die Autos auf der Landstraße fahren vorbei, auf mich wartet eine Website, die noch keine Worte hat. O.K. Leben im Arbeitsmodus. Klar. Was sonst. Nobody said it was easy.

Das arme Schaf Stummel

Herrje. Heute wird es sich herausstellen. Rom in Not. Zoe geht, wie die meisten hier wissen, auf eine Waldorfschule. Dort gibt es eine kleine Landwirtschaft mit Gemüsegarten und Ställen. In den Ställen wohnen Schafe und Hühner. Um die Tiere muss sich natürlich gekümmert werden. Die müssen auf die Wiesen gelassen werden, brauchen Wasser in der Tränke. Das macht in der Hauptsache ein Tierpfleger, ein Vater von Kindern an der Schule, unterstützt wird er aber von den Schülern und Schülerinnen der Schule. Es gibt einen Dienstplan, jeder und jede muss sich mal um die Tiere kümmern, die Verantwortung für eine Zeit übernehmen.

Momentan hat Zoe Tierdienst. Das bedeutet, neben dem Unterricht kümmert sie sich mit anderen eine Woche lang um die Tiere. Das gehört zum Waldorfkonzept. Gestern nun kam sie in den Stall, da war etwas mit dem Schaf Stummel geschehen. Große Aufregung. Als der Tierpfleger kam, lag Stummel draußen auf der Wiese auf dem Rücken. Er hat das Schaf umgedreht, aber es konnte sich nicht richtig bewegen. Die Hinterläufe waren gelähmt, der Tierarzt musste kommen.

Zoe hat erzählt, wie sich Stummel nur mit den Vorderläufen bewegt hat. Eher ein Robben, denn ein Gehen. Armes Tier. Zoe ist dann sofort in Tränen, weil sie das mitfühlt. Als sie nach Hause kam und das erzählt hat, liefen auch ein paar Tränen. Die Kinder haben sich um Stummel gekümmert, konnten aber weiter nichts tun, als dem Schaf im Stall Ruhe zu gönnen. Der Tierarzt meinte, Schafe seien sehr starke Tiere und er hoffe, dass sich Stummel eventuell wieder berappeln könne. Ansonsten müsse das Tier wohl eingeschläfert werden. Ups. Harte Wahrheit, Wirklichkeit.

Großes Drama, das Leben. Dinge passieren, die uns so gar nicht gefallen. Ich bin gespannt, wie das heute weitergeht und was Zoe erzählt, wenn sie aus der Schule kommt. Stummel war gestern schon großes Thema beim Mittagessen. Wir werden sehen. Ich denke, der Tierdienst ist ihr momentan wichtiger als alles andere. O.K. Das sind Erfahrungen, die gehen sicherlich tiefer als Englischvokabeln. Das Vokabelnlernen lässt sich nachholen. Drücken wir Stummel die Daumen.

Nachtrag:

Stummel geht es gut! Sie, eine Schafdame, war nachts gefallen und hatte sich dumm zwischen Brettern verkeilt. Sie kam einfach nicht hoch. Weil es so kalt war, war alles irgendwie eingefroren und sie konnte die Hinterläufe nicht bewegen. Am nächsten Tag hat sie noch leicht gehinkt, konnte dann aber wieder laufen und LEBT! Zoe war sehr glücklich.

Kann mal jemand die Welt anhalten?

Möchte mal kurz aussteigen. Reitet ohne mich weiter, das ist mir alles zu schnell. Um 5.56 Uhr ging mein Wecker. Kinder geweckt, Zoe die schmerzende Schulter eingerieben, Brote geschmiert, Kaffee gemacht, Saftflaschen aufgefüllt, Elas Cappuccino vorbereitet und ans Bett gebracht, die Kinder zum Bus, weitergefahren zum TÜV. Termin um 7:30 Uhr. Im Radio die Nachrichten. Was für Nachrichten.

Der Bundestag trifft sich, um über das Problem des real existierenden Nationalsozialismuses zu debattieren. Irgendwo im Hinterkopf kommt da der oft gehörte Satz hoch “Das darf nie wieder passieren.” Ups. Neun Tote. Falsche Einschätzungen, Pannen und der Nationalsozialismus in Deutschland feiert seinen größten Erfolg seit langem. Es wird eine Entschädigung für die Hinterbliebenen geben und ich hoffe auch Entschuldigungen. Zumindest das. Und vieles mehr. MANN! Außerdem haben sich die Republikaner und Demokraten in den USA in der Superkommission nicht auf einen Sparkurs einigen können und in Ägypten will nach den Toten auf dem Tahirplatz die Regierung zurücktreten.

Gebe den Wagen beim TÜV ab. Setze mich hin, lese den Spiegel. Eine alte Ausgabe. Vorne drauf wird an Loriot erinnert, innen drin der Zusammenhang zwischen Spekulationen und dem Hunger in der Welt erklärt. Die Banken und Fonds haben sich auf die Lebensmittel der Welt eingeschossen. Die Lebensmittelpreise sind exorbitant gestiegen und die Zahl der Armen in der Welt ist seit letztem Jahr durch diese Preiserhöhungen um 44 Millionen gewachsen. Wachstumsphilosophie.

Radio aus, keinen Spiegel lesen. Am Auto ist ein Stoßdämpfer kaputt, ich muss wiederkommen, noch einmal eine Gebühr zahlen. Was solls. Ich kann mir Lebensmittel kaufen. Viele Lebensmittel. Sogar in Bioqualität. 8:02 Uhr. Ich bin wieder Zuhause, schnappe mir den Hund, erzähle Ela von den Stoßdämpfern, die Sache mit den Nazis, den Amis, Ägyptern und dem Hunger in der Welt wegen Lebensmittelspekulationen lasse ich weg. Auf der Rücktour habe ich Jonathan Jeremiah gehört. A little bit of happiness again. Sonnenaufgang, roter Himmel über dem Wittgensteinschen Land.

Raus mit Cooper. Auf die Höhe. Die Sonne geht auf, alles ist weiß gefroren. Ruhe. Die Sonne steigt, dennoch scheint die Welt hier tatsächlich ein wenig still zu stehen. Steige aus. Gehe vom Weg. Da liegen die Gerippe. Die Knochen der Dinosaurier. Von Kyrill zu Bergen aufgetürmt. Sturm-Hinterlassenschaften. Kann ich jetzt mal bitte nicht an Klimawandel denken. Kopfkino aus. Pausetaste. Ich hätte meditieren sollen, statt TÜV.

Ist trotzdem schön, diese Natur. Die Äste der kleingesägten Fichten liegen auf Haufen. Wie Strandgut. Manchmal ist die Natur hier wie das Meer, die Wiesen so weit, die Asthaufen wie angespült. Steife Brise von West. Alle Mann in die Wanten. Und die Frauen auch. Durchwehen, den Kräften trotzen, die Energie spüren. Harren. Der Dinge.

Andy Goldsworthy. Nature Art. Ela hat mir von ihm erzählt, Fotos gezeigt. Seither laufe ich mit einem anderen Blick durch die Natur. Sehe Skulpturen, hingewehte, herausgewachsene Gebilde. Mein Museum. Nicht die geliebte Modern Art, etwas anderes. Ein Suchrätsel, ein Entdecken, Finden, Gedankenspielen. Erholung. Spaß. Ja. Und den wünsche ich euch. 9:24 Uhr. Gehe endlich an die Arbeit. Raus aus dem Kopf, rein in die Profession. Das Handwerk. Gleich ein Interview mit einer Musikerin in Norwegen. Norwegen hatten wir dieses Jahr doch auch schon…

Soll das etwa Advent sein?

Also. Da gehe ich raus aus dem Haus, es ist ein wenig kalt, aber die Sonne scheint, als hätten wir Frühling. Das ist natürlich ungemein schön und äußerst positiv, da Licht ja gute Laune macht. Aber, aber. Ich wollte doch die Nummer mit dem schönen Advent durchziehen. So besonders besinnlich und so. Nun ist am kommenden Wochenende 1. Advent und großer Schul-Weihnachtsbasar, da muss doch allmählich was kommen.

Ist immer ein wenig schwierig einzuschätzen, was ist jetzt normale Wetterkapriole und was Klimawandel und was einfach eigene verdrehte Wahrnehmung. Ich meine, ist ja schön, dass es ist wie es ist. Besser geht ja gar nicht, weil der Winter dann nicht so lang und dunkel ist. Nur, ich muss mich ja auch irgendwie drauf einstellen. Sollte mich manchmal einfach mehr an dem Herrn Cooper orientieren. Der nimmt es, wie es kommt. Macht sich wenig Gedanken und läuft einfach los oder schubst mich, wenn er was will. Zum Beispiel Fressen. Hungi, hungi.

Bei dem ist immer alles einfach. Nix durcheinander verquer, Gedankenmacherei. Wird er im Haus gestreichelt, holt er seinen Hasen. Ich denke, als Geste der Freundlichkeit. Du streichelst mich, ich hol dir meinen Hasen, der ein Hund ohne Ohren ist, weil er die abgeknabbert hat. Sein Weihnachtsgeschenk vom letzten Jahr. Besteht Zoe drauf, dass der Herr Cooper auch was kriegt. Der darf sogar als erster auspacken. Weil in dem Geschenk ein paar Leckerlis sind, weiß er, dass das für ihn ist. Da wird der ganz unruhig wie ein Dreijähriger, der nicht warten kann. So is er.

Hatten wir im letzten Jahr nicht Anfang Dezember schon Schnee? Muss mal im Blog nachsehen, ob es da im Dezember Schneefotos gibt. Ich wünsche euch eine schöne Woche. Ciao.